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THEATERKRITIK
Kunst und Gemüse, A. Hipler. Produziert von Christoph Schlingensief. Premiere an der Volksbühne am 17. November 2004. Regie: Hosea Dzingirai. Mit zahlreichen Mitwirkenden.
Der letzte Avantgardist
von Michael Bienert
Die armen Avantgarden! Seit hundert Jahren wollen sie die Grenzen der Kunst aufheben und verändern doch bloß den Kunstbegriff. Irgendwann landen alle wahren Kunstrevolutionäre im Museum oder in der Klassikabteilung. Das ist dem musikalischen Barrikadenkämpfer Richard Wagner so gegangen, dem Zwölftonmeister Arnold Schönberg, ebenso dem Readymade-Erfinder Marcel Duchamp, dem Regisseur Jean-Luc Godard oder dem rotzfrechen Maler Martin Kippenberger. Und es sieht ganz danach aus, als bleibe auch dem Aktionskünstler, Theater- und Filmemacher Christoph Schlingensief dieses Schicksal nicht erspart.
Dass er die skizzierte Ahnenreihe in seiner neuesten Produktion an der
Berliner Volksbühne ausgiebig zitiert, zeigt, wohin die Reise geht. Spätestens seit dem flauen Echo auf seine "Parsifal"-Inszenierung im sommerlichen Bayreuth war ja klar, dass die Klassikerwerdung Schlingensiefs nicht mehr zu bremsen ist. Statt den Grünen Hügel zur Explosion zu bringen, entdeckte der Gesamtkunstwerker in Wagner einen verehrungswürdigen Vorläufer. An der Volksbühne macht er nun Witzchen darüber, arbeitet sich dann aber fleißig wie ein Schüler der Harmonielehre von Wagner zu Schönberg durch. Dessen Kurzoper "Von heute auf morgen", aufgeführt von zwei Sängern und drei Musikern, bildet eine Klammer des bunten Abends. Die ganze Revue funktioniere wie ein Zwölftonstück, behauptet Schlingensief. Das bleibt freilich eine von tausend steilen Thesen, mit denen er die armen Rezensenten schon vorab via Presse, Homepage und Programmheft traktierte.
Witzig ist es allemal, wie er die Livemusik auf der Bühne mit einem selbst gedrehten Stummfilm synchonisiert, in dem Udo Kier und Irm Hermann trefflich grimassieren. Nett auch der Vorfilm, in dem ein "Kunst-und-Gemüse"-Laden voller Spielfilmnazis von einem Rollkommando unter Führung Schlingensiefs in Stücke gehauen wird. Und wagnerisch überwältigend sind manche Bilderlawinen der künstlerischen Großinstallation, als die der Theaterabend annonciert wurde: mit bizarren Videprojektionen auf einer rasend schnell zirkulierenden Drehbühne, mit raffinierten Überblendungen auf diversen Vorhängen, mit komplizierten Bild- und Toncollagen. Zumindest bühnentechnisch ist dies Schlingensiefs bisher überzeugendste Produktion an der Volksbühne.
Doch Avantgarde will mehr, will den Vorstoß ins Noch-nicht-Dagewesene (oder das, was ein Künstler dafür hält). Schlingensief beschreibt seine Methode in einem Interview genau: "Meine Projekte waren immer schon ein Organismus, der in Gang kam und außer Kontrolle geriet". Was macht der Avantgardist, um nicht zu früh zum Klassiker zu erstarren? Er baut sich eine unberechenbare Konstellation mit lauter unbekannten Akteuren. Er heuert den farbigen Regisseur Hosea Dzingirai aus Zimbabwe an und bezeichnet sich selbst als "Produzent". Schlingensief verwischt die Urheberschaft an dem Kollektivprojekt, nennt zahlreiche andere Künstler als Mitarbeiter, wie Paul McCarthy, dessen Figuren mit überlebensgroßen Obstköpfen er frech kopiert. Auch die Grenzen zwischen Laienschauspiel, Behindertentheater, Kabarett, großer Oper, Filmkunst, Videoinstallation, Kunstvernissage und Reality-Fernsehshow verschwimmen.
Sehr neu ist das alles nicht, schließlich ist Schlingensief nicht der erste, vielleicht eher der letzte Avantgardist. Den ultimativen Kick holt er sich aus dem Krankenhaus. Im Publikum liegt eine bewegungsunfähige, künstlich beatmete Frau aufgebettet, die an Amorpher Lateralsklerose leidet. Das ist jene tückische Nervenlähmung, die durch den Prozess um den koksenden Malerfürsten Jörg Immendorf in die Schlagzeilen kam. Weil er ebenfalls daran leidet, wurden dem todkranken Maler mildernde Umstände eingeräumt.
Nur noch durch Augenbewegungen, die über einen Laser ein Computerdisplay steuern, kann Schlingensiefs Patientin sprachlich kommunizieren. Sie werde den zweistündigen Theaterabend dirigieren, läßt der Produzent ankündigen. Auch das bleibt heiße Luft: Lediglich ein paar trotzige Statements über ihr Leiden kann sie zum Besten geben: "Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen".
Schlingensiefs Theater ist ebensowenig krank, es zappelt und zappt bloß wie verrückt. Letzte Einstellung, ein Videobild im Cinemascopeformat: Schlinge and Friends beschmieren sich mit bunter Farbee und gruppieren sich zum Familienfoto. Die Volksbühne applaudiert. Dann gehen alle Spieler zum Krankenbett im Zuschauerraum und singen "Happy Birthday to you". Das gelähmte Gesicht mit der Anstrengung eines Lächelns ist die ganze Zeit in Großaufnahme zu sehen. Man wird es nicht so bald vergessen. Und kann Schlingensief nicht mal böse sein: Im etablierten Kunstbeserker steckt halt auch nur ein sentimentaler Hund.
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