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Reisebilder: Rübezahls Erben im Riesengebirge
Rübezahls Erben
Das Riesengebirge entdeckt seine Kunst und seine Geschichte
von Michael Bienert
Jenseits der deutsch-polnischen Grenze bei Görlitz beginnt das Reich Rübezahls oder "Pan Górs", wie die polnischen Schlesier den Geist des Riesengebirges nennen. Als holzgeschnitzer Gartenzwerg begegnet er den Reisenden dutzendfach in den Auslagen der Andenkenhändler. Nicht ganz so niedlich haben ihn die Künstler des 19. Jahrhunderts porträtiert. Als muskulöser Riese mit langem Bart, bewaffnet mit einem Baumstamm, verkörperte Rübezahl die rauhe Bergnatur, die den Menschen das Überleben schwer machte. Durch alte Sagen geistert er als Wesen von wandelbarer Gestalt, das Unwetter schickt und Wanderer in die Irre führt, manchmal aber auch arme Leute auf die Probe stellt und ein gutes Herz reich belohnt.
Bocksfüßig, mit Hirschgeweih und scharfen Klauen wurde er zum ersten Mal 1561 auf einer Karte des Herzogtums Schlesien abgebildet. In dieser Gestalt empfängt er die Besucher vor dem Heimatmuseum der Berggemeinde Szklarska Poreba. Bis zur Vertreibung der Deutschen aus Niederschlesien nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg hieß der Ort Schreiberhau. Heute hat unter dem breiten Dach des Heimatmuseums die Erinnerung an die deutsche Geschichte des Ortes genauso Platz wie die der später zugewanderten Polen. Noch vor zehn Jahren wäre das unvorstellbar gewesen. Denn bis zum Fall des Eisernen Vorhangs sträubten sich die vertriebenen Deutschen und die polnischen Neubürger Niederschlesiens gleichermaßen, die Heimatrechte der jeweils anderen Seite anzuerkennen. Zeugnisse der deutschen Geschichte wurden auf polnischer Seite zerstört oder dem Verfall preisgegeben, während man die neuere Entwicklung der Region unter polnischer Verwaltung auf deutscher Seite ignorierte. In ihrer ideologischen Verbohrtheit ähnelten deutsche und polnische Schlesier dem wehrhaften Rübezahl auf der berühmten Darstellung des Malers Moritz von Schwind, einem furchterregenden Gesellen mit winzigem Kopf, stierem Blick und einem riesigen Prügel in der Hinterhand.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs setzt eine jüngere Generation von Historikern die Geschichte der Region neu ins Licht. Einer von ihnen ist Przemyslaw Wiater, der Leiter des Museums von Schreiberhau. Wie die deutschen Heimwehtouristen, die in Bussen angefahren kommen, stammt er aus einer Vertriebenenfamilie. Wiaters Eltern verloren im Zuge des Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg ihre angestammte Heimat bei Lemberg. Viele vertriebene Polen fanden damals in Niederschlesien ein neues Zuhause. Die systematische Auslöschung deutscher Spuren erklärt Wiater mit den traumatischen Erlebnissen der Kriegsgeneration und mit ihrer Angst, erneut vertrieben zu werden. In der älteren Generation komme diese Angst immer wieder hoch, trotz der NATO-Mitgliedschaft Polens und der Orientierung des Landes auf die Europäische Union.
Den jüngeren Polen gehen die alten deutschen Ortsnamen mittlerweile leicht über die Lippen, und sie sind stolz auf das reiche Kulturerbe ihrer Region, egal ob es von Deutschen oder Polen stammt. Das 1995 eröffnete Museum von Schreiberhau zeigt alte Möbel und kunstvolle Gläser aus der berühmten Josephinenhütte, Bilder des polnischen Malers Wlastmil Hofmann und immer wieder Ausstellungen mit Werken junger Künstler aus der Region. Das Haus selbst ist ein Zeugnis deutscher Kulturgeschichte. Die Brüder Carl und Gerhart Hauptmann haben es 1891 gekauft, aufstocken lassen und einige Jahre gemeinsam bewohnt. Der jüngere Bruder und spätere Literaturnobelpreisträger schrieb in dieser Zeit sein berühmtestes Stück Die Weber. Die Hauptmannbrüder waren gebürtige Schlesier, die aus den Städten immer wieder in die"unfrisierte Natur" ihrer Heimat zurückflohen und sich von ihr zu zahlreichen Werken anregen ließen.
Carl Hauptmanns Bücher sind heute fast vergessen, bis auf sein Rübezahlbuch mit Geschichten um den Geist der Berge. Das Buch und sein knorriges Aussehen trugen dem Verfasser den Spitznamen "Carl Rübezahl" ein. In der Nähe seines Hauses, erzählt Przemyslaw Wiater, entstand um die Jahrhundertwende auch eine "Sagenhalle" mit großen Gemälden um die Rübezahlmythe. Wie viele schlesische Kunstwerke gelten die Bilder seit dem Kriegsende als verschollen. Doch wer weiß, ob sie nicht vielleicht noch wiederauftauchen: Seit das deutsche Erbe von polnischen Historikern angenommen wird, sind etliche verloren geglaubte Kulturzeugnisse der Region in Kellern und Archiven wieder aufgefunden worden.
Die Hauptmannbrüder zerstritten sich nach wenigen Jahren, auch weil der Ältere den Ruhm des Jüngeren nur schwer ertrug. Gerhart Hauptmann überließ das bäuerliche "Schreiberhäuschen" dem weniger erfolgreichen Carl und baute sich im benachbarten Agnetendorf (Jagniatków) eine protzige Villa, das "Haus Wiesenstein". Dort heiratete er seine zweite Frau Margarete und hielt nach der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 1912 Hof wie weiland Goethe in Weimar. In Agnetendorf ist er am 6. Juni 1946 gestorben. Seine Witwe, der Sarg und fast alle Möbel reisten mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht in sechs Eisenbahnwaggons nach Berlin und anschließend weiter nach Hiddensee, wo Hauptmann beigesetzt wurde. "Haus Wiesenstein" diente bis zum vergangenen Jahr als Ferienheim für Kinder aus ökologischen Notstandsgebieten des oberschlesischen Industriereviers. Inzwischen hat sich für die Kinder ein Ausweichquartier gefunden. Im "Haus Wiesenstein" konnten die Umbauarbeiten zum Museum und Gästehaus für Schriftsteller beginnen. Sie sollen im Jahr 2001 abgeschlossen sein, genau hundert Jahre nach der Errichtung der Villa. Bereits restauriert wurde der mit riesigen Fresken von Johannes Avenarius ausgemalte Empfangsraum des Hauses, die sogenannte Paradieshalle. In die farbenfrohe Darstellung einer sorgenfreien Welt sind Blumen aus dem Riesengebirge hineingemalt, man erkennt Hauptmanns Frau und literarische Figuren wie die Weber, die nach dem Erklimmen der Himmelsleiter vom Gottvater begrüßt werden.
Die Hauptmannbrüder bildeten das Zentrum eines illustren Kreises von Künstlern, die sich um 1900 im Riesengebirge niederließen oder regelmäßig zu Besuch kamen. Der Maler Otto Mueller war mit den Brüdern verwandt und diente ihnen als literarisches Vorbild. Die Schriftsteller Bruno Wille, Wilhelm Bölsche und John Henry Mackay folgten dem verehrten Gerhart Hauptmann aus der Künstlerkolonie Friedrichshagen bei Berlin ins Riesengebirge. Größen des Berliner Kulturbetriebs wie der Verleger Samuel Fischer, der Theaterdirektor Otto Brahm, der Kritiker Alfred Kerr und der Industrielle Walther Rathenau waren gern gesehene Gäste. Die Anreise war in der Vorkriegszeit bequemer als heute, die Züge aus Berlin brauchten nur dreieinhalb Stunden bis ins Riesengebirge. Daher errichteten vermögende Großstätder wie der dichtende Bürgermeister Georg Reicke oder der Nationalökonom Werner Sombart Ferienhäuser mit herrlichen Ausblicken auf die Berge. In Sombarts Villa findet man noch die Regale der Bibliothek, um die das ganze Haus herumgebaut wurde. Es beherbergt jetzt die Rekonvaleszenten einer Klinik, eine Augenweide für Augenkranke.
Heute sind vor allem polnische Urlauber und deutsche Heinwehtouristen im Riesengebirge unterwegs, doch wenn die deutsch-polnische Grenze mit dem EU-Beitritt Polens durchlässiger wird, könnte die Region eine Renaissance als Ausflugsgebiet für Berliner Sommerfrischler und Skisportler erleben. Seit zehn Jahren schon pendeln Ulrike Treziak und Ellen Röhner, zwei Historikerinnen aus Berlin-Kreuzberg, zwischen der Hauptstadt und dem Riesengebirge hin und her. In Kopaniec (Seifershau) haben sie ein baufälliges Bauernhaus erworben und wieder bewohnbar gemacht. Von hier aus knüpften sie ein dichtes Netz von Kontakten zwischen deutschen und polnischen Museen, vertriebenen Schlesiern und heute hier lebenden Wissenschaftlern und Künstlern. So kam 1995 die vielbesuchte Wanderausstellung "Wach auf mein Herz und denke" zustande. Erstmals einigten sich deutsche und polnische Historiker auf eine gemeinsame Version der schlesischen Geschichte. Zur Zeit ist eine weitere Ausstellung zwischen Polen und Deutschland auf Reisen. Unter dem Titel "Die imposante Landschaft" spürt sie den Beziehungen zwischen der zwischen deutscher und polnischer Kunst im Riesengebirge nach. Bei ihren Nachforschungen sind Treziak und Röhner auf ein lebhaftes Interesse der heute hier lebenden Künstler an der abgerissenen deutschen Tradition gestoßen. So hat der in Schreiberhau lebende Grafiker Krzysztof Figielski Gedichte von Carl Hauptmann übersetzt, mit Zeichnungen kommentiert und sie "meinem Nachbar von vor hundert Jahren" gewidmet. Bildende Künstler und Fotografen fühlen sich aus ähnlichen Gründen vom Riesengebirge angezogen wie die deutschen Maler, die bereits im 19. Jahrhundert mit der Staffelei in die Berge zogen.
Die berühmtesten Landschaftsbilder mit Riesengebirgsmotiven stammen von Caspar David Friedrich, der die Gegend im Juli 1810 durchwanderte. Auf Friedrichs Spuren kamen später die Professoren der Breslauer Kunstakademie mit ihren Schülern zum Malen in die Berge. Auch Kunstfotografen fühlten sich von den weiten Ausblicken in die Landschaft, den rasch wechselnden Licht- und Wetterverhältnissen, den grotesken Formen der verschneiten Bergkuppen angezogen. Viele ließen sich dauerhaft nieder. Dabei spielten nicht allein die landschaftlichen Schönheiten eine Rolle, sondern auch die Möglichkeit, am Riesengebirgstourismus zu verdienen. Maler hielten sich mit schnell hingepinselter Landschaften über Wasser, Fotografen versorgten die knipsfreudig Touristen mit Material oder stellten Fotopostkarten in hohen Auflagen her.
In den letzten zwanzig Jahren hat sich eine neue Generation polnischer Künstler in den Bergen angesiedelt. "Früher mußten Künstler für Ausstellungen von weit her geholt werden", sagt Janina Hobgarska, Leiterin der kommunalen "Galerie BWA" in Jelnia Góra (Hirschberg). "Heute findet man in der Gegend genügend ausstellenswerte Künstler, die auch überregional oder international bekannt sind." Der Zuzug begann in den achtziger Jahren während des Kriegsrechts in Polen. Manche Künstler hielten die politisch aufgeheizte Stimmung in den Städten einfach nicht mehr aus. Andere waren zivilisationsmüde und suchten ihr Heil in der Naturmystik, in der ökologischen Wirtschaft oder im Buddhismus. Einige Theaterkommunen fanden hier genügend Spielraum, um neue Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens auszuprobieren.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs richtete sich die Kunstszene neu aus. "Früher war das Riesengebirge die hinterste Provinz Polens, nicht mehr deutsch und noch nicht richtig polnisch. Alles war auf Warschau hin ausgerichtet. Heute orientieren sich die Künstler ebenso nach Berlin, Wien oder Prag", erzählt Frau Hobgarska. Das Riesengebirge ist jetzt eine attraktive Gegend für den internationalen Kunstaustausch im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck. Zwar hat der Kunsthandel die Region noch nicht recht entdeckt. Aber es kommt vor, daß durchreisende Sammler aus dem Westen bei den ansässigen Künstlern das eine oder andere Werk erwerben. Von guten Verkäufen an Deutsche und Niederländer nach einer Ausstellung in Schreiberhau berichtet die Zeichnerin Beata Kornicka-Konecka. Das sei mit ein Grund gewesen, sich hier dauerhaft niederzulassen.
Mit ihrem Mann und drei Kindern bewohnt sie das ehemalige Kurhaus von Schreiberhau mitten im verwilderten Kurpark. "Art Education Center" steht an dem langgestreckten Gebäude. Wie die Sprungschanze und das Stadion von Schreiberhau wurde es für die Winterolympiade 1936 errichtet, die auf Hitlers Wunsch dann nach Garmisch-Partenkirchen verlegt wurde. Das Künstlerpaar hat viel Arbeit in das vorher leerstehende Haus gesteckt, um es zu retten. In dem großen Paterre, das ihnen als Atelier dient, unterrichten sie eigene Schüler, organisieren Konzerte, Keramik- und Malkurse. Schauspieler einer benachbarten Theaterkommune führen hier Seminare durch. Das Angebot richtet sich nicht nur an Kunstinteressierte in der Region, sondern zieht auch auswärtige Gäste an. Im Atelierraum stehen zwischen eigenen Bildern der Koneckis die Ergebnisse eines zweiwöchigen "Pleinairs", bei dem die Teilnehmer zwei Wochen draußen in den Bergen gemalt haben. "Vielleicht wird daraus einmal ein Riesengebirgsmuseum für Gegenwartskunst", hofft Beata Kornicka-Konecka.
Der "Galerie F" im touristischen Zentrum vom Schreiberhau allerdings droht die Schließung, da die Gemeinde die Räume lieber an eine Bank vermieten würde. Auch sind viele Künstler auf den Leiter der Kunstgalerie, den Bildhauer Zbigniew Fraczkiewicz, schlecht zu sprechen. Sie werfen ihm vor, daß er dort fast nur noch eigene Werke ausstelle. Wie vor hundert Jahren kennt jeder jeden in der kleinen Künstlerkolonie, und es gibt Rivalitäten und Animositäten. Selbstverständlich weist Fraczkiewicz alle Vorwürfe, er führe sich wie ein Platzhirsch auf, rundweg zurück. Schließlich zahle er die Miete für die Galerie.
Neben seinem Holzhaus hat er einen gewaltigen Kreis aus schlesischen Granitbrocken errichtet, der an die Megalithen von Stonehenge erinnert. Er möchte ein Dach daraufsetzen und so ein neues Galerie- und Ateliergebäude daraus machen, hat aber kein Geld. Gerade hat er mit der Bank gesprochen, die seine Galerieräume anmieten möchte. Vielleicht würde sie sein neues Projekt unterstützen, wenn er das Feld räumt.
"Alles deutsch", sagt er und zeigt auf die Möbel und Wände seines Holzhauses. Er fühle sich sehr wohl in dieser Umgebung, noch lieber aber würde er in einem der Steinbrüche des Riesengebirges hausen. Seine Eltern hätten im Krieg als Zwangsarbeiter in Deutschland gearbeitet. Sie hätten Deutsch miteinander gesprochen, wenn sie etwas vor ihrem kleinen Sohn geheimhalten wollten. Fraczkiewicz spricht nur gebrochen Deutsch. Im sozialistischen Polen hat er KZ-Denkmäler gestaltet und als Werkskünstler gearbeitet. 1982 war er Leiter des Kulturamtes von Lubin, als dort während einer Solidarnosc-Demonstration gegen das Kriegsrecht mehrere Menschen erschossen wurden. Zehn Jahre später durfte er an drei Orten in der Stadt gewaltige Denkmäler aus Steinblöcken und Eisenkreuzen errichten.
Fraczkiewiczs internationaler Erfolg begann Mitte der achtziger Jahre mit einer Ausstellung im schwäbischen Städtchen Fellbach. Zum ersten Mal zeigte er seine martialischen Menschen aus Eisen, halb Muskelprotz, halb Maschine aus zusammenschraubbaren Einzelteilen. Die Figuren seien von seiner Arbeit in der niederschlesischen Industrie inspiriert und verkörperten die "Tragödie des Menschen, der zur Technik verurteilt ist", erklärt ihr Schöpfer. Die Stadt Fellbach kaufte die Eisenmenschen zu seiner Überaschung an, der Bildhauer ließ neue nachgießen, es folgten Ausstellungen im Ruhrgebiet, in Österreich, in Polen. Eine Figur steht dauerhaft in Worpswede, eine andere erinnert in Bremen an den deutschen Überfall auf Polen. So martialisch sah Rübezahl, der Geist des Riesengebirges, im 20. Jahrhundert aus. An der Schwelle zum neuen Jahrhundert nimmt er eine neue Gestalt an. Wir dürfen ihn uns als kunstsinnigen Zeitgenossen vorstellen, der sich vom kulturellen Reichtum seiner Region inspirieren läßt.
Eine stark gekürzte Fassung des Textes erschien am 21. Januar 2000 in der FRANKFURTER RUNDSCHAU
Mehr über Kunst im Riesengebirge im großen Ausstellungskatalog DIE IMPOSANTE LANDSCHAFT, hgg. von der Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch und dem Muzeum Okregowe w Jeleniej Górze, Berlin und Jelenia Góra 1999
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