www.text-der-stadt.de
Die Homepage von Michael Bienert
THEATERKRITIK
Meine Schneekönigin nach Hans Christian Andersen. Premiere an der Volksbühne am 12. Dezember 2004. Regie: Frank Castorf. Mit Herbert Fritsch, Jeanette Spassova, Alexander Scheer, Birgit Minichmayr, Irina Kastrinidis und Volker Spengler
Gerda in der Großstadt
von Michael Bienert
Es war einmal ein Mädchen mit einem Herzen von reinem Golde, das hieß Gerda. Das Mädchen hatte seinen liebsten Spielkameraden verloren, den kleinen Kay. Eines Tages war er vom Schlittenfahren nicht zurück gekommen. Gerda ging in die weite Welt hinaus, um ihre Jugendliebe zu suchen. Nach vielen Abenteuern gelangte sie in eine Stadt, die war so kalt wie der Nordpol. Dort sollte die Schneekönigin wohnen und ihren Kay mit Zauberbanden gefangen halten.
Die Stadt hieß Berlin. Ihre mürrischen Einwohner wiesen Gerda den Weg zum Palast des alten Schneekönigs. Er hieß Castorf und hatte Zähne von Eisen. Mit denen zermalmte er ganze Bibliotheken und spuckte sie wieder aus. Eben hatte er Andersens Märchen gekaut, und sie hatten ihm so gut geschmeckt, dass er seiner Hoftheatertruppe befahl, zu Weihnachten die schönsten Szenen aufzuführen. Du mußt nur mitspielen, dann wirst Du Deinen kleinen Kay sehen, sagte der Schneekönig zu Gerda und lachte.
Gerda (Birgit Minichmayr) durfte sich die Haare schwarz färben und ihr Kleidchen durch ein knappes Höschen vertauschen, damit der Schneekönig ihre schönen Beine sehen konnte. Dann sollte sie es sich auf einer gepolsterten Sitzgarnitur in einer ärmlich möblierten Wohnung bequem machen. Wenn die Hintertür zu der breiten Guckkastenbühne (von Bert Neumann) sich öffnete, drehte der Flockenmeister jedesmal zwei dröhnende Ventilatoren an, die einen zauberhaften Kunststoffschneesturm herein wirbelten. In ihrem kurzen Höschen fror Gerda ganz erbärmlich.
Ein hagerer Kerl, den sie Kragen nannten (Herbert Fritsch), spielte ihr sehr dramatisch vor, was mit dem kleinen Kay passiert war. Eine Glühbirne fiel von der Decke und ein Splitter traf ihn im Auge. Die Birne war aus jenem satanischen Glas, das einen Menschen alles Schöne häßlich und alles Häßliche schön finden läßt.
Auch König Castorf mußte so einen Glaszacken im Auge haben, dachte Gerda, wenn sie sich umsah. Schlimmer noch hatte es den kleinen Kay getroffen. Ein zweiter Splitter hatte ihn ins Herz getroffen und dafür gesorgt, dass es vereiste und der Junge den Reizen der eisblonden Schneekönigin (Jeanette Spassova) verfiel. Als die kühle Sexbombe mit dem hübschen langhaarigen Kerlchen (Alexander Scheer) in der Theaterwohnung erschien, glaubte sich Gerda in einem schrecklichen Albtraum.
Um sie gingen unbegreifliche Dinge vor. Alle Hofschauspieler verwandelten sich ständig in neue Andersenfiguren. Der Kragen hackte der Schneekönigin mit einem Beil die Holzbeine ab und ließ sich von einem fettleibigen Schmetterling (Volker Spengler) mit einem heiß dampfenden Bügeleisen den nackten Po plätten. Bald schwang der Schmetterling ein großes Messer, um die kleine Gerda zu verspeisen, wie in einem Splattervideo. Aber da war gar kein Video, obwohl es doch früher in Castorfs Palast stets von allen Wänden geflimmert hatte, wenn der König zum Schauspiel einlud.
Statt dessen flatterte eine lebendige Krähe ängstlich in den Zuschauerraum. Ein finsteres Räubermädchen (Irina Kastrinidis) lehrte Gerda drei ausgewachsene Ziegenböcke füttern. Doch tapfer überstand sie alle Prüfungen. Selbst die Verwandlung Kays in eine Riesenschnecke ertrug Gerdas gutes Herz, und so durfte sie zum guten Schluß mit dem Liebsten ins Bett. Da waren zwei Stunden um, und alle hätten vergnügt nach Hause gehen können.
Wenn aber des Schneekönigs Truppe einmal in Spiellaune ist, dann kann sie gar nicht aufhören. Also führte sie noch ein Blaubartmärchen mit neu verteilten Rollen auf. Aus Gerda wurde nun ein waschechter Engel mit flauschig weißen Flügeln. Der Engel paßte auf das zur Prinzessin geadelte Räubermädchen auf, dem Böses vom Prinzen Kay drohte. Der Prinz sollte sie töten und ihre Augen einem bösen Dämon, dem vormaligen Kragen, zum Essen auftischen. Schön gruselig war das, bis der Engel den Dämon mit der Axt köpfte. Aus dem Dämon schlüpfte der dänische Dichter Hans Christian Andersen, über chronische Zahnschmerzen und sexuelle Hemmungen klagend.
Alle Hofschauspieler hatten glänzende Auftritte. Glücklich, wieder bei ihrem Kay zu sein, wollte Gerda den Castorfschen Eispalast nie wieder verlassen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann spielen sie noch heute.
zurück zur Startseite
zurück zur Rubrik THEATERKRITIK
zum Spielplan der VOLKSBÜHNE