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THEATERKRITIK

Lulu
von Frank Wedekind. Premiere an der Schaubühne am 24. März 2004. Regie: Thomas Ostermeier. Mit Anne Tismer, Wolf Aniol, Falk Rockstroh, Ursina Lardi, David Ruland u. a.


Sei brav, Lulu!

von Michael Bienert

Eine Monstretragödie? So steht es auf dem Programmheft, so hat Frank Wedekind seinStück Lulu genannt, aber wohin hat es sich verflüchtigt: das Monströse und Tragische? An der Berliner Schaubühne ist Jack the Ripper ein blitzsauberer Geschäftsmann, der mit kühler Überlegenheit sein Opfer exekutiert. Lulus fürchterliche Schreie hört man aus dem Off. Zweimal läßt Regisseur Thomas Ostermeier sie einspielen, ganz am Anfang und am Ende. Dazwischen herrscht kühle Geschäftsmäßigkeit, dreieinhalb Stunden lang.

Jack the Ripper, der letzte in der langen Reihe von Lulus Männern, schneidet sich ein Prachtstück für seine Genitaliensammlung aus der Hure heraus. Er macht sich ihr Fleisch zu eigen, nicht anders als die angesehenen Bürger, die zuvor aus dem Gossenkind eine Dame formen wollten. Alle Männer in Wedekinds Stück sind Triebtäter und gehen daran zugrunde. Die Vorlage böte den Schauspielern die Chance, die Schattierungen der Leidenschaft auszustellen, doch dazu haben sie wenig Gelegenheit, so schnell jagt sie Ostermeier durch die Akte. Mit kalter Bewunderung sieht man der gut geölten Theatermaschine zu, der kreisenden Drehbühne von Jan Pappelbaum, dem Pingpong der Dialoge.

Es fehlt Ostermeier nicht an Ideen, die Geschichte am Laufen zu halten, aber es fehlt eine Idee, das hundertjährige Skandaldrama wie ein Gegenwartsstück ausschauen zu lassen. Der erste Akt spielt in einem Maleratelier des späten 19. Jahrhunderts, der zweite vielleicht in den Zwanzigern, der dritte unübersehbar in der Nazizeit: Lulus Aktporträt an der Wand hätte Hitler hingerissen, und aus dem Radio plärren Nazilieder. Davor sieht man in einer Umbaupause Bilder aus dem Ersten Weltkrieg, geschnitten zum Takt von Rapmusik. Der vierte Akt ist ein Gesellschaftsbild aus der Nachkriegszeit, den fünften schmückt eine riesige Dessousreklame aus dem heutigen Straßenbild. Doch dieser Parforceritt durch die Geschichte wirkt aufgesetzt, weil er den Aktionen der Schauspieler gänzlich äußerlich bleibt. Sie bleiben von Anfang bis Ende in einem geschäftsmäßigen Konversationston und Bühnennaturalismus gefangen. Allein Robert Beyer darf als Lulus Dämon durch das Stück tigern, mal nackt, mal als Kellner oder Conferencier verkleidet.

Keine Frage, dass die dünnhäutige, agile und blitzschnell verwandlungsfähige Anne Tismer eine Lulu spielen könnte. Wie eine Wildkatze in Strapsen fegt sie im ersten Akt durch das Maleratelier. Fröstelnd und mit verlorenem Blick geht sie als Straßenhure zweimal ihrem Ende entgegen. Aber der Zuschauer sieht eine Anne Tismer, die eine durchtriebene, insgeheim depressive Kokotte zu sein vorgibt, selten Lulu. Sie hat es ja so leicht, ihren Partnern auf der Bühne den Kopf zu verdrehen, sie braucht nur ein paar Verrenkungen mit den Beinen oder der Zunge anzudeuten! Lulus Männer sind Jammerlappen mit schlechtem Geschmack, sie verdienen gar kein Vollweib, sondern würden auf jedes billige Flittchen hereinfallen.

Falk Rockstroh als knarziger Bettler Schigolch, Gerd Böckmann als Strippenzieher Schöning, Lars Eidinger als verlottertes Genie Alwa, Wolf Aniol als Obermedizinalrat und Bankier, Thomas Bading als Maler, Ursina Lardi als Gräfin Geschwitz - sie alle sitzen paßgenau in ihren Rollen, aber bei diesem Stück ist das nicht genug. Es war einmal eine Bombe, ein Affront gegen die Bigotterie der gutbürgerlichen Gesellschaft, ein skandalöses Plädoyer für einen nicht domestizierbaren Sexus. Rotzig, frech, herausfordernd, anarchisch, lustvoll, grausig und grausam ist aber fast nichts an dieser penibel durchgearbeiteten Aufführung. Sie ist so kreuzbrav gelungen, dass man sich fast wünscht, sie wäre monströs gescheitert.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 26. März 2004

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