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THEATERKRITIK

Leonce und Lena
von Georg Büchner. Premiere am Berliner Ensemble am 1. Mai 2003. Regie: Robert Wilson. Mit Walter Schmidinger, Martin Meyer, Stefan Kurt, Nina Hoss u. a.

Die Automaten singen und swingen

von Michael Bienert

Ein schwarzer Stuhl und ein schwarzes Stehpult auf schwarz ausgeschlagener Bühne, in der Mitte das weiße Rechteck einer Schreibtafel. Ein kerzengerader Mann in Schwarz tritt ans Pult, schaut in den Theatersaal und schweigt. Seine stille Konzentration überträgt sich in Sekunden aufs ganze Auditorium. Schlicht und perfekt ist der Auftritt des amerikanischen Regisseurs Robert Wilsons im Berliner Ensemble drei Tage vor seiner jüngsten Premiere. Eine bezwingende Aura umgibt den Theatermann, die das Publikum bis zum letzten Satz seines Vortrags in den Bann schlägt.

Ohne Anrede beginnt er mit einem Bekenntis: "The reason I work as an artist is to ask questions." Wenn Du schon weißt, wohin die Reise geht: "Forget it." Wilson erzählt, wie er in den Sechzigern durch die Begegnung mit Tauben und geistig Behinderten dazu kam, sein Theater der stummen Bilder und Gesten zu erfinden. Wie er fasziniert war von einer Intelligenz des Körpers, die schneller sei als das Denken mit Hilfe der Sprache.

Das abendländische Theater sei gefesselt durch die Literatur, anders als etwa das chinesische oder indische, wo es Notationen für Körpersprache gebe, die sich bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen ließen. Als abschreckendes Beispiel für die literarisch geprägte Theaterkonvention des Westens imitiert Wilson einen Schauspieler, bei dem die Gestik lediglich den gesprochenen Text illustriert. Auf dem Theater hingegen gehe es zuerst einmal darum zu begreifen, dass Auf-der-Bühne-Stehen etwas sei, was sich vom Stehen in jedem anderen Raum unterscheide.

Als Regisseur entwickle er eine möglichst einfache Struktur für ein Stück. Doch die rituell strenge Form seiner Inszenierungen, darin gibt Wilson Kritikern recht, sei eigentlich langweilig; es komme darauf an, wie sie ausgefüllt werde: "In meiner ganzen Laufbahn habe ich nie einem Schauspieler gesagt, was er zu denken hat". Insofern herrsche in seinem Theater absolute Freiheit.

Soweit die Theorie. Und wie sah die Praxis aus, zu besichtigen am Donnerstagabend in der Premiere von "Leonce und Lena"? Tatsächlich überzeugt an dieser Inszenierung vor allem die große Bereitschaft Wilsons, sich auf Büchners Lustspiel und auf die Schauspieler einzulassen. Das war nicht unbedingt zu erwarten. Als Wilson vor gut einem Jahr gleich um die Ecke im Deutschen Theater ein Remake des Stummfilmklassikers "Das Cabinet des Doktor Caligari" inszenierte, da wirkten die Schauspieler in enge gestische Rollenkorsetts gepreßt, da wurde die Geschichte unter einer Bilderflut fast begraben. Diesmal ist es umgekehrt: Wilson folgt respektvoll der Dramenvorlage und läßt zwischen Bühnenmusik, Pantomime und Gesangseinlagen genügend Raum für Büchners Sprachspiele.

Was die Schauspieler an grotesken Verrenkungen, Purzelbäumen und Songs zu bewältigen haben, wirkt ihnen oft auf den Leib geschneidert. So darf Walter Schmidinger, der am vergangenen Dienstag seinen 70. Geburtstag feierte, den König Peter aus dem Lande Popo ganz wienerisch als vertrottelte k. u. k. Majestät geben. Zu einer Schunkelmusik im Walzertakt singt er den garstigen Refrain: "I bin a König und ka Herz." Der junge Markus Meyer als Prinz Leonce wirkt mit seinen Geheimratsecken schon stark gealtert durch die höfische Langeweile. Der ganze Hofstaat von Popo gleicht im fahlen blaugrünen Licht einer skurrilen Vampirsversammlung. Das trifft Büchners Absicht, die überlebte Kleinstaaterei des Vormärz der Lächerlichkeit auszuliefern. Seine Figuren sind als Karikaturen angelegt, daher tut es ihnen keinen Abbruch, wenn Wilsons Körperregie und die Kostüme von Jacques Renaud sie vollends zu automatenhaft tickenden Puppen stilisieren.

Aus dem fahlen Licht am Hofe vom Popo flieht Leonce vor der drohenden Verheiratung in eine grell bunte Pappkulissennatur. So wie Prinzessin Lena, ein weißes Püppchen, das sich an der frischen Luft zur überspannten Naturliebhaberin im violetten Kostüm wandelt. Nina Hoss kann in dieser Rolle ihre Lust am Sprechen, Tanzen und Singen allerdings nur kurz andeuten, nicht ausleben. Den meisten Freiraum genießt Valerio,der hier nicht als Hofnarr mißverstanden wird, sondern als ungepflegter Landstreicher und Faulenzer die Macht im Lande Popo erringt. Stefan Kurth sammelt als kraftvoller, schlitzohriger Valerio die meisten Punkte beim Publikum, besonders durch eine Parodie auf den rockenden Herbert Grönemeyer, der die Musik beigesteuert hat.

Ehe er als Sänger und Songwriter berühmt wurde, arbeitete Grönemeyer als Theatermusiker in Bochum und Köln, brachte also außer seinem Namen auch einschlägige Erfahrung in die Arbeit mit Wilson mit. Seine Bühnenmusik, ausgeführt von einer zehnköpfigen Kapelle, schafft fließende Übergänge zwischen Sprech- und Musiktheater. Außer dem rockigen Grönemeyersound zitiert das Musical etliche Musikstile. Was fehlt, das sind Ohrwürmer, wie sie bis heute aus der legendären "Black Rider"-Inszenierung von Wilson und Tom Waits nachklingen.

Das Musical ist ein Grusical, vor allem im letzten Akt, in dem die Liebenden unter die gespenstisch-komischen Schranzen am Hof von König Peter zurückkehren. Beide seien menschenähnliche Automaten, behauptet Valerio, und sie sind es wirklich. Nach vollzogener Hochzeit kippen Leonce und Lena mechanisch zur Seite wie Maschinchen, deren Antriebsfeder abgelaufen ist. Valerio aber bleibt Minister und verspricht dem Volk ein arbeitsfreies Paradies. Der drohende Unterton in seiner Stimme läßt ahnen, dass bloß eine neue Herrschaftsideologie das höfische ancien regime abgelöst hat. Dieser Schluss wäre ganz im Sinne des ernüchterten Revolutionärs Georg Büchner, läge ganz auf der Linie von "Dantons Tod", dem Abgesang auf die bürgerliche Revolution. Aber ach, leider sind wir nun mal in einem Musical, und da muß es halt noch ein schmissiges Finale geben. Also schmettert das Ensemble die grönemeyerschen Verse: "Es geht alles von selbst / Wenn nur keiner denkt, / alles gibt sich beizeiten. / Wenn niemand schafft und keiner denkt." Schön wärs. Manchmal ist es doch besser erst zu denken, ehe man das Maul zum Singen aufreißt.

Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 3. Mai 2003

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