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Michael Bienert



Lektüre der Straßen: Große Hamburger Straße


Schrecken der Geschichte, Freuden der Gegenwart
Die Schriftstellerin Irina Liebmann im Scheunenviertel
vor und nach dem Fall der Mauer


von Michael Bienert

Die Stühle, die Wandverkleidung, die Gardinen, das Klo: In dem kleinen Café "R.Z.", mitten im Berliner Scheunenviertel gelegen, stammt noch manches aus der Zeit vor der deutschen Einheit. Aus den Fenstern blickt man auf die jüdische Knabenschule an der Großen Hamburger Straße. Nach dem Holocaust als staatliche Berufsschule genutzt, wird das schöne alte Gebäude jetzt wieder zum jüdischen Gymnasium ausgebaut. In der Straße stehen noch die DDR-typischen Betonkandelaber; denkt man sich die ununterbrochene Reihe der geparkten Neuwagen weg, hat man fast das Bild, das sie in der Endzeit des ostdeutschen Staates bot. Noch kleben CDU-Plakate aus dem Vereinigungswahlkampf von 1990 - "Nie wieder Sozialismus!" - an den Häusern. Die Fassaden sind graubraun, rissig, mit Einschußlöchern aus den letzten Kriegstagen übersät. Erst jetzt, im fünften Jahr der Einheit, wird die erste Fassade restauriert.

Am Wochenende kann man vom Café aus Touristengruppen vorüberziehen sehen, eine nach der anderen. Führer zeigen die unscheinbare Grünanlage, die vom ältesten jüdischen Friedhof Berlins übriggeblieben ist. Ein symbolischer Grabstein erinnert an den Aufklärer Moses Mendelssohn, außerdem eine Bronzetafel an der jüdischen Schule, die empfiehlt: "Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun." Der Mann mit Maschinenpistole, der Tafel und Schule im vergangenen Jahr bewachte, ist abgezogen, stattdessen fährt alle paar Minuten eine Polizeistreife vorbei.

Die Straße atmet Geschichte. Neben dem Café hat der Krieg eine Lücke in die unregelmäßige Häuserfront gerissen. An den Brandwänden der Nachbargebäude hängen Tafeln mit den Namen der Bewohner des verschwundenen Hauses. Ein Gedenkstein erinnert an das jüdische Altersheim, in der Nazizeit eine Sammelstelle für Deportationen. Dennoch, erzählen die Stadtführer, heißt die Straße im Volksmund "Toleranzstraße". Haben sich doch in der Vergangenheit die jüdische Gemeinde, die benachbarten Protestanten aus der Sophienkirche und die katholischen Schwestern des St.-Hedwigs-Krankenhauses immer wieder gegenseitig geholfen.

"Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun": das will auch die Protagonistin von Irina Liebmanns 1994 erschienenem Roman In Berlin. Mitte der achtziger Jahre, als noch niemand ahnt, daß die Große Hamburger Straße sich einmal zu einem Magneten für Touristen aus dem Westen entwickeln würde, beginnt sie das Leben ihrer Bewohner zu erforschen. Gemeinsam mit einem Fotografen will sie ein Buch darüber machen.

Vom Scheitern dieses Projekts handelt der Roman. Die Handlung setzt zwar zu einem Zeitpunkt ein, als die Protagonistin (sie heißt "die Liebmann", obwohl die Autorin versichert, alle Figuren seien frei erfunden) den Glauben an die Fertigstellung des Buches schon aufgegeben hat. Aber die inneren Beweggründe treten erst nach und nach, in einem psychologischen Enthüllungsprozeß, zutage.

Die Geschichte beginnt im Jahr vor der öffnung der Grenze. Die politische Stagnation drückt wie eine graue Dunstglocke auf die Stimmung in der "Hauptstadt der DDR". In dem kleinen Café, das "die Liebmann" während ihrer Recherchen lange als Arbeitsplatz genutzt hat, ist die Ausreise in den Westen der wichtigster Gesprächsgegenstand: Wer ist schon weg, wer hat einen Antrag gestellt, wer ist so blöd und will bleiben? Auch "die Liebmann" will raus, in den Westen, der allgemeinen Depression entfliehen. Sie stellt einen Ausreiseantrag, verliebt sich in der Wartezeit in einen Mann aus Westberlin, kann übersiedeln, was aber die Liebesbeziehung bloß komplizierter macht.

Der äußere Druck ist mit der Ausreise zwar weg, dafür zeigen sich immer krasser die seelischen Beschädigungen, die das Leben in der geteilten Stadt hinterlassen hat. Immer tiefer gerät "die Liebmann" die Krise. Mit dem Fall der Mauer verliert sie vollends den Boden unter den Füßen: "Bruch und Gong, eine Schleuder, erst langsam, dann schneller, und zuerst drehn sich wohl diese weißen Kleider, bis alles in Fetzen und Stücken herumliegt als Saturnring, die Bilder verklumpen, DU ist die Achse, um die sich das dreht, aber kann die das halten, du rufst mich mich doch an, es dreht sich die Stadt, und die Grenze zerbröselt und fliegt durch die Luft..." Gescheitert und tief verstört kehrt "die Liebmann" nach zwei Jahren in ihre alte Wohnung im ostberliner Bezirk Pankow zurück.

Woran gescheitert? Wie im freien Fall ziehen Schlüsselszenen einer Biographie im geteilten Deutschland vorüber: Der Vater opfert das Familienleben dem Aufbau des Sozialismus, wird selber zum Opfer der Lebenslügen, die zum Überleben im autoritären Staat notwendig waren. Der beste Freund entpuppt sich als Stasi-Spitzel, im Knast hat man ihn gebrochen. Das scheinbar private Problem der Protagonistin, kein Vertrauen in Liebesbeziehungen entwickeln zu können, gibt nun, da die Wahrheit über die Vergangenheit ausgesprochen werden kann, seine gesellschaftliche und historische Tiefendimension preis. Bis in die Nazizeit, bis auf ihre verdrängte jüdischen Wurzeln, führt das freie Assoziieren die Hauptperson zurück. Zuletzt sieht sie sich wieder in dem kleinen Café sitzen, "festgehakt, und was fällt ihr da ein? Café, Judenmord, Alt-Berlin. [...] Jeder Mensch würde abhauen aus so einer Gegend und sich nicht noch freiwillig reinziehen, was alte Frauen erzählen, Liebmann, was hat die sich dabei gedacht? [...] Und wenn die Liebmann nicht so lange Haare hätte, dann würden die ihr jetzt hochsteigen, sie würden zu Berge stehn: Sie sieht ja die Landschaft ihrer Gedanken! Was sie damals für gut hielt, für böse, alles da, und es stand sich direkt gegenüber auf den Straßenseiten rechts - links, kann das sein, und da ist sie geblieben."

Die Protagonistin begreift: Statt sich dem Schrecken der Ereignisse, um die sie weiß, auszusetzen, hat sie sich als Richterin über Gut und Böse aufgespielt. Darin erkennt sie genau das Verhaltensmuster wieder, unter dem sie selbst von klein auf am meisten gelitten hat: "Die Kälte, das ist der Punkt."

Am Schluß vernichtet sie ihre Papiere über die Geschichte der Straße. Den ganzen Schrecken der Geschichte hat sie nun erfaßt. Gewachsen ist sie ihm nicht. Sie trennt sich von ihrer Wohnung, von den verinnerlichten "Gedanken aus Köpfen von anderen Leuten", von der Vergangenheit, stürzt sich in die Gegenwart der wiedervereinigte Stadt: "Berlin ist offen."

Über den Ausgang dieses Abenteuers dürfen die Leser spekulieren, denn es ist keinesfalls ausgemacht, daß das wiedervereinigte Berlin mehr Spielraum für neue Lebensentwürfe zugesteht, als die geteilte Stadt sie bot. Die Euphorie der Wiedervereinigung ist längst verflogen. Zu hart haben die Anpassung des Ostens an den Westen und der Umbau Berlins zur Hauptstadt der Bevölkerung zugesetzt. Das neue Buch von Irina Liebmann, in diesem Sommer bei der Europäischen Verlagsanstalt erschienen, ist keine Fortsetzung ihres Romans, kann aber durchaus als solche gelesen werden. Mit dem Zeichner Xago ist die Autorin an einem warmen Sommerabend durch die nach dem Ende der DDR neu eröffneten Kneipen im Scheunenviertel gezogen. Galerien, Kunstfabriken und Off-Theater haben sich in den letzten Jahren dort eingenistet. Rund um die teilweise wiederaufgebaute Neue Synagoge gibt es erste Anzeichen einer Wiederbelebung der jüdischen Tradition: Koschere Restaurants und ein koscherer Lebensmittelladen, ein orthodoxes Gemeindehaus, die jüdische Volkshochschule.

Berauscht von der Atmosphäre der Straßen und des Abends entschieden sich die Schriftstellerin und der Zeichner, ihren Spaziergang brieflich fortzusetzen. Sie schrieb kleine poetische Texte, er schickte Zeichnungen. Aus dieser nicht sehr umfangreichen Korrespondenz hat die Europäische Verlagsanstalt eines der am schönsten gestalteten Bücher dieses Jahres gemacht.

Anders als im Roman "In Berlin" spielen Topographie und Geschichte des Scheunenviertels darin keine Rolle. Die rissigen Fassaden, die maroden Straßen, die improvisierten Bars werden zur Projektionsfläche für erotische Phantasien. Auf dieser imaginären Bühne tobt sich die Beziehung zwischen den beiden Briefpartnern aus. Es ist eine Geschichte von Annäherung und Abstandhalten, wie sie sich tausendfach in den Kneipen des Scheunenviertels abspielt. Reizvoll wird sie durch den ungewöhnlichen Dialog zwischen Texten und Bildern. Wenige Worte, wenige Striche genügen den beiden, um nuancenreich aufeinander einzugehen.

Ihr Scheunenviertel ist eine anthropomorphe Landschaft. Engel, Menschen und Monster wachsen aus den Mauern, Abgründe tun sich auf und Gebäude nehmen phallische Züge an. Man sieht's und erkennt die Sehnsucht nach Entgrenzung, die heute die Massen ins Scheunenviertel lockt. Nach der Vereinigung Berlins wurde das düstere, zur Kahlschlagsanierung verurteilte Viertel zu einem Ort der verwischten Grenzen, wo die Übergänge zwischen Entzücken und Erschrecken, Traum und Wirklichkeit, Kunst und Alltag, Geschichte und Gegenwart fließend sind oder es wenigstens zu sein scheinen. An diese menschenfreundliche Urbanität wird das Buch von Liebmann und Xago einmal erinnern, wenn die Kommerzialisierung und Verdrängung der Szene durch eine zahlungskräftige Schickeria dem lustvollen Chaos den Garaus gemacht hat. So wie uns heute der Roman "In Berlin" eine Epoche in Erinnerung ruft, die kaum ein paar Jahre zurückliegt, und doch schon so verschollen wirkt. Zusammen gelesen vermitteln beide Bücher einen einzigartigen Eindruck von der Dynamik der Veränderung, die Berlin seit dem Fall der Mauer erfaßt hat.

Irina Liebmann, In Berlin. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 1994. -
Irina Liebmann/Xago: Wo Gras wuchs bis zu Tischen hoch. Ein Spaziergang im Scheunenviertel. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1995.

Erstdruck im LITERATURBLATT FÜR BADEN UND WÜRTTEMBERG 5 /1995

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