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Michael Bienert



Reisebilder: Nach Galizien mit Joseph Roth


Reise nach Galizien (1994)

von Michael Bienert

I.

Wer die polnisch-ukrainische Grenze bei Przemysl mit der Eisenbahn überquert, muß glauben, hier sei Europa zuende. Mehrere Stunden dauert der Zwangsaufenthalt in der polnischen Grenzstadt, ehe die Waggons auf breitspurige Fahrgestelle umgeladen sind und Richtung Kiew weiterrollen dürfen. Kaum hat der Zug die mit mehreren Stacheldrahtzäunen gesicherten Grenze passiert, wird er abermals angehalten. Unterhalb des Bahndamms weiden schwarze Kühe. Eine Handvoll Menschen arbeitet auf dem Feld. Eine Lautsprecherstimme bellt unverständliche Worte gegen den Zug.
Ukrainische Grenzsoldaten steigen zu und sammeln die Pässe ein. Sie tragen noch die alten sowjetischen Uniformen, nur neue ukrainische Hoheitszeichen hat man ihnen angenäht. Auch ihre Umgangsformen haben sich kaum verändert. Sie begegnen den Fremden aus dem Westen mit demselben Mißtrauen, das man von früheren Einreisen in den Ostblock kennt. Ungläubig schütteln sie den Kopf, als wir behaupten, nur aus touristischer Neugier nach Lviv reisen zu wollen. Sie klappen die Sitzbänke hoch und prüfen alle Winkel des Abteils mit Lampen und Spiegeln. Lange dauert es, ehe wir die Pässe wiederbekommen. Die Einlegevisa bescheinigen uns, daß wir in die UdSSR eingereist sind, einen Staat, den es nicht mehr gibt.

In den folgenden Tagen lernen wir, daß diese Begrüßung charakteristisch ist für die Situation der ukrainischen Gesellschaft. Die Sowjetmacht ist gestürzt, aber die alten Lebensformen sind noch nicht zerbrochen. Der junge Nationalstaat ist noch auf der Suche nach seiner Identität. Man sieht mehr vom schleichenden Zerfall einer alten Ordnung, als von Reformen und einem Neuanfang.

Nach der Abfertigung durch die Grenzsoldaten geht ein Mann mit einer Plastiktüte voller Wodkaflaschen von Abteil zu Abteil. Er verkauft sie billig gegen Dollars und D-Mark. Der Mann ist der erste Bote der neuen Zeit.

II.

Sich in Lviv zurechtzufinden, ist nicht leicht. Dabei ist Lviv das Musterbild einer historisch gewachsenen, mitteleuropäischen Stadt. Es gibt einen Schloßberg, auf dem im Mittelalter eine Burg entstand, und unterhalb eine Bürgerstadt, um einen quadratischen Marktplatz gruppiert, mit Handelshäusern, Kirchen, Klöstern, dem Pulverturm und Resten der alten Stadtbefestigung. Die Altstadt wird von weitläufigen Boulevards umschlossen, an denen ein Opernhaus, Bank- und Hotelpaläste stehen, deren sich Wien, Prag oder Budapest nicht zu schämen brauchten. Das ganze Ensemble ist wunderbar intakt. Seit der Jahrhundertwende scheint kaum etwas zerstört und neu gebaut worden zu sein.

Doch was nützt die schöne Ordnung, wenn es keine Stadtpläne gibt, die man lesen kann? Die Straßen sind kyrillisch beschriftet, viele mit neuen ukrainischen Namen, die weder mit den polnischen noch mit den russischen Plänen übereinstimmen. Am besten also, man greift gleich zur Wehrmachtskarte von Lemberg aus dem Jahr 1941 - "Nur für den Dienstgebrauch!" -, wenn man die Stadt wirklich kennenlernen will. Damit waren wir in der Lage, die alte Universitätsbibliothek ausfindig zu machen, den Zitadellenberg zu besteigen oder den Schulweg des Schriftstellers Stanislaw Lem zu rekonstruieren, so wie er ihn in seinem Erinnerungsbuch Das Hohe Schloß beschrieben hat.

Lemberg, das war bis zum ersten Weltkrieg die Hauptstadt des Königreichs Galizien und Lodomerien und die östlichste Metropole der Habsburgermonarchie. Danach gehörte sie zu Polen und hieß Lwow, sprich: Lwuf. Als Hitler und Stalin Osteuropa unter sich aufteilten, fiel sie an die Sowjetunion. Wenig später marschierte die Wehrmacht ein, was 150.000 Lemberger Juden, ein Drittel der Bevölkerung, das Leben kostete. Vor zweieinhalb Jahren wurde aus dem sowjetischen Lwow das ukrainische Lviv. Jeder Machtwechsel in diesem Jahrhundert hatte "ethnische Säuberungen", Flucht und Vertreibung zur Folge, und so wurde aus der einstigen Vielvölkerstadt eine fast ausschließlich von Ukrainern bewohnte Industriemetropole mit 800.000 Einwohnern. Nur der eindrucksvolle architektonische Rahmen einer multikulturellen Stadt blieb erhalten, eine Kulisse, die von den heutigen Bewohnern sorgsam gepflegt, aber nicht wirklich ausgefüllt wird.

"Die polyglotte Farbigkeit der Stadt Lemberg ist wie am frühen Morgen noch im Halbschlummer, schon in halber Wachheit. Es ist, wie die erste Jugend einer Buntheit. Junge Bäuerinnen mit Körben fahren im Bauernwagen durch die Hauptstraße. Heu duftet. Ein Drehorgelmann spielt ein Volkslied. Stroh und Häcksel sind über den Fahrdamm gestreut. Die Damen, die in die Konditorei gehen, tragen die letzten Toiletten aus Paris." Nein, das kosmopolitische Flair, an dem sich Joseph Roth Anfang der zwanziger Jahre berauschte, ist unwiderbringlich dahin. Die Bäuerinnen, die auf einem kleinen Markt Blumen, Obst und Käse verkaufen, unterscheiden sich kaum von den Rentnerinnen aus der Stadt. Man sieht Soldaten in alten sowjetischen Uniformen, einige Neureiche in billiger Westschale, geschminkte Frauen, aber nirgends Eleganz. Farbtupfer, aber keine Buntheit. Fülle, aber keinen Überfluß. Der Mangel hüllt die Menschen in einen graublauen Schleier.

III.

Die Industrieproduktion der Ukarine ist im vergangenen Jahr um ein Drittel gesunken, doch anstatt Wirtschaftsreformen anzupacken, übt sich die alte Führungsschicht in Devisengeschäften, Schleichhandel und Korruption. Wie die Menschen die Wirtschaftskrise überleben, ohne daß das Elend so an der Oberfläche sichtbar wird wie im benachbarten Polen, wo sich bereits ein mittleres Wirtschaftswunder ereignet - das konnten uns auch die Einheimischen nicht sagen. Auf dem Lande sieht man sie kleine Äcker pflügen, mit einem Pferd oder von Hand, und die engen familiären Bindungen sorgen dafür, daß etwas von der Ernte auch die Angehörigen in der Stadt erreicht.

"Coupons" und "Karbowanez" steht in kyrillisch auf den winzigen bunten Scheinchen, die wie Spielgeld aussehen und mit pathetischen Motiven aus der National- und Kirchengeschichte bedruckt sind. Von Monat zu Monat verlieren sie die Hälfte ihrer Kaufkraft. Mehr als einmal ist es uns passiert, daß den Wechselstellen die Scheine ausgingen, wenn drei Besucher hintereinander zehn Mark in "Coupons" eintauschen wollten. Auch Papier ist Mangelware, und die Staatsbank kommt mit dem Gelddrucken nicht nach.

Zehn Mark - das ist der halbe Monatslohn eines Angestellten, mehr als ein Student im Monat als Stipendium für seinen Lebensunterhalt zur Verfügung hat. Das Gefälle zwischen den Westlern und Devisenbesitzern und der übrigen Bevölkerung ist unermeßlich groß. Doch obwohl zu Westtarifen fast alles zu bekommen ist, entgeht auch der Tourist dem Mangel nicht ganz. Während unseres mehrtägigen Aufenthalts in einem modernen, penetrant nach Desinfektionsmitteln riechenden Hotel in einem Neubaugebiet am Stadtrand gab es kein warmes Wasser. Eine Folge der Zahlungsschwierigkeiten der Ukraine, die ihre Gasrechnungen an Rußland nicht bezahlen kann und der deshalb der Hahn abgedreht wurde. Manchmal fällt das Wasser auch ganz aus. Die Bewohner von Lviv machen dafür die Lage ihrer Stadt auf einer europäischen Wasserscheide verantworlich. Wenn es in Lviv regnet, so sagen sie, fließt das Wasser von der einen Dachseite der Elisabethkirche zur Ostsee, von der anderen Seite ins Schwarzen Meer.

Auf den Straßen der Innenstadt sind kleine Verkaufsstände aufgebaut, doch die Waage ist oft größer als Angebot an frischem Obst und Gemüse. Viele Läden stehen leer, nur am "Freiheitsprospekt", der in der Habsburger Zeit angelegten Prachtstraße, gibt es alles, was das Herz begehrt, zu herzzerreißenden Preisen. Unter den Österreichern hieß der Boulevard Karl-Ludwig-Straße, in polnischer Zeit "Straße der Legionen", danach Adolf-Hitler-Straße und bis vor zwei Jahren Lenin-Prospekt. Das Lenindenkmal wurde gestürzt, stattdessen ziert nun ein Denkmal des als ukrainischer Nationaldichter verehrten Taras Schewtschenko die Mitte des Boulevards. Kunst und Literatur spielen bei der Suche nach einer nationalen Identität einen große Rolle, doch das tägliche Kulturangebot ist eher armselig.

IV.

Das vor Gold und Nacktheit strotzende Opernhaus am Ende des "Freiheitsprospekts" stammt aus einer Zeit, in der Lemberg eingebunden war ins mitteleuropäische Musikleben und Gastspiele internationaler Opernstars nichts Außergewöhnliches waren. Wir sahen ein Ballett in einer antiquierten Dekoration, mit schwachen Tänzern und einem unmotivierten Orchester. Der letzte Ton war kaum verklungen, da packten die Musiker schon ihre Instrumente zusammen. Ohne den Applaus der Besucher entgegenzunehmen, strebten sie dem Ausgang zu. Sie hatten es offenbar eilig wegzukommen. Vom Publikum wurde dasselbe erwartet. Wir standen noch am Fuß der Marmortreppen des Foyers, um die Deckengemälde anzusehen, da wurde schon das Licht abgedreht.

Mit größerer Inbrunst singt das Volk in den vielen, vielen Kirchen. Vor dem Weltkrieg residierten drei Bischöfe in Lemberg. 1946 verschaffte die Sowjetmacht der orthodoxen Gemeinde ein Religionsmonopol. Die griechisch-katholische Kirche, der überwiegend Ukrainer angehörten, wurde verboten, ihre Gotteshäuser an die Orthodoxen übertragen. Die Rückgabe des Eigentums und das Wiedererstarken der griechisch-katholischen Kirche ist auch ein politisches Signal, Ausdruck des Strebens nach einer ukrainischen Nationalkirche - sowohl in Abgrenzung zur römisch-katholischen Tradition der früheren polnischen Oberschichten als auch zur orthodoxen Tradition der russischen Okkupanten.

Das ukrainische Nationalbewußtsein, schrieb Joseph Roth, sei erst im 19. Jahrhundert aus einem Minderwertigkeitsgefühl der ukrainischen Landbevölkerung Galiziens gegenüber der polnischen Oberschicht entstanden. Tatsächlich fällt es schwer, die eigenständige Kulturtradition, auf die sich der neue Staat beruft, zu erkennen. Im "Ukrainischen Nationalmuseum" zeigte man uns Dutzende von Porträts Taras Schewtschenkos, des "ukrainischen Goethe", eine Anzahl Ikonen und volkstümliches Kunsthandwerk, um die eigene Tradition zu belegen. Ukrainischer Volkslieder, erfuhren wir, seien wieder sehr beliebt. Das spezifisch Ukrainische an all dem aber wurde nicht recht faßbar.

V.

Angesichts der Reformunwilligkeit der politischen Führung erscheint der Kult um die ukrainische Nationalkultur eher als Opium für das Volk. Dennoch bedeutet das neue ukrainische Nationalgefühl einen gewissen Fortschritt gegenüber der kommunistischen Ideologie. Das spüren vor allem die kleinen Reste ethnischer Minderheiten, die sich im ukrainischen Nationalstaat freier entfalten können als unter dem Roten Stern. Ausgenommen davon sind allerdings die in Lviv lebenden Russen, denen man die frühere Unterdrückung und Ausbeutung der Ukraine durch die Moskauer Zentralmacht noch nicht verziehen hat.

Die letzten Juden von Lviv haben zum ersten Mal Gelegenheit, in angemessener Weise an die Opfer des nationalsozialistischen Völkermords zu erinnern. Einer von ihnen ist Leon Plager, der Vizepräsident des jüdischen Kulturvereins. Er überlebte den zweiten Weltkrieg als Soldat der Roten Armee. "Als ich nach Lemberg zurückkam, erfuhr ich, daß 67 Angehörige, darunter Mutter und Vater, im Ghetto ermordet worden waren. Ich fragte nach den Gräbern. Es gab keine", erzählt er uns an dem großen Denkmal, das im August 1992 an der Stelle des ehemaligen Ghettos eingeweiht wurde.

Die monumentale Skulptur stellt einen alten Mann dar, der im Augenblick seiner Hinrichtung die rechte Hand zur Faust ballt, die linke zur Bitte um Vergebung öffnet. Das Denkmal ist Herrn Plagers Lebenswerk. Er gehörte zu den Initiatoren des Denkmals und hat Geld im In- und Ausland dafür gesammelt. Doch ohne den politischen Wandel hätte es nicht an dieser Stelle und auch nicht in dieser Größe entstehen können.

Auf einem alten jüdischen Friedhof zeigt uns Herr Plager das einzige Denkmal für die Opfer der deutschen Besetzer Lembergs, das in Sowjetzeiten errichtet wurde. "Zum Andenken an die von der Hand der Hitlerokkupanten Umgekommenen", steht auf einem 1960 aufgestellten unscheinbaren Stein. Kein Wort von Juden. "Heute ist das ein Mahnzeichen dafür, wie man damals mit unserer Geschichte umging", sagt Herr Plager. Sonst gibt es wenig auf dem Friedhof zu sehen. Die alten Grabsteine wurden von den Nazis als Straßenpflaster verwendet. Die Gräber aus der Nachkriegszeit sind mit Metallzäunen umgeben, viele liegen geschützt unter einer Art Vogelkäfig - eine Maßnahme aus Furcht vor Grabschändungen.

Am Stadtrand von Lemberg liegt die Strafanstalt Janow. Die endlose unverputzte Außenmauer mit der Stacheldrahtkrone weckt schauerliche Erinnerungen. An dieser Stelle errichteten die Nazis ein Konzentrationslager, das bis heute als Gefängnis dient. Nebenan lag eine Hinrichtungsstätte, wo 200.000 Menschen aus Lemberg und Umgebung ermordet wurden. In ganz Galizien kamen eineinhalb Millionen Juden auf diese Weise um. Im Oktober 1993, zum 50. Jahrestag der Liquidierung der Lagerinsassen, wurde neben der Strafanstalt ein Gedenkstein aufgestellt. Hundegebell schallt von dem scharf bewachten Gefängnis herüber. Am Ufer eines kleinen Flußarms, der sich rot färbte vom Blut der Getöteten, hat sich ein Schrebergärtner eine Datscha gebaut.

Nach dem Krieg, erzählt Herr Plager, hätten sich 30.000 Juden in Lviv neu niedergelassen, vor allem ehemalige Soldaten der Roten Armee. In den letzten fünf Jahren seien 15.000 ausgewandert, etwa 8.000 Juden lebten noch in der Stadt. Sie besitzen seit kurzem ein eigenes Kulturzentrum in einer früheren Synagoge. Sie diente den Nazis als Pferdestall und zuletzt dem Polygraphischen Institut als "Sportstützpunkt", sprich: Turnhalle. Die Mittel für die Renovierung und Bestuhlung mußte der Verein - von einem kleinen Zuschuß der Gemeinde abgesehen - selbst aufbringen. Auf einem kleinen Podium steht ein Klavier für Musikabende. Ein paar Ausstellungstafeln zeigen Bilder aus dem Lemberger Ghetto. In den Nebenräumen wird Hebräisch unterrichtet.

Auf die Frage, ob es auch in der Ukraine antisemitische Tendenzen gebe wie in Rußland, lacht Herr Plager. "Ein altes Sprichwort sagt: Wo ein Jude ist, ist auch ein Antisemit. Früher hatten wir einen staatlich verordneten Antisemitismus, das ist jetzt vorbei. Es gibt Antisemiten in der Bevölkerung - dumme Leute, die wahnhafte Theorien entwickeln." Sie scheinen Herrn Plager nicht sonderlich zu beunruhigen.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat in dieser Stadt gewirkt wie die Neutronenbombe, die in den achtziger Jahren von westlichen Militärs als besonders humane Waffe gepriesen wurde. Die Mehrzahl der Einwohner fiel ihr zum Opfer, nur die Häuser, Kichen, Ämter und Wasserleitungen blieben verschont. Lviv ist schön, eine der schönsten Städte Europas. Aber ihre Schönheit ist wie vom Schrecken erstarrt.

VI.

Die Pferdefuhrwerke auf der alten Handelsstraße nach Kiew, die Felder, Wälder und Sümpfe in der flachen Landschaft stimmen uns ein auf die Ankunft in Brody. In dieser Landschaft ist Joseph Roth aufgewachsen, in sie ist er in seinen Erzählungen und Romanen immer wieder zurückgekehrt. Ob in den lichten Wäldern noch die köstlichen Erdbeeren wachsen, deren Genuß er so lustvoll beschrieben hat? "An den Erdbeeren klebten kleine Erdklümpchen, die man mit freiem Aug nicht sah und die man also mit in den Mund steckte. Es knirschte zwischen den Zähnen, aber der Saft, der aus der Frucht drang, schwemmte die Erde weg und streichelte den Gaumen." Ja, sagt Larissa Cybenko, unsere ukrainische Begleiterin, es wüchsen reichlich Erdbeeren in den Wäldern um Brody. Im Juni sind sie reif, dann gehen die Leute Erdbeeren sammeln. Man zuckert sie, gibt Sahne dazu und ißt davon mit frischem Weißbrot, bis man satt ist. (An Tschernobyl, das gut vierhundert Kilometer östlich liegt, denken wir in diesem Augenblick lieber nicht).

In Lemberg haben wir das große Universitätsgebäude gesehen, in dem sich Joseph Roth 1913/14 einschrieb, ehe er zum Germanistikstudium nach Wien ging. Wir haben auch die alte Universitätsbibliothek ausfindig gemacht und im Katalog nachgeschlagen: Sie besitzt gerade vier Bücher von Joseph Roth, davon zwei in russischer Übersetzung, und eine Monographie. Die Werke des Österreichers Joseph Roths warten noch darauf, von den nationalbewußten Ukrainern wiederentdeckt zu werden.

Roth kam aus Brody, wo er am 2. September 1894 geboren worden war, zum Studium ins etwa 100 Kilometer westlich gelegene Lemberg. In Brody hatte er das k. u. k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium absolviert. Diese Schule hat bei der Entwicklung Joseph Roths zum deutschsprachigen Schriftsteller eine große Rolle gespielt. Sie war war eines von zwei Gymnasien in Galizien, an denen der Unterricht in Deutsch abgehalten wurde. Roth, der sich schon damals als "deutscher Assimilant" fühlte, hatte das Glück, dem letzten Jahrgang anzugehören, der in Deutsch unterrichtet wurde - die folgenden Klassen wurden auf Polnisch umgestellt.

In Brody sind wir mit Dana Melnik verabredet, die an eben jener Schule seit einem halben Jahr wieder Deutsch lehrt. "Ich bin ein Pionier", hatte sie am Telefon gesagt und gebeten, ihr ein Wörterbuch und einen deutschen Sprachkursus auf Cassette für den Unterricht mitzubringen.

VII.

Vor der hohen, gelben Fassade des Schulgebäudes steht ein schwärzlicher Steinklotz mit einer großen Gedenktafel, aus der fünf Männerköpfe wachsen. Es sind fünf namhafte Absolventen des Gymnasiums; der jüngste ist Joseph Roth. ÖSTERREICHISCHER ANTIFASCHIST UND SCHRIFTSTELLER lautet die Inschrift des noch aus Sowjetzeiten stammenden Denkmals. Zusätzlich wurde im vergangenen Jahr eine von der Österreichischen Gesellschaft für Literatur gestiftete Marmortafel über der Schulpforte angebracht. Sie trägt - in deutsch und ukrainisch - einen sehr österreichischen Text: DER DICHTER JOSEPH ROTH HAT IM MAI 1913 AN DIESEM GYMNASIUM DIE MATURA SUB AUSPICIIS IMPERATORIS ABGELEGT.

Schülerinnen in hellen, bunt bestickten Blusen kommen uns aus der Schule entgegen und überreichen den Besucherinnen schüchtern Blumensträuße. Die Lehrerin strahlt. Schritte und Kinderstimmen hallen durchs Treppenhaus. Die Schule, erzählt Dana Melnik, ist überbelegt, zur Zeit unterrichten 100 Lehrer 1500 Schüler in zwei Schichten. Wir werden in einen kleinen Museumsraum geführt. Die Ausstellung über die Geschichte der Schule unter österreichischer, polnischer, sowjetischer und ukrainischer Herrschaft ist noch ganz neu. "Wir hatten eine Geschichte und jetzt haben wir eine andere", sagt die junge Lehrerin, die die Ausstellung gestaltet hat. Neben einem Porträt Joseph Roths im Stil sowjetischer Parteitagsmalerei springt uns das deutschsprachige Zeugnis eines Gymnasiasten ins Auge, "geboren am 18. Dezember 1883 zu Berlin in Galizien."

Ein Blick aus dem Fenster erinnert an die ersten Sätze von Roths autobiographischem Fragment Erdbeeren: "Die Stadt, in der ich geboren wurde, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, die spärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos. Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an Sommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt." Von hier oben ist die grüne Ebene mit den niedrigen Häuschen gut zu überschauen, bis zu jenem Höhenzug, der den Horizont abschließt.

Im Sprachlabor gibt der Schulchor zu Ehren der Besucher ein kleines Konzert mit Volksliedern. Zwei Mädchen in Volkstracht singen zur Bandura, einem großen, zitherähnlichen Instrument. Es sind Lieder der Ruthenen, der ukrainischen Landbevölkerung, die vor dem ersten Weltkrieg von der polnischen und deutschen Oberschicht beherrscht wurde. Es sei die falsche Politik der Deutsch-Österreicher gewesen, schrieb Joseph Roth 1939, die einen ukrainischen Nationalismus unter dieser Bevölkerungsgruppe überhaupt erst habe entstehen lassen. Eine der Folgen ist die Entstehung der heutigen Ukraine, eines Staates, der noch auf der Suche ist nach seiner nationalen Identität.

VIII.

In Brody erinnern nur noch wenige große Gebäude an die Blütezeit als Handelsstadt an der nur drei Kilometer entfernten Österreichisch-russischen Grenze. Der Schule gegenüber stehen das ehemalige Bezirksgericht und die Handelskammer: In ihr werden heute ABC-Schützen unterrichtet. Von 1779 bis 1880 war Brody Freihandelszone und zog viele Kaufleute, ausländische Firmen und Banken an. Nach dem Verlust ihrer Privilegien verarmte die Stadt. 1881 verwandelte sie sich nach Pogromen in Rußland in ein riesiges Flüchtlingslager. Sie blieb eine Drehscheibe des Menschenhandels über die russische Grenze, ein Motiv, das Joseph Roth im Hiob, der Geschichte des russischen Juden Mendel Singer, der mit seiner Familie nach Amerika auswandert, aufgegriffen hat.
Die jüdischen Städtchen, die er in Juden auf Wanderschaft beschreibt, die Provinznester, in denen der Leutnant Trotta und der Eichmeister Eibenschütz untergehen: Sie alle sind Brody nachgebildet. Ihr einfacher Grundriß - eine Straße verläuft von Ost nach West, eine von Süd nach Nord, am Kreuzungspunkt liegt ein Marktplatz - geht auf das 17. Jahrhundert zurück, als Brody von einem Baumeister italienischer Herkunft zu einer Festungsstadt umgestaltet wurde.

Den Kastanienpark neben dem ärmlichen Markt, wo - wenn wir Joseph Roth Glauben schenken - eine Süßwarenverkäuferin die jungen Männer die Liebe lehrte, zierte bis vor kurzem ein Lenindenkmal. Jetzt steht dort ein klobiges Kreuz zu Ehren der "Opfer der bolschewistischen Repressalien".

Die Häuser in der Hauptstraße von Brody, der früheren Goldstraße, sind nur zwei Stockwerke hoch. Im Erdgeschoß befinden sich unscheinbare Läden, darüber schmiedeeiserne Balkone. In den Schaufenstern liegen Teller und einfache Kleider, aber keine bunten Westwaren wie in manchen Auslagen in Lviv. Viele Menschen sind auf der Straße unterwegs. Nirgend sieht man ein Auto.

An einer Ecke steht ein dreigeschossiges Jugendstilgebäude, in besseren Zeiten vielleicht ein Hotel, mit einem Kaffeehaus im Paterre. Wahrscheinlich schlugen dort einmal österreichische Offiziere die Zeit mit Glücksspielen tot, wie von Roth im Radetzkymarsch beschrieben.

IX.

Die Hauptstraße mündet auf einen weiten Platz. Dort stehen das schmucklose moderne Rathaus und ein Standbild des ukrainischen Natioaldichters Taras Schewtschenko - es ist in der heutigen Ukraine an solchen Orten ebenso unvermeidlich wie früher ein Lenindenkmal. "An dieser Stelle wurden 20.000 Juden von den Deutschen in einem Ghetto zusammengepfercht und nach der Niederlage von Stalingrad ermordet", erzählt die Lehrerin, die uns durch Brody führt. Hinter einem Kinderspielplatz, in der Nachbarschaft häßlicher Wohnblocks, zeigt sie uns die Ruine der steinernen Synagoge von Brody. Der große quaderförmige Bau aus dem 17. Jahrhundert war wie andere Synagogen in Galizien Bestandteil der Festungsanlage. Bis 1968 als Lagerhalle genutzt, verfiel das Gebäude nach einem Brand. Gerüste im Innern stützen das Dach, zeugen von Bemühungen, das Gebäude zu restaurieren. Doch in den letzten Jahren ging das Geld aus und die Baustelle verwaiste.

Vielleicht werden die Broders und Brodskys aus Israel und den USA helfen, deren Vorfahren in dieser Synagoge beteten. Einige haben sich im Mai in Brody getroffen, um ein Denkmal auf dem alten jüdischen Friedhof einzuweihen. Er liegt am Waldrand, von keiner Mauer geschützt. Hinter einem Feldweg stehen dicht beieinander tausende grauer Steine, mannshohe Tafeln, die ganze Lebensgeschichten erzählen. Auf verwitterten Reliefs sind Palmen und Papageien zu erkennen, Szenen aus der Bibel und dem Leben der Verstorbenen. Manchmal ist auf der grauen Rückseite eine deutsche Übersetzung der hebräischen Inschrift zu lesen: "Hier ruht Fräulein Fanni, Tochter des Samuel und der Sali Kristianpoller..." - Kristiampoller, das ist ein Name aus dem ältesten erhaltenen Brief Joseph Roths an seine Cousine Resia: "Dem Kristiampoller habe ich Deine Grüße übergeben; er wäre in den achten Himmel gesprungen, wenn es einen gäbe. Da es aber bekanntlich nur sieben Himmel gibt, so begnügte er sich mit dem siebenten, wo er tausend Lichtlein vor seinen Augen schimmern sah ... Er kämmt sein Haar und putzt und bügelt seine Hosen schon seit drei Wochen. Alles für Lemberg."
In Sowjetzeiten war Brody eine verbotene Stadt. Es war unmöglich, eine Besuchserlaubnis zu bekommen. Jetzt erfahren wir, warum: In einem alten Schloß am Stadtrand unterhielt die Rote Armee bis vor kurzem einen Stützpunkt. Es könnte der Standort einer der beiden Garnisonen gewesen sein, die vor 1914 in Brody stationiert waren.

Viele Kriege sind in diesem Jahrhundert über diese Grenzlandschaft hinweggegangen, ohne die Atmosphäre ganz zu zerstören, die in Joseph Roths Schilderungen aufbewahrt ist. Auf der Rückfahrt nach Lviv schießen plötzlich schwarze, bis an die Zähne bewaff-nete Reiter hinter einer Wegbiegung hervor - ein monumentales Denkmal für die Rote Reiterarmee, die hier 1920 gegen Polen und Ukrainer kämpfte. Der Schriftsteller Isaak Babel, im selben Jahr wie Joseph Roth in Odessa geboren, führte das Tagebuch der Reiterarmee. Sein eigenes Judentum verheimlichend, wurde er zum wichtigsten Zeugen der Massaker an der jüdischen Zivilbevölkerung. Nach dem Krieg schrieb er: "O Brody! Die Mumien deiner zertretenen Leidenschaften hauchten mich an mit ihrem zersetzenden Gift. Schon spürte ich Todeskälte in meinen Augenhöhlen, in denen Tränen erstarrten. Doch trug mich schütterer Galopp hinweg vom zerschrammten Gestein deiner Synagogen."

Auszüge aus diesem Text erschienen 1994 in der TAGESZEITUNG (taz), dem TAGESSPIEGEL und der WIENER ZEITUNG

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