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Lektüre der Straßen: Hackesche Höfe


Antibürgerlicher Aufstand in den Hackeschen Höfen
Am 8. November 1909 trat der expressionistische "Neue Club" an die Öffentlichkeit

von Michael Bienert

Von der Humboldt-Universität zu den Hackeschen Höfen sind es nur ein paar Schritte. Für Studenten, die sich in der Uni langweilen, ist es ein besonders verlockender Weg. Wer träumt sich nicht manchmal heimlich ins Scheunenviertel, wenn er in der Vorlesung einnickt oder über wissenschaftlichen Aufsätzen brütet? Jenseits von Stadtbahn und Spree pulsiert die Stadt. Während die Hackeschen Höfe noch saniert werden, kann man schon im Cafe sitzen, eine Galerie, eine kleine Boutique oder das erotische Museum besuchen. Abends hat man die Wahl zwischen dem Pantominentheater, dem Variete, regelmäßigen Klezmerkonzerten, und in Kürze soll auch noch ein Kino eröffnet werden. Wie soll die Uni dagegen ankommen?

Es sind zum großen Teil frustrierte Studenten und arbeitslose Akademiker, die heute das Scheunenviertel bevölkern. Sie setzen Häuser instand, jobben in den Kneipen, führen Touristen zu den Stätten jüdischen Lebens, spielen Theater und veranstalten Ausstellungen. Ihre Lust am Experiment, an der Improvisation in alten Gemäuern trägt wesentlich zur subkulturellen Ausstrahlung des Viertels bei.

Ihre Abwendung von der Universität, ihr Abtauchen in die Kulturnischen der Großstadt folgt - wenn auch unbewußt - einer Bewegung, die schon die Studentengeneration unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg erfaßte. Wahrscheinlich würden auch Studenten von heute dem Aufruf zu einem Treffen folgen, der im Herbst 1909 am Schwarzen Brett der Universität flatterte. "Wir leben in einer Zeit, die zu viel arbeitet und zu wenig erzogen ist, in einer Zeit, wo die Leute vor Fleiß blödsinnig werden", hieß es da - ein Wort von Oscar Wilde, provokativ neben Zitate von Nietzsche, Spinoza, Goethe, Wedekind und Hofmannsthal gestellt. Der Wunsch nach befreiter Kreativität, nach Gemeinschaft, der Protest gegen die "Decadence der Zeit" kamen in der pfiffigen Zitatcollage zum Ausdruck. Und tatsächlich versammelten sich etliche der "Produktiven, Intellektuellen und Asozialen", an die sich der Aufruf wandte, am 8. November 1909 in Neumanns Festsälen in den Hackeschen Höfen.

Es war nicht die erste, aber eine der wichtigsten Versammlungen des "Neuen Club". Sie brachte der Vereinigung, einer Keimzelle des literarischen Expressionismus in Berlin, eine Reihe neuer Mitglieder. Angewidert von der Bierseligkeit ihrer Kommilitonen hatte sich schon im Frühjahr 1909 eine Handvoll Literaten von der "Freien Wissenschaftlichen Vereinigung", einer nichtschlagenden Studentenverbindung, abgespalten. Zu den Gründungsmitgliedern des "Neuen Clubs" zählte neben den tonangebenden Programmatikern Kurt Hiller und Erwin Loewenson auch ein junger Dichter: Jakob van Hoddis. In den Wochen nach der Versammlung in den Hackeschen Höfen, als die Zeitungen voll waren von Berichten über Sturmschäden und Eisenbahnkatastrophen, schrieb er "Weltende", das berühmteste expressionistische Gedicht: "Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei./ Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei / Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut."

Hoddis las seine Gedichte in den "Neopathetischen Cabarets", intellektuellen Nummernrevuen, mit denen sich der "Neue Club" seit Mitte 1910 auch der nicht-akademischen Öffentlichkeit vorstellte. Krude Philosophiereferate und unreife Novellen wurden zum besten gegeben. Dazwischen stellten einige der bedeutendsten Lyriker der Zeit ihre Werke vor: Georg Heym und Ernst Blass waren dem "Neuen Club" eine Zeitlang eng verbunden, Else Lasker-Schüler las im Cafe Kerkau in der Behrenstraße Prosa und Gedichte. Und im vornehmen Salon Cassirer rezitierte der verehrte Prager Dichter Max Brod auf Wunsch der Clubmitglieder sein Drama "Die Höhe des Gefühls".

Ermutigt von den ersten Erfolgen in der Öffentlichkeit wurden große Pläne geschmiedet. "Ja van Hoddis will ein Drama schreiben, so, daß im 1. Akt alle Zuschauer anfangen gegenseitig zu koitieren im finstern. Und daß im 2. Akt jeder Zuschauer stirbt, der anderer Meinung ist als der vorgetragenen (wegen wechselhafter Verdrängungen); er dichtet nur noch wissenschaftlich, sagt er, auf Verdrängungen-Verschiebung hin. Man wird später alle Krankheiten (Magenbeschwerden usw.) auf diese Weise heilen können, oder hervorbringen", schreibt Loewenson in einer clubinternen Korrespondenz. Man las Freud und erarbeitete mit deutscher Gewissenhaftigkeit die Satzungen für eine freie Bühne. Doch die Theaterpläne reiften sowenig, wie das Vorhaben, eine eigene Zeitschrift herauszubringen.

Die zwischen den Initiatoren des Clubs angelegten Gegensätze traten immer krasser zutage. Vor allem zwischen dem mehr an gesellschaftlichen Fragen interessierten Juristen Kurt Hiller und Loewenson mit seiner Neigung zum Ästhetizismus und Irrationalismus gab es Krach. Kurt Hiller und Ernst Blass traten im März 1911 aus dem "Neuen Club" aus und gründeten das Konkurrenzkabarett "GNU". Hiller schrieb nun für die führenden expressionistischen Zeitschriften "Die Aktion" und "Der Sturm". 1914 gründete er die pazifistische Aktivismus-Bewegung in Berlin und gehörte in den zwanziger Jahren zum engsten Mitarbeiterkreis der "Weltbühne".

Am 16. Januar 1912 ertrank Georg Heym beim Schlittschuhlaufen im Wannsee. Danach fiel der "Neue Club" auseinander. Der Zustand des nervenschwachen Jakob van Hoddis verschlimmerte sich so, daß er von seiner Familie zwangspsychiatrisiert wurde. Den Rest seines Lebens hat er überwiegend in Irrenanstalten verbracht. Am 30. April 1942 wurde er von den Nazis nach Polen deportiert und in einem Massenvernichtungslager ermordet.

An Hoddis' Schicksal und den "Neuen Club" erinnert seit einem Jahr eine Gedenktafel am Hauptzugang zu den Hackeschen Höfen. Sie geht auf eine Anregung des Regisseurs Anton Dick-Boldes zurück, der 1994 mit einem Monolog nach Texten des Dichters im Hackeschen Hof-Theater aufgetreten war. Für Dick-Boldes liegt das Verdienst des "Neuen Clubs" in der Erneuerung der deutschen Sprache durch eine Handvoll jüdischer Studenten. Sein 1991 gegründetes "Jakob-van-Hoddis-Theater" sucht nach neuen Ausdrucksformen, gespeist aus der Erfahrung, nach dem Holocaust als Jude in Deutschland zu leben.

Die Inschrift auf der Gedenktafel zitiert einen Satz, den der gemütskranke Jakob van Hoddis oft vor sich hingemurmelt haben soll. Die ganze Weltverlornenheit des expressionistischen Poeten inmitten der modernen Metropole kommt darin Sprache: "Ich habe am Wannsee Rosen gepflückt, und weiß nicht, wem ich sie schenken soll."

Erstdruck in DER TAGESSPIEGEL vom 26. November 1995

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