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THEATERKRITIK

Enigma
von Eric-Emmauel Schmitt. Premiere am Renaissance-Theater am 11. März 2004. Regie: Volker Schlöndorff. Mit Mario Adorf und Justus von Dohnányi


Diskurstheorie auf dem Boulevard


von Michael Bienert

Ein Theaterstück, dessen Grundsituation darin besteht, dass ein Journalist einen Literaturnobelpreisträger interviewt, lässt nichts Gutes erwarten. Wenn es dann auch noch tiefgründelnd Variations Enigmatiques heißt, eingedeutscht Enigma, dann verheißt das erst recht eine pseudophilosophische Schaumschlägerei. Kreist der Diskurs der beiden Protagonisten zudem um das Thema Liebe, muß man auf intellekuell verbrämte Männerfantasien gefaßt sein. Und wirklich: Das Stück des französischen Erfolgautors Eric-Emmanuel Schmitt ist auf einem Frauenopfer aufgebaut. Denn ein leibhaftiges, sich den männlichen Projektionen widersetzendes Weib würde die Gedankenspiele des Autors und seiner Figuren nur stören.

Wenn wenigstens die Liebe ein Rätsel bliebe! Aber Schmitt bedient sich einer eiskalten Enthüllungsdramaturgie, die das Geheimnis des Stücks in genau kalkulierten Schritten lüftet, bis am Ende gar nichts Enigmatisches, also Unerklärliches, Unauflösliches mehr übrig bleibt. Erst gaukelt er uns vor, der Provinzjounalist Erik Larsen wolle dem betagten Schriftsteller Abel Znorko eine Homestory entlocken. Dazu reist Larsen nach Nordnorwegen ins Land der Mitternachtssonne, wo das weltfremde Genie auf einer einsamen Insel zurückgezogen lebt. Znorko hat jüngst einen Liebesbriefwechsel mit einer fernen Geliebten drucken lassen, und Larsen stellt scheinbar naiv die Frage nach der Autorschaft der Briefe. Schritt für Schritt gibt Larsen preis, dass er aus derselben Stadt kommt wie die anonyme Briefschreiberin, dass er sie kennt, dass er sie geheiratet hat, dass sie inzwischen tot ist. Auf jede Enthüllung reagiert Znorko anders: Mal abweisend, mal neugierig, mal schroff, mal wütend, mal zu Tränen gerührt - bis sich am Ende beide alle ihre Geheimnisse entrissen haben.

Darin vor allem liegt wohl der Grund für den Riesenerfolg des Stücks, das älteren Film- und Bühnenstars reichlich Futter bietet, ein virtuoses Wechselbad der Gefühle auszustellen. In Paris hat Alain Delon den Znorko gespielt, am Broadway Donald Sutherland, in Schweden Max von Sydow, am Renissance-Theater in Berlin ist es nun Mario Adorf. Und selbstverständlich macht es Spaß, diesem Urviech von Mann zwei Stunden lang zuzusehen, wie er poltern kann und sich die Freuden der freien Liebe sich auf der Zunge zergehen läßt, wie er plötzlich sentimental wird und die Contenance verliert. Adorf gibt das Schlitzohr, seine Paraderolle, doch er bleibt im Stück der Genasführte, matt gesetzt durch den weniger charismatischen, aber präzise die Folterwerkzeuge ansetzenden Justus von Dohnányi.

Volker Schlöndorff als Regisseur leiht dem Abend seinen zugkräftigen Namen, ohne dass die sorgfältige Inszenierung deswegen eine besonders originelle Handschrift erkennen ließe; ähnliches gilt für das Bühneninterieur von Werner Huttlerli, das den Festungscharakter der modernistischen Dichtervilla diskret zum Ausdruck bringt. Der Autor aber gibt sich am Ende der Lächerlichkeit preis, weil er die Enthüllungsschraube bis über den Anschlag dreht: Der Journalist Larsen gesteht endlich, selbst der Verfasser der schmachtenden Geliebtenbriefe zu sein, die der Großschriftsteller zehn Jahre lang ahnungslos beantwortet hat. Im Schreiben lebt die gemeinsame Geliebte weiter, nur in der Fiktion hat die wahre Liebe ihren Ort. Deshalb verabreden die beiden Männer, sich weiter Liebesbriefe zu schreiben. Damit triumphiert die französische Diskurstheorie in diesem Boulevardstück über jede ernst zu nehmende Psychologie. Rätselhaft bleibt nur eines: Warum spielt Mario Adorf solchen Schmus statt einer wirklich tollen Theaterrolle?

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 15. März 2004

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