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THEATERKRITIK

Untertagblues
von Peter Handke. Uraufführung am Berliner Ensemble am 30. September 2004. Regie: Claus Peymann. Mit Michael Maertens, Dörte Lyssewki und dem Ensemble

Fahrgastbeschimpfung


von Michael Bienert

Stellen Sie sich vor, Sie gehen zwölf Abende hintereinander ins Theater, bekommen am Ende das gesamte Eintrittsgeld zurück und dazu noch zehn Euro Treueprämie oder Schmerzensgeld bar auf die Hand. Ein Witz? Nein, eine Werbemaßnahme des Berliner Ensembles für seinen Autor Peter Handke, dem das Theater einen langen Lese-Marathon mit Schauspielern widmete, ehe es sein jüngstes Drama aus der Taufe hob. Und wirklich, es fanden sich 16 Enthusiasten mit dem nötigen Sitzfleisch, die Abend für Abend bei den Lesungen aus Handkes älteren Werken die Ohren spitzten.

Sollte die Handkegemeinde einen Ehrenpräsidenten wählen, so fiele die Wahl unweigerlich auf Claus Peymann, den Intendanten des Berliner Ensembles. Er hat die Uraufführung des neuen Stücks beworben, als erschiene der Messias persönlich. Um das zu würdigen, muß man weit in den Annalen des deutschsprachigen Theaters zurückblättern. Vor 38 Jahren inszenierte Peymann in Frankfurt zum ersten Mal die provozierende „Publikumsbeschimpfung“, die dem Dramatiker Handke zum Durchbruch verhalf. Es sollte nicht die letzte Handke-Uraufführung in Peymanns Regie bleiben. Nummer Neun stand vorgestern mit dem „Untertagblues“ auf dem Spielplan.

Was beide Künstler verbindet, noch nach so vielen Jahren, ist der Gestus des Provokateurs. Eine bewundernswerte Leistung, zumal Handke wie Peymann seit Jahrzehnten zu den Etablierten des Kulturbetriebs zählen. Auch in ihrer neuesten Gemeinschaftsproduktion wird wieder kräftig gegen die Zeitgenossen gewettert: „Ich stehe hier und kann nicht anders als mich vor eurer Gesellschaft de profundis zu ekeln, von der Station Alpha bis zur Station Omega. Purer Widerwille vor eurer aufgeplusterten Leibhaftigkeit.“ Doch zielen solche Invektiven nicht, wie seinerzeit bei der „Publikumsbeschimpfung“, treffsicher auf ein zeitgenössisches Publikum. Handke treibt einen „wilden Mann“ in der U-Bahn zu einer endlosen Fahrgastbeschimpfung an. Die Mitfahrer aber müssen stumm bleiben wie die Passanten in dem wortlosen Straßendrama „Die Stunde da wie nichts voneinander wußten“, das ebenfalls Peymann vor zwölf Jahren an der Wiener Burg zur Uraufführung brachte. Damals lenkte nichts ab von den Mikrodramen zwischen den vielen auf- und abtretenden Figuren in der Öffentlichkeit einer Piazza. Man schaute einfach zu und hatte seine Freude daran, so wie der Autor auf seinen Reisen, wenn er sich mit gespitztem Bleistift irgendwo in einem Straßencafé niederließ.

Wieder füllt nun ein vielfarbiges Großstadtpublikum den Bühnenraum: alte Mütterchen und schicke Frauen, Penner und Geschäftsleute, In- und Ausländer. Die Typen sind durch Gesten und die Kostüme von Angelika Rieck präzis umrissen und erkennbar auf den ersten Blick. Doch sie bleiben Staffagefiguren für das wortreiche Seelendrama des Protagonisten, von dem möglichst wenig ablenken soll.

Der „wilde Mann“ oder „Volksredner“ oder „Volksfeind“ oder „Spielverderber“ , als den ihn Handke so vage wie bedeutungsschwanger bezeichnet, ist in Berlin ein verwahrloster Bummelstudent im schwarzen Anorak. Ungekämmt und unrasiert betritt er den klinisch weißen, längs aufgeschnittenen U-Bahn-Waggon von Karl-Ernst Hermann und schlägt einen weinerlichen Ton an: „Und schon wieder ihr. Und schon wieder muß ich mit euch zusammen sein. Halleluja. Miserere.“ Das aufgeblasene Selbstmitleid, mit dem Michael Maertens die Figur vorstellt, wirkt zunächst befreiend, die Bedeutungshuberei des Endlosmonologs ironisch gebrochen. Mit zornesrotem Kopf herrscht der wilde Mann alsbald einen lesenden Mitpassagier an, nie wieder ein Werk der Weltliteratur zu befingern, weil er davon sowieso nichts verstünde. Aber wirklich gefährlich, das erkennt jeder Mitreisende sofort, wird dieser Viel- und Gernschwätzer niemandem. Nicht einmal sich selbst. Mag er im Waggon auf- und ablaufen wie ein gefangenes Tier, an den Halteschlaufen baumeln, einen Aktentaschenträger in den Hintern treten, eine Universalpreisträgerglatze tätscheln oder eine Schöne im Pelz küssen - alles läuft so ermüdend ins Leere wie seine Schimpfkanonaden.

Auch die U-Bahn scheint im Kreis zu fahren. Manche Figuren steigen aus und einige Stationen später wieder zu. Stationsnamen wie „Dolina-La Paz-Erdberg?“ machen überdeutlich, dass das Stück überall und nirgends spielt: Diese aseptische U-Bahn ist nur eine metaphysisch gemeinte Metapher. Und das bleibt sie leider auch, ohne im Hier und Jetzt anzukommen.

Nach langen eineinhalb Stunden leert sich der Waggon. Endlich ist der Misanthrop allein! Glücklich tanzt und singt das verkannte Genie, wird von Kindheitserinnerungen umfangen und von Bildern einstigen Glücks unter Freunden. Sein Menschenhaß kippt in Menschensehnsucht. Da betritt eine Art Engel den Waggon, bizarr aufgeputzt mit Blümchenkleid und steilen Absätzen, schwarzem Mantel und einem Federhut über den blonden Locken. Die „wilde Frau“ Dörte Lyssewski liest dem Menschenfeind die Leviten: „Ja, wußtest du denn nicht, dass heutzutage die Schönheitssuche und die Verkümmerung Hand in Hand gehen? Natur- wie Geschichtsgesetz. Dass einem, der andauernd Ausschau hält nach dem Schönen, die Augen austrocknen?“

Dann kommt, was beim Schönheitsapostel Handke kommen mußte: Der Unglücksrabe verfängt sich in den Armen des schönen Engels. In diesem Augenblick rast der U-Bahnwaggon höchst kunstgewerblich durch eine Nebelwolke ins Helle. In einer surrealen Wüstenlandschaft mit aufgeständertem Zahlenwald umringen die Mitfahrer heiter das glückliche Paar. „Am schönsten war´s, wenn man nicht wußte, wohin man führe“, dröhnt ein Bahnhofslautsprecher. Ende der philosophischen Durchsage, Endstation, alles aussteigen bitte. Aber diesmal gibt es leider keine Prämie für geduldiges Sitzfleisch.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG und HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG vom 2. Oktober 2004.

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