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Michael Bienert


THEATERKRITIK

Kokain
nach Pitigrilli. Premiere an der Volksbühne am 31. Januar 2004. Regie: Frank Castorf. Mit Marc Hosemann, Kathrin Angerer, Jeanette Spassova, Alexander Scheer, Hendrik Arnst u. a.
Telefavela von René Pollesch. Premiere im Prater der Volksbühne am 15. Januar 2004. Regie: René Pollesch. Mit Christine Groß, Désirée Nick, Caroline Peters, Sophie Rois und Volker Spengler


Schmetterlinge in Rotkäppchensekt

von Michael Bienert

Wie soll man über eine Premiere berichten, deren Hauptdarsteller nach der Vorstellung mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren werden mußte? Soll der Kritiker seine Hut ziehen vor dem Schauspieler, der zwei Stunden lang mit einem dicken Handverband durch einen zugemüllten Bühnendschungel turnt, sich kopfunter an den Füßen aufhängen, in die Badewanne setzen und einpudern läßt? Oder seinem Ekel freien Lauf lassen vor einem Reality-Theater, das den Zuschauer zwingt mitanzusehen, wie der Hauptdarsteller mindestens einen halben Liter Blut verliert, das allmählich durch die Mullbinden sickert und an den Mitspielern kleben bleibt? Wenn sich ein Kämpfer bei einem Boxkampf in der zweiten Runde verletzt, muß der Fight abgebrochen werden. Aber an der Berliner Volksbühne hatte am Samstagabend niemand den Mut, die Notbremse zu ziehen - kein Regisseur, kein Theaterarzt, keiner von den Schauspielern und leider auch nicht das Publikum.

Eine Grenzüberschreitung hatte sich das Theater vorgenommen, und sie ist ihm gelungen, nur eben rein zufällig durch einen Unfall und auf moralisch fragwürdigste Weise. Hausherr Frank Castorf plante einen Generalangriff auf die Sinne, frei nach dem Roman Kokain des italienischen Autors Dino Segre alias Pitigrilli. Dessen Schilderungen der freien Liebe und des hemmungslosen Drogenkonsums fielen in den Zwanzigerjahren unter das Schmutz-und-Schund-Gesetz und standen auch in der Bundesrepublik jahrelang auf dem Index.

Mit einer kakophonischen Reizüberflutung will der Regisseur Castorf das Publikum in einen Schwindelzustand zu versetzen, als hätte es gekokst. Dafür stemmte ihm der international gefeierte Nazi-Trash-Künstler Jonathan Meese ein Eisernes Kreuz auf die Drehbühne. Die rundum mit obszönen Schmierereien, Graffiti und Videoschirmen dekorierte Installation birgt im Innern einen »Erznazigoldstall«, das ist ein Bordell, dessen Innenleben durch Handkameras nach außen übertragen wird.

Gleichzeitig läuft hinter der Bühne ein psychedelischer Fantasyfilm im Cinemascopeformat. Der Zuschauer wird visuell und akustisch derart zugebrettert, dass es mühsam ist, die Aktionen der Schauspieler vorn auf der Bühne überhaupt wahrzunehmen; ihren Text zu verstehen ist ohnehin unmöglich. Nur soviel ist klar, dass ihre Figuren alle auf der Suche nach einem rauschhaft entgrenzten Zustand sind, den sie im Alkohol, im Sex, im Geld oder eben im Kokain suchen. Und dass im Zentrum des undurchsichtigen Beziehungsgeflechts die Liebe zwischen dem Journalisten Tito (Marc Hosemann) und der unschuldig-verruchten Maddalena (Kathrin Angerer) steht. Alle flattern nervös umher wie die Schmetterlinge auf Video, die hilflos geblendet an einer Neonröhre oder in Rotkäppchensekt verenden.

Drei Stunden zieht sich Castorfs Passionsspiel, dem der verletzte Marc Hosemann am Premierenabend einen ganz überflüssigen Blutzoll entrichten mußte. Richtig komisch ist nur eine Szene, in der eine ungehobelte Riesenskulptur von Jonathan Meese auf die Bühne gezogen wird, eine Liebesgott namens "Dr. Eldorado" mit einem Riesendrillingspenis in Kreuzform. Am Ende dampfen die Minivulkane auf dem Bühnenbordell und spucken begalisches Feuer. Castorf und Meese, der alte und der junge Wilde, hauen kräftig auf die Pauke, aber ihr neoavantgardistisches Gelärme berauscht nicht, es nervt bloß.

Wie originär wirkt daneben das Theater, das Rene Pollesch im Prater, der Nebenspielstätte der Volksbühne, macht! Zuschauer und Schauspieler sitzen bei seiner Telefavela gemeinsam unter einem Zeltdach. Alle werden zu modernen Nomaden, die sich an einem Ort treffen, der Sao Paolo heißt, der angeblich aussieht wie ein Stadt, aber nur mehr ein imaginärer Umschlagplatz von Geld, Symbolen, Gefühlen und Begehrlichkeiten ist. Die Schauspielerin Caroline Peters hält darüber einen urbanistischen Vortrag, ehe sie sich in den Favelabewohner Paolo verwandelt, der seine Arbeitgeberin (Sophie Rois) beklaut. Paolo macht ihr weis, dass er damit "den Markt umgehe", um ihr zu zeigen, wie sehr er sie liebe. Natürlich hat Paolo auch noch eine richtige Geliebte (Christine Groß), und so ganz glaubt ihm die betrogene Comtessa auch nicht. Aber was soll sie sonst machen mit ihren unerfüllten Wünschen? "Diese globale Unsicherheit ist zum Dauerzustand geworden", klagt die reiche Dame, die von ihrem eigenen Sicherheitspersonal ausgeraubt wird.

Polleschs Text balanciert zwischen Geschwätzigkeit und Tiefsinn, zwischen TV-Trash und urbanistischer Theoriebildung, dabei läßt er den Schauspielern viel Spielraum für schrille und schräge Aktionen. Seine Inszenierung verhandelt bleierne Themen wie Globalisierung, Deterritorialisierung, Entindividualisierung mit boulevardeskem Charme. Schon nach einer Stunde, wenn alles gesagt ist, läßt Pollesch seine Figuren den Kolportagetod sterben: Sie schlucken ein Dragee und kippen um. Ein Ende ohne Getöse. Nach Castorfs Panzerattacke aufs Gemüt ist man dafür doppelt dankbar.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 2. Februar 2004

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