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Michael Bienert


THEATERKRITIK

Tag der Gnade
von Neil La Bute. Regie: Thomas Schulte-Michels. Premiere am 12. September 2003. Mit Dagmar Manzel und Robert Gallinowski.
Die Juden
von Gotthold Ephraim Lessing. Regie: George Tabori. Premiere am Berliner Ensemble am 13. September 2003. Mit Markus Meyer, Axel Werner, Hanna Jürgens, Therese Affolter u. a.


Was weh tut

von Michael Bienert

In dem Augenblick, als Ben die Zwillingstürme der New Yorker World Trade Centers zusammenstürzen sieht, wittert er die Chance seines Lebens. Wenn er an diesem Tag spurlos verschwände, würden ihn seine Familie und die Arbeitskollegen als Terroropfer in bester Erinnerung behalten. Er selbst könnte mit seiner Geliebten ein ganz neues Leben beginnen.

Doch das ist nur eine kurzlebige Illusion, denn die heimliche Affäre zwischen Ben und seiner Chefin ist längst an ihrem Totpunkt angekommen. Die Katastrophe vor dem Fenster zögert die Trennung lediglich um ein paar Stunden hinaus. Zeit für ein Kammerspiel, für eine finale Paarschlacht auf rundum weiß ausgepolsterter Bühne.

Neil LaButes Stück Tag der Gnade spielt am Tag nach dem 11. September 2001. Pünktlich zwei Jahre später erlebte es nun seine deutschsprachige Erstaufführung in Berlin. Die Pointe des Stücks liegt im Mißverhältnis zwischen den Schreckensereignissen, die nur indirekt angesprochen werden, und den privaten Quälereien des Paares. Es ist bizarr, wie die beiden angesichts der Weltlage über die Stellungen beim Geschlechtsverkehr streiten und die Frau giftet, sie stelle dabei im Kopf Listen mit Weihnachtsgeschenken zusammen.

LaButes Figuren sind von Panik getriebene Durchschnittsamerikaner, so selbstbezogen, so emotional und moralisch verkümmert, dass sie weder ihre eigene Lage noch die der Welt draußen erfassen. Statt klare Konsequenzen aus den Katastrophen im Kleinen und Großen zu ziehen, wursteln sie weiter wie gewohnt. Kaum anders als das Privatleben, so die stille Botschaft des Abends, läuft das wohl auch in der großen Politik. Wie Ben über den Terroranschlag sagt: "Dies ist eine nationale Katastrophe - bis die Yankees das nächste Mal Meister werden".

Am Deutschen Theater erlebt man das Stück in einer straffen, handwerklich tadellosen Inszenierung von Thomas Schulte-Michels, hervorragend besetzt mit einer toughen Dagmar Manzel und dem unrasierten Kraftburschen Robert Gallinowski. Dennoch lassen einen die Figuren kalt. Sie sind zu gefühlsarm, schäbig und dumm, um unser Mitempfinden zu wecken. Zur tragischen Wirkung fehlt Abby und Ben die moralische Fallhöhe. Aber so ist das in der zeitgenössischen Dramatik. Welcher Autor wagt es noch, einen Menschen zu schildern, der sich hehre Ziele setzt und damit Schiffbruch erleidet?

Für einen Klassiker wie Lessing lag gerade darin ein Schlüssel zur dramatischen Wirksamkeit. Sein frühes Stück Die Juden hat George Tabori auf der kahlen Probebühne des Berliner Ensembles in historischen Kostümen einstudiert, so als gebe ein Wandertheater aus dem 18. Jahrhundert ein Gastspiel. Die edle Hauptfigur ist ein Vorgänger des weisen Nathan. Der namenlose Reisende rettet einem antisemitischen Baron (Axel Werner) bei einem Raubüberfall das Leben und überführt die als Juden maskierten christlichen Übeltäter. Eine geraubte Schnupftabaksdose verrät sie, die aus den Händen der herrlich schrulligen Bedienten Lisette (Therese Affolter) in den Besitz des wunderbar versoffenen Dieners Christoph (David Bennent) gelangt. Dankbar bietet der Baron dem Retter sein Vermögen und die Hand seiner Tochter (Hanna Jürgens) an.

Knapp zwei Stunden lang gleicht die Inszenierung einer braven Übung in Theatergeschichte, wird Lessings Aufklärungsstück einem geduldigen Publikum dargeboten, das freilich unverdächtig ist, dem holzschnittartigen Antisemitismus einer Zeit anzuhängen. Dann aber kommt die letzte Szene, die den Abend rettet. Als der Reisende bei einem Gartenpicknick gesteht, er sei selber Jude, versteinert der Baron, die Tochter rückt von ihm ab als habe er ein ansteckende Krankheit, sein Diener greift den Juden unverschämt an. Was bei Lessing bereits angelegt ist, das Scheitern aller Aufklärungsbemühungen, mündet bei Tabori in eine lange, stumme Verzweiflungsszene des einsam zurückbleibenden Reisenden. Der junge Schauspieler dreht sich hilfesuchend zu dem greisen Regisseur, der den ganzen Abend in einem Sessel am Rand des Spielfeldes saß und regungslos wie Gottvater persönlich auf das Geschehen blickte. Auch von dort ist kein Trost zu erwarten. In einem spontanen Wutanfall zerschmeißt der gute Jude endlich das kostbare Teegeschirr der Christengesellschaft. Wie tut das weh!

Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 17. September 2003

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