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THEATERKRITIK
Die Mutter von Bertolt Brecht. Premiere am Berliner Ensemble am 15. Januar 2004. Regie: Claus Peymann. Mit Carmen-Maja Antoni, Therese Affolter, Markus Meyer, Martin Seifert, Manfred Karge u. a.
Kommunistisches Krippenspiel
von Michael Bienert
Es war einmal eine Partei, die wollte nur das Gute. Unterdrückung, Ausbeutung, Hunger und Krieg sagte sie den Kampf an, um den Erdball in ein proletarisches Himmelreich zu verwandeln. Die Partei mobilisierte die Massen in vielen Ländern und zog auch viele Dichter in ihren Bann.
Einer der begabtesten unter ihnen hieß Brecht. Nachdem er bereits einige kraftmeierische Stücke verfaßt hatte, in denen er seinen Weltekel trefflich zum Ausdruck brachte, suchte er Ende der Zwanzigerjahre in Berlin den Anschluß an die Bataillone der proletarischen Revolution. Er schrieb Lehrstücke für angehende Klassenkämpfer und ein sozialistisches Krippenspiel, das mit großem Erfolg vor Arbeiterfrauen aufgeführt wurde: "Die Mutter" nach Gorkis gleichnamigem Roman aus dem vorrevolutionären Rußland.
Wie im christlichen Krippenspiel bilden eine Mutter, ihr Sohn und beider Verhältnis zur Erlösungshoffnung das Zentrum des Dramas. Unter dem Einfluß des Sohnes, der Christus gleich für die gute Sache stirbt, wird die alte Mutter als aktive Parteiarbeiterin wiedergeboren. Ihre Verstrickung in den politischen Kampf härtet die herzensgute Mutter Wlassowa zur stählernen Speerspitze der revolutionären Bewegung.
Einen ähnlichen Weg ging Rosa Luxemburg, die weibliche Ikone kommunistischer Erlösungssehnsucht. Daher wurde bereits die Uraufführung der "Mutter" im Januar 1932 auf den Jahrestag von Luxemburgs Ermordung gelegt, und auch Claus Peymann macht aus seiner "Mutter"-Premiere im Januar 2003 eine Hommage an die rote Rosa.
Ihr Konterfei flattert weithin sichtbar auf einer Riesenfahne über dem Berliner Ensemble. Eingeleitet und unterbrochen wird das Schauspiel durch Ansprachen der Volkstribunin ins Publikum. Da steht sie selbst im Suffragettenkostüm, die roten Haare aufgesteckt wie auf alten Fotos und ruft uns mit zarter Inbrunst zu, dass wir wachsam sein sollen, weil ein neuer Krieg vor der Tür steht. Und wie schön es sei, mit Proletariern in einer überfüllten Gefängniszelle zu schmoren. Dafür erntet die Schauspielerin Therese Affolter Szenenapplaus, doch den Raum, ihre Rosa zu einer wirklichen Theaterfigur mit Brüchen und Widersprüchen zu entfalten, gesteht ihr die Dramaturgie nicht zu. Sie bleibt eine schöne Ikone.
Vielfach beklatscht wird auch die Wlassowa, ideal besetzt mit Carmen-Maja Antoni, einem kleinen, mütterlichen Energiebündel. Die soziologisch präzise Spielweise, wie sie zu DDR-Zeiten am Berliner Ensemble kultiviert wurde, paart sich bei Antoni mit hinreißendem Spielwitz und proletarischem Charme. Ganz beiläufig wandelt sich ihre Wlassowa von der naiven Analphabetin zur glühenden Parteiagitatorin. Ihre Überzeugungskraft aber gewinnt die Figur daraus, dass sie sich treu bleibt: eine Herzenssozialistin zum Ans-Herz-Drücken von der ersten bis zur letzten Sekunde.
Dabei überspringt ihre kraftvolle Figurenzeichnung wie Peymanns ganze Inszenierung die heiklen Fragen der Nachgeborenen. Hat die Partei der Arbeiterklasse den guten Willen ihrer Anhänger nicht schrecklich mißbraucht? Das Versagen und die Verbrechen der Partei sind noch nicht bekannt geworden im zeitenfernen Märchenzarenreich dieser Aufführung. Daher muß dort Kommunist werden, wer nur einen Funken Anstand und Menschenliebe im Leibe hat - das schmächtige Muttersöhnchen Pawel (Markus Meyer) genauso wie der melancholische Lehrer Wessowitschkow (Martin Seifert) oder der bullige Gutsmetzger (Manfred Karge). Und wenn gegen die Ausbeuter gestreikt wird, dann ist das ein proletarisches Fest, bei dem Tafelgeschirr durch die Luft wirbelt wie hundert Frisbeescheiben.
Von den bösen Zaubermächten, die die Proletarier knechten, sieht man nicht viel. Ihre Schergen tragen Masken wie Clowns. Die Guten beherrschen eindeutig die karge Spielfläche (von Karl-Ernst Hermann). Doch ist sie abschüssig und weist mit einer blutigen Spitze ins Publikum. Darunter gibt eine stattliche Kapelle mit Hammondorgel und E-Gitarre die Bühnenmusik von Hanns Eisler zum Besten. In der Bearbeitung von Michael Gross klingt sie mal sphärisch, mal kakophonisch, jedenfalls aufgefrischt, aber bereinigt um den proletarischen Schneid des Orginals.
Brecht ließ seine Mutter Wlassowa die rote Fahne zielsicher ins Ziel der Revolution tragen. Peymann streicht dieses Finale, das den Berliner Arbeiterfrauen 1932 vorgaukelte, bis zur kommunistischen Erlösung sei es nicht mehr weit. Er spiegelt statt dessen die Kriegsangst, die dieser Tage umgeht. Nach einer flammend aktuellen Antikriegsrede läßt Peymann seine Rosa Luxemburg von Schergen beiseite schleppen. Die Mutter, gebrochen nach der Hinrichtung ihres Sohnes, vernimmt den leisen Lockgesang der Partei und rafft sich noch einmal auf, um gegen den Krieg zu agitieren. Blutig zusammengeschlagen lesen drei Müllmänner die alte Frau auf. Als sie ihnen ihre Flugblätter anbietet, nehmen die letzten Proletarier reißaus. Dann schluckt die große Weltfinsternis auch die letzte gute Seele und das Märchen ist aus.
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 17. Januar 2003
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