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THEATERKRITIK

Der Marterpfahl
nach Texten von Friedrich von Gagnern und Heiner Mülle . Premiere an der Volksbühne am 5. Januar 2005. Regie: Frank Castorf. Mit Daniel Chait, Ed Csupkay, Susannen Düllmann, Altea Garrido, Christoph Homberger, David Marton, Matthias Matschke, Josef Ostendorf, Sophie Rois, Thomas Stache, Bettina Stucky, Winfried Wagner.


Vom Marthaler zum Marterpfahl

von Michael Bienert

In den Karnevalstagen pirschen kleine Cowboys und bunt bemalte Indianer wieder zahlreich durchs Dickicht deutscher Städte. „Deutscher sein, hieß auch Indianer sein“, hat der Dramatiker Heiner Müller über seine Kindheit im Nationalsozialismus gesagt. An der Berliner Volksbühne wird das zum Ausgangspunkt einer theatralischen Recherche, bei der es um vieles, allzu vieles geht: die Faszination von Wildwestromantik und Countrymusik, das Sterben am Marterpfahl und in Auschwitz, Müllers Faschismustheorie und den aggressiven Neonazismus im Osten der Bundesrepublik.

Szenisch abgearbeitet wird das von zeitgemäß verschlampten Figuren in einem Bühnenbild von Anna Viebrock, die einen tristen Rauhputzbau (nach Auskunft der Volksbühnendramaturgie handelt es sich um die DDR-Staatbank) neben die Berliner Mauer gestellt hat. Es ist Nachwendezeit, die karnevalesk als Cowboys und Indianer verkleideten DDR-Bürger stehen Schlange, um ihr Begrüßungsgeld für den Eintritt in den wild kapitalistischen Westen in Empfang zu nehmen. Eine neue Gemeinschaft formiert sich, mit ähnlichen Sehnsüchten wie sie die Siedler des amerikanischen Westens in die Wildnis trugen.

Statt Karl May liefert ein einst viel gelesenes Buch des heute vergessenen Jagdschriftstellers Friedrich von Gagern das Spielmaterial: „Der Marterpfahl“, die Legende um den einsam Indianer skalpierenden „wilden Deutschen“ Ludwig Wetzel. Es war Heiner Müllers Lieblingsbuch. Er selbst wird mit Auszügen aus späten Interviews zitiert, in denen er die Verführungskraft des Nazismus mit eben jener Wildheit und der Lust am Töten der „roten Horden“ zu erklären versucht. Die von den deutschen Totschlägern sorgsam kultivierte Innerlichkeit kommt musikalisch ins Spiel, wenn das Ensemble in berückenden Lieder von Brahms die Sehnsucht nach Wald- und Mondeinsamkeit aufklingen läßt.

Der düstere Karnevalsabend mit Mummenschanz, Spielszenen, Gesang, Tanz und politischen Reden ist ein Bastard: In seinen dämmerhaften musikalischen Passagen trägt er die melancholische Handschrift des Regisseurs Christoph Marthaler, der während der Proben erkrankte. Sein Korrepetitor Christoph Homberger hat die musikalische Leitung behalten, die Kollegen Frank Castorf und Meg Stuart zeichnen nun für Regie und Choreografie verantwortlich. Eine Notgeburt? Herausgekommen ist eine überraschend ansehnliche Kreuzung des eher leisen, zum Stillstand tendierenden Marthalertheaters mit dem oftmals hysterischen und aktionistischen Castorftheater.

Getragen wird der Abend ohnehin weniger vom kruden Stoff und gedanklichen Gerippe als vom Ensemble. Josef Ostendorf oder Bettina Stucky sind pfundig wie in Marthalers Zürcher Intendantenzeiten, sie bilden ein schönes Gegengewicht zu den nervösen, spillerigen Großstadtpflanzen um die Volksbühnenheroine Sophie Rois. Matthias Matschke hat Gelegenheit, einmal mehr sein Multitalent als Komiker, Violinist und Kontrabassist zu beweisen. Als der „wilde Deutsche“ muß er an den Marterpfahl. Zum Glück wird das weniger blutig inszeniert als befürchtet. Mit den Indianern, die ihn foltern, versteht sich der wilde Weiße prächtig. Das beeindruckt die Rothäute so sehr, dass sie versprechen: „Im Winter gehen wir alle nach Deutschland.“ Also, weiße Landsleute, aufgepaßt: Die Wilden sind sicher längst unter uns und lauern zwischen den aufgeputzten Karnevalsindianern auf Beute!

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 7. Februar 2005

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