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THEATERKRITIK

Nora
von Henrik Ibsen. Premiere an der Schaubühne am 26. November 2002. Regie: Thomas Ostermeier. Mit Anne Tismer, Jörg Hartmann, Lars Eidinger, Jenny Schily, Kay Bartoholomäus Schulze u. a.


Im Barbiepuppenhaus

von Michael Bienert

Eigentlich ist das Stück schon zuende, da knallt es. Nora hat ihrem Mann nach kurzem Kampf den Laufpass gegeben, will das Haus und die Kinder verlassen, um sich selbst zu finden. Doch statt die Tür krachend ins Schloss fallen zu lassen, wie es Ibsens Drama vorgibt, holt Nora die Pistole ihres Mannes Helmer aus seinem Arbeitszimmer. Drei Magazine schießt sie leer, zieht dann ihrem durchsiebten Gatten den Ehering ab und wirft ihren ins pompöse Goldfischaquarium.

So klar, so zielstrebig in ihren Bewegungen hat man die Nora der Anne Tismer den ganzen Abend nicht gesehen. Nervös und fahrig betritt sie ihr Puppenheim, einen wunderschönen Glasbungalow von Jan Pappelbaum. Eine schmale Frau in den Dreissigern, Mutter dreier Kinder, adrett in unschuldigem Weiß kostümiert, routiniert im Rollenspiel als verführerische Hure, willfähriges Püppchen, gehorsame Gattin.

Um mit der Zeit und den Männerphantasien Schritt zu halten, hat Nora im letzten Urlaub einen Animationskurs besucht. Nun will sie als Computerplaygirl Lara Croft verkleidet auf einer Weihnachtsparty schautanzen. Schon die häusliche Probevorstellung wird eine Wahnsinnsnummer, bei der Nora die Kontrolle verliert, ihr Fantasyschwert zertrümmert und zwischen den Goldfischen landet. Dabei hat sie diesen geistesabwesenden Anne-Tismer-Blick, der uns verrät, dass die Figur ganz woanders ist, während die Schauspielerin hellwach die Differenz zwischen Sein und Schein verkörpert. Szenenapplaus!

Nora hat vor ein paar Jahren eine Wechsel gefälscht, um ihrem Mann das Leben zu retten, doch das ist ihr geringstes Problem. Wir sehen eine wohlhabende Frau in der Midlife-Crisis, die spürt, dass ihr all die pubertären Rollenspiele nicht mehr lange helfen. So haltlos, so verstört und derangiert ist diese Nora, dass fast jeder Ausgang gegen Ende der Aufführung vorstellbar scheint - ausgenommen den türenschlagenden Abgang der sich emanzipierenden Frau, mit dem Ibsen vor 120 Jahren das europäische Bürgertum provozierte.

Einmal schießt sich Tismers Nora ums Haar selbst eine Kugel durch den Kopf, als Helmer von ihren Finanzaktionen erfährt. Dann sieht es wieder danach aus, als werde ihr Ausbruch aus dem "Musterbarbiepuppenhaus" mißlingen. Regisseur Thomas Ostermeier arrangiert mehrere mögliche Varianten zu einem spannenden Finale seiner boulevardesken, temporeichen Aufführung. Die zarte Hoffnung, das erste offene Gespräch nach acht Jahren Ehe werde vielleicht doch noch zu einer Lösung führen, erstickt er bereits im Keim: Es klingt schon beim ersten Versuch so, als tauschten die Ehepartner alte Schuldvorwürfe zum tausendsten Mal auf. Vielleicht ist es einfach der Horror vor einer Paartherapie, der in Nora den Entschluß reifen läßt, ihren Mann in Lara-Croft-Manier nieder zu ballern. Über den Knalleffekt hinaus ist es auch ein Angebot zur Nachdenklichkeit. Noras mörderische Explosion scheint der letzte Weg, um zu einem Gefühl von Freiheit und Selbstausdruck zu gelangen. Das geht nicht nur ihr so. Was wir an ihr sehen, ist das Scheitern einer Emanzipation und die Entladung in einem quasi terroristischen Gewaltakt - ein Thema, das in der Luft liegt.

Ostermeier übersetzt Ibsens psychologisches Ehedrama in eine soziale Milieustudie aus der Welt neureicher Banker, sozialer Auf- und Absteiger von heute. Viel Neues kommt dabei nicht zutage, weder im Hinblick auf das Stück noch auf das neubürgerliche Milieu. Erstaunlich ist vielmehr, wie leicht und locker der Zeitsprung vonstatten geht. Statt am Text zu kleben, hat das Ensemble nach heutigen Pendants zu den Ibsenfiguren gesucht und eine überzeugende Figurenkonstellation um Nora herum gefunden. Helmer (Jörg Hartmann) ist ein hoch intelligenter Karrierist mit Laptop und Freisprech-Handy, der seinen knallharten Egoismus unter einer freundlichen Oberfläche zu verbergen sucht: ein Macho im zeitgemäßen Softiedesign. Der aidskranke Hausfreund Rank (Lars Eidinger) paßt in seinem Schlabberlook längst nicht mehr in Helmers Luxusvilla. Aber da Ranks Tage sowieso gezählt sind, gibt Helmer ihm eine Gnadenfrist. Der Erpresser Krogstadt (Kay Bartholomäus Schulze) ist eine arme Sau, hat einfach Pech im Leben gehabt hat und rastet aus, als ihm auch noch seine Stelle in der Bank gekündigt wird. Genau der Richtige für Noras lebenserfahrene Jugendfreundin Christine (Jenny Schily). Sie kommt daher wie eine Sozialarbeiterin oder Psychologin und braucht unbedingt ein Betätigungsfeld. Passgenau besetzt ist auch die Rolle des farbigen Au-pair-Mädchens (Agnes Lampkin). Nach dem Mord in der Morgenstunde bringt sie die Kinder aus dem Haus zur Schule, als sei nichts geschehen.

Wenn Nora allmählich den Boden unter den Füßen verliert, beginnt sich der Luxusbungalow um seine Achse zu drehen. Auf die Rückseite projiziert Thomas Ostermeier Digitalfotos, die Helmer von den unschuldig-offenen Gesichtern der Kinder geblitzt hat. Sie sind verschwunden, als Nora nach dem finalen Gattenmord vor der Haustür lehnt und langsam in sich zusammensinkt. Starker Beifall.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 28. November 2002

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