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Reisebilder: Dante in Florenz


Florentiner Inschriften
Dante als Führer durch die toskanische Metropole


von Elke Linda Buchholz

Wer am Bahnhof Santa Maria Novella nach Stunden in überfüllten Zügen erstmals den Boden von Florenz betritt - voller Erwartung auf Schönheit und Liebreiz der "Blühenden" -, der findet sich zwischen nervösen Touristen, hastenden Pendlern und rücksichtslosen Gepäckfahrern in einem unerbittlich lärmenden Chaos. Orientierungslos zögert der Reisende. Soll er zunächst einen Stadtplan kaufen, das Touristeninformationsbüro aufsuchen oder so schnell wie möglich ins Freie entfliehen?

Nicht anders steht betroffen und verwirrt der Dorfbewohner und verstummt im Schauen, betritt die Stadt er bäurisch, unerfahren, heißt es bei Dante in der Divina Commedia (Purgatorio XXVI, 67-70). Offenbar hat sich die Ankunftserfahrung in der Stadt seit über 500 Jahren nicht wesentlich geändert. Man könnte den Vers auf einer Gedenktafel im Bahnhofsgebäude anbringen. So abwegig wäre das nicht. Das Gewimmel der Menschen hier hat durchaus Ähnlichkeit mit den rastlos büßenden Seelen des Fegefeuers.

Vor Zurufen aus den Kreisen des Inferno, Purgatorio oder Paradiso ist man in Florenz nie ganz sicher. Hoch über den Köpfen der durch die Gassen drängenden Touristenmenge hängen an unscheinbaren Häuserecken tatsächlich steinerne Inschrift-Tafeln mit Versen Dantes. Kein Kommentar erklärt sie, nur die kryptischen Kennzahlen ihrer Verszählung verweisen auf den Textzusammenhang. Niemand scheint sie wahrzunehmen, in keinem Reiseführer tauchen sie auf. Im Touristenbüro gibt es zum Inschriftenprogramm keine Informationen.

So unauffällig sind die Tafeln plaziert, daß nur ein Zufall sie ins Blickfeld schiebt, beispielsweise eine Stauung der Fußgängermenge, die sich zwischen Santa Croce und Palazzo Vecchio dahinwälzt. Während eine Stadtführerin ihrer erschöpften Gruppe die Fassade des Palazzo Gondi erläutert, erblickt man gegenüber ein Zitat aus dem XVI. Gesang des Paradieses, Zeile 124-26, zu deutsch: Das Tor, durch das man in den kleinen Kreis eintrat, es hieß nach denen von der Birne. Ein Stadttor ist hier nicht zu sehen, und Birnen? Stadtführer Dante spricht in Rätseln. Wer weiß schon, daß hier einst der erste mittelalterliche Mauerring verlief, der nur wenig über die Grenzen des römischen Florentia hinausgriff. Bereits zu Dantes Zeiten war diese Stadtmauer und mit ihr die Porta Peruzza bedeutungslos geworden, ebenso wie die Familie della Pera mit dem birnengeschmückten Wappen, an die heute noch der Name der Piazza Peruzzi unweit von hier erinnert.

Im Jahre 1284, Dante war gerade 19 Jahre alt, hatte man beschlossen, eine neue Mauer weit ausgreifend um die expandierende Stadt zu errichten. Heute stauen sich die Autos auf den breiten Boulevards, die man in der Gründerzeit an der Stelle des mittelalterlichen Mauerringes anlegte.

Dante hatte noch miterlebt, wie große Bauprojekte seit den 90er Jahren des 13. Jahrhunderts seine Stadt zu verändern begannen. Als man ihn 1302 lebenslänglich aus Florenz verbannte, stand von dem wenige Jahre zuvor begonnenen Domneubau gerade erst die Fassade. Gleichzeitig hatten die Franziskaner den Bau ihrer Großkirche Santa Croce in Angriff genommen, während die Bürgerschaft sich ein repräsentatives Rathaus, den heutigen Palazzo Vecchio, errichtete.

Später, als Dante im Exil an seiner Commedia arbeitete, durchstreifte er in Gedanken die Gassen seiner Stadt, flocht Bauwerke und Personen in den Text ein. Die Neubauten seiner Zeit erwähnte er nicht. Seinem Urahn Cacciaguida legte er in den Mund: Es hat Florenz in seinen Mauern, an denen man noch früh und mittag läutet, zufrieden einst gelebt, schamhaft und mäßig. (Par. XV, 97-99) Diese Verse stehen auf einer Steintafel an der Fassade der ehrwürdigen Abteikirche Badia. Ihre Glocken konnte Dante von seinem Elternhaus aus hören.

Voller Unbehagen registrierte Dante das rasante Wachstum der Stadt. Von neuen Leuten und dem Schnellverdienen ist Hochmut und Vermessenheit gekommen in dich, Florenz, so daß du schon voll Klagen. (Inf. XVI, 73-75) Zu Zeiten der Vorfahren, schreibt er, habe die Bevölkerung von Florenz gerade ein Fünftel gezählt. Heutzutage wohnen in Florenz 393 000 Menschen, gut fünfmal soviel wie zu Dantes Zeiten. Erbarmunslose Haßtiraden richtete er gegen die Einwanderer mit ihrem bäurischen Gestank und ihren betrügerischen Instinkten. Stets brachte ja die Mischung der Personen den Anbeginn des Unheils für die Städte, wie für den Leib die Speisen, die er aufnimmt. (Par. XVI, 52-69) Dante als Fremdenfeind? Angesichts der Ströme finanzkräftiger Touristen würden ihm seine heutigen Landsleute wohl nur mit Vorbehalt zustimmen. Ihr wachsender Ausländerhaß richtet sich gegen afrikanische Straßenhändler, die sich ohne Lizenz und Aufenthaltsgenehmigung einen Anteil vom Tourismuskuchen abschneiden wollen. Als Vucumpra beschimpft man sie, ein verballhorntes vuole comprare? (wollen Sie kaufen?).

Im Hof des Palazzo Vecchio hängt eine Steintafel mit Dantes Seufzer: O wie groß sah ich dort, die untergingen durch ihren Hochmut. (Par. XVI, 109-110) Vanitas, immer anwendbarer Trost, passend auf alle Zeiten, alle Regierenden. Dante selbst war als aktiver Stadtbürger an den politischen Diskussionen seiner Zeit beteiligt. Beim Machtwechsel der herrschenden Parteien wurde ihm sein Engagement zum Verhängnis, zum Grund eines lebenslangen Exils. Kurz vor seiner Verbannung hatte der Dichter einmal zwei Monate lang als gewählter Prior dem Stadtrat angehört. Damals - der Palazzo Vecchio war noch nicht fertiggestellt - versammelten sich die Ratsherren in einem Wohnturm in der heutigen Via Dante. Der erhaltene Turm della Castagna befindet sich in unmittelbarer Nähe von Dantes Geburtshaus und seiner Wohngegend. Man tritt, wenige Schritte abseits der Sehenswürdigkeiten, in ein unspektakuläres, fast verschlafenes Viertel. Gemüseläden, ein Straßenstand verkauft Trippa, frische Kutteln, roh oder gebraten. Direkt darüber eine Inschrift: Es hatte Galigaio in seinem Haus den Schwertgriff schon vergoldet (Par. XVI, 101-102). Von der gegenüberliegenden Hausecke antwortet es: Ein jeder, welcher mit dem schönen Zeichen des großen Herrn sich schmückte ..., bekam von ihm die ritterlichen Rechte, indessen mit dem Pöbel sich verbindet jetzt der, der es mit goldnem Saum getragen. (Par. XVI, 127-32) Anspielungen an längst vergessene Personen, von deren Häusern kaum ein Stein mehr steht. Selbstvergessen, leise murmeln die Worte vor sich hin, zusammenhanglos, arrogant. Da hilft auch der Blick ins Buch nicht weiter, die mit Anspielungen gespickten Verse halten keinerlei Erklärung bereit.

Hochmütig warnte Dante selbst seine Leser, sie könnten für seine Reise durch Hölle und Paradies nicht hinreichend vorgebildet sein: O ihr, die ihr in einem kleinen Kahne voll Sehnsucht, zuzuhören, auf den Spuren mein Boot verfolgt, das hinzieht im Gesange, kehrt heim zu eurem eigenen Gestade, treibt nicht aufs Meer hinaus, ihr könntet draußen, indem ihr mich verliert, verlorengehen. (Par. II, 1-6) Mit verirrten Städtetouristen rechnete der Autor natürlich nicht. Seine Sorge galt eher dem theologisch-philosophisch überforderten Leser.

Schon bald nach dem Tod des Poeten schien der Text den Florentinern ohne Kommentar unverdaulich. Der Dante-Biograph Giovanni Boccaccio erhielt 1373 den Auftrag, die Gesänge in Florenz erstmals öffentlich vorzutragen und zu erläutern. Die Vorlesungen fanden täglich außer sonn- und feiertags statt und hätten ein Jahr lang gedauert, wäre Boccaccio nicht vorher gestorben. Mit diesem Vortragszyklus begann die Rehabilitierung Dantes in seiner Geburtsstadt. Heute kann jedes Schulkind wenigstens die Anfangsverse der Commedia auswendig hersagen: Nel mezzo del cammin di nostra vita...

Als man die Texttafeln zu Beginn des 20. Jahrhunderts anbrachte, wurde auf erklärende Kommentare verzichtet. Für ausländische Touristen gab eine findige Autorin schon bald einen kleinen englischsprachigen Führer heraus, der die Zitate übersetzt und erläutert. Die meisten der Inschriften markieren im alten Zentrum die Wohnstätten von ehemals berühmten oder berüchtigen Personen, gegen die Dante polemisierte. Das Gedenktafelprogramm läßt sich über weite Strecken als eine Topographie des innerstädtischen Machtgerangels lesen. Kein Ort fand sich offenbar für das unversöhnliche Gesamturteil des Dichters über Florenz, das in dem Ausruf gipfelt: Und wenn du selber dich genau betrachtest, so siehst du, daß du jener Kranken gleichest, die keine Ruhe findet in den Kissen und sich in Schmerzen auf dem Lager wendet. (Purg. VI, 148-151)

Trotz solch schonungsloser Kritik an seiner Heimatstadt hoffte der verbannte Dichter, eines Tages zurückkehren zu können. Im Florentiner Baptisterium wollte er, wo ich getauft, den Dichterkranz empfangen (Par. XXV, 8). Der Wunsch blieb unerfüllt. Dante ist in Ravenna gestorben, wo seine sterblichen Überreste später unter ungeklärten Umständen verschwanden.

Florenz versuchte den berühmten Sohn posthum heimzuholen. In Santa Croce thront seit seinem 500. Todestag neben den Gräbern von Michelangelo und Macchiavelli ein protziges, aber leeres Schaugrab, auf dem ein sitzender Dante verdrossen vor sich hinbrütet. In großen Lettern ehrt die Inschrift den Dichter und die, die ihn ehrten. Draußen vor der Kirche rafft ein zornig-entschlossener Dante seinen Mantel so undantehaft wie möglich, in der Attitüde eines Generals, wie Fontane 1874 fand.

Hochburg der Gedenkimitate ist der Bereich der Casa di Dante. 1911 wurde das pseudomittelalterliche Dichtergeburtshaus errichtet, so geräumig und hell, wie es bestimmt nie war. Ob Dante überhaupt auf diesem Grundstück oder eher nebenan geboren wurde, kann heute niemand mehr so genau sagen. Egal, hier werden Leben und Werk des Dichters anhand von Reproduktionen vorgestellt und Zeugnisse jahrhundertelanger Danteverehrung präsentiert. Praktischerweise kann man dort eine Gesamtausgabe der Divina Commedia im Format einer Zigarettenschachtel erstehen. Nur wenige Schritte sind es zum Kirchlein Santa Margherita de´ Cerchi, wo die Beatrice Dantes bestattet ist. Im Kircheninneren regen bunte Ölgemälde die Phantasie der Besucher an: hier vor der Kirche soll die Inspiratorin dem Dichter begegnet sein. In einer Gasse weiter dem Dom zu prangt Dantes markantes Profil als Neonleuchtreklame an einem Restaurant. Möglicherweise hat er hier einst gegessen.

Dagegen ist die Spur der Inschriftentafeln fast unsichtbar. Hat man aber einmal die Fährte aufgenommen, zeigen sich allenthalben auch andere Texte an den Häuserwänden. Die Bankiers sind die Diebe unserer Zeit, zitiert ein Graffiti den Amerikaner Ezra Pound, der seine Cantos nach dem Vorbild der Divina Commedia dichtete. Sperriger und poetischer als gewöhnliche Gedenktafeln haken sich die Textfragmente der Commedia im Gedächtnis fest. Sie werfen Fragen auf, regen Phantasie und Neugier an, indem sie so fremd in den modernen Straßenraum ragen. In einer Stadt, wo sich alle authentischen Überreste Dantes längst verloren haben, bilden die Worte die haltbarste Erinnerung. Auch wenn es unlängst hieß, man habe die Asche des Dichters in der Florentiner Nationalbibliothek wiederaufgefunden...

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Erstdruck gekürzt in der WIENER ZEITUNG vom 14. März 1997

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