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Michael Bienert




Lektüre der Straßen: Almstadtstraße, früher Grenadierstraße


Die Straße schweigt
Martin Beradts Roman Beide Seiten einer Straße

von Michael Bienert

"Wirklich traf Frajim Feingold zu Beginn des Herbstes 1927, an einem wenig schönen Tag, in der deutschen Hauptstadt ein. Er kam unmittelbar aus einer Judengasse von Piaseczno und wußte genau, in welche Gasse er hier zu gehen hatte; es gab nur eine. In Amsterdam gibt es ein Viertel für Ostjuden, in New York füllen sie ganze Stadtteile, in London lange Straßenzüge. Hier, in einer Stadt von vier Millionen Einwohnern, einer der größten und bedeutendsten der Welt, waren so ausgeprägt nur wenige Gassen; die wichtigste betrat er. Dreitausend Menschen hatte sie bisher beherbergt, jetzt sollte es einer mehr sein."

Frajim erleidet dasselbe Schicksal wie tausende junger Juden aus Osteuropa, die auf der Flucht vor dem Militärdienst, vor Progromen oder der Revolution in Berlin strandeten. Die Hoffnungen seiner Angehörigen, daß er im Westen schnell reich werden und sie nach Deutschland oder Amerika holen könne, erfüllen sich nicht. Die Mildtätigkeit seiner Vermieterin und Gelegenheitsjobs in den armseligen Läden der Gasse bewahren ihn gerade vor dem Verhungern. Er verläßt sie nur, um den alten Abraham Fischmann auf seiner Betteltour durch die reichen jüdischen Geschäfte der Innenstadt zu begleiten. Fast sehnt sich Frajim nach einem Pogrom, das es ihm erlauben würde, zu seiner Familie zurückzukehren, ohne sein Gesicht zu verlieren. Als Begleiter eines erblindeten Großgrundbesitzers findet er den Weg zurück nach Polen, "einer, der eingesehen hatte, die Lebensläufe des vergangenen Jahrhunderts wiederholten sich nicht, hier wurde kein Einwanderer aus Piaseczno mit nichts in der Tasche als lumpigen drei Mark binnen kurzer Zeit zum großen Mann, auch wenn seine Eltern ihn dazu bestimmt hatten."

Doch nicht allein um die Desillusionierung eines einzelnen geht es in dem Roman Beide Seiten einer Straße von Martin Beradt (1881-1949), der im Berlin der zwanziger Jahre ein Doppelleben als Rechtsanwalt und Schriftsteller führte. Held des Romans ist die exotische Randgruppe der Ostjuden in ihrer sozialen Nische. Ein kunstvolles Gewebe von Einzelschicksalen, Episoden und Geschichten bildet den kulturellen Mikrokosmos der Gasse nach. Der Leser erlebt sie aus der Perspektive ihrer ostjüdischen Bewohner, als eine Insel des Elends, an die sie sich anklammern, weil sie inmitten der feindlichen Umwelt einen Rest von heimatlicher Geborgenheit bietet.

Mit der Arbeit an dem Roman kehrte Beradt zu seinen eigenen Wurzeln zurück. Als Kind strenggläubiger jüdischer Eltern geboren, wuchs er in der Jüdenstraße 51/52, dem Geburtshaus des Nazi-Märtyrers Horst Wessel, auf. Zwanzig Jahre lang arbeitete er an seinem Buch, das ein vielschichtiges Bild von der Soziologie, Mentalität und Religiosität der Ostjuden in Berlin zeichnet. Bald nach seiner Emigration aus Deutschland im Jahr 1939 schloß Beradt den Roman ab. Aber es gelang ihm trotz wiederholter Bemühungen nicht, einen Verlag dafür zu finden. 1946 schreibt Beradt aus New York an einen Bekannten in Palästina über die Hintergründe der Ablehnung: "Eine hiesige jüdische Buchorganisation wollte ihn nicht veröffentlichen, wie ich unter der Hand erfuhr, weil er antisemitisch sei, das heißt offenbar, daß er nicht aus Marzipan besteht; ich hatte gute und schlechte Juden geschildert und wendete die Mittel des modernen Romans an Stelle der Sentimentaliät an, die so viel in ostjüdischen Geschichten zu finden ist."

Erst 1965 konnte Beradts Witwe einen westdeutschen Kleinverlag dazu bewegen, das Buch zu drucken - gekürzt um das Nachwort, das von der Austreibung der letzten jüdischen Bewohner der Gasse durch die Nationalsozialisten berichtet. Erst 1993 hat die Weddinger Buchhandlung Mackensen den Roman vollständig und unter dem authentischen Titel herausgebracht, ergänzt durch ein hervorragendes Nachwort von Eike Geisel.

Die jüdische Gasse hat im Roman keinen Namen, doch welche Straße als Vorlage diente, darüber besteht kein Zweifel: Es ist die Grenadierstraße, die in den Zeitungsberichten der frühen zwanziger Jahren als ostjüdisches Ghetto beschrieben wird - ein märchenumwobenes Schtetl für die einen, ein gefährlicher Krankheitsherd inmitten der Großstadt für die anderen. Ihre Bewohner wurden deportiert und vergast, ihr Name zu DDR-Zeiten ausgelöscht, doch nährt diese verschwundene Straße das Bild, das sich Berliner wie Touristen heutzutage vom Scheunenviertel machen, wie keine andere. Die historischen Fotos von ostjüdischem Leben in Berlin, inzwischen in hohen Auflagen im Umlauf, wurden fast alle in der Grenadierstraße aufgenommen. Nur hier wurde das Straßenbild für kurze Zeit von hebräischen Schriftzeichen, jüdischen Kneipen und Betstuben, vom Altkleider- und Eierhandel, vom bärtigen Gefolge durchreisender Rabbiner, vom jiddischen Idiom gefärbt.

Die Oranienburger Straße, heute fälschlich dem Scheunenviertel zugerechnet, bildete zu dieser Welt einen Gegenpol: Die dort wiederaufgebaute Neue Synagoge war das religiöse Zentrum des nicht-orthodoxen, in Berlin längst heimisch gewordenen Judentums. Viele assimilierte jüdische Bürger sahen mit Mißfallen auf das ostjüdische Treiben in ihrer Nachbarschaft. Mußten sie doch erleben, wie die antisemitische Propaganda Stimmung gegen sie machte, indem sie sie mit dem fremdartigen Erscheinungsbild der Ostjuden identifizierte.

Ein richtiges Ghetto, wie es manche Bilder suggerieren, war die Grenadierstraße nie. Nur etwa ein Drittel ihrer Bewohner waren Juden, und schon im Jahr 1927, in dem Beradts Roman spielt, begann sich ihr exotisches Flair zu verlieren. Viele Ostjuden wurden abgeschoben, manchen gelang die Reise nach Amerika, wenige wurden Berliner.

Was blieb, war der Mythos vom jüdischen Schtetl in der Stadt. "Amerikareisende, die New Yorks Bowery genau studiert haben, kommen nach Berlin, lassen sich durch das jüdische Viertel führen und sind enttäuscht, hier nichts gleichartiges zu finden. So wie den Amerikareisenden geht es zuweilen den Berlinern aus anderen Bezirken auch. Sie haben eine Vorstellung von der Beschaffenheit der jüdischen Gasse, diese Vorstellung wird von Erzählungen genährt, aber wie selten gelangt ein Bewohner des Kurfürstendamms oder des Bayerischen Viertels nach der Grenadierstraße und wieviel seltener sieht er diese Gegend anders als in fünf Minuten, wenn das Auto durch aufgescheuchte Scharen spielender Kinder sich den Weg sucht." Das Zitat beschreibt die Erfahrung mancher Touristen des Jahres 1994 - aber es stammt aus dem "Israelitischen Familienblatt" von 13. August 1931.

In DDR-Zeiten wurde die Grenadierstraße in Almstadtstraße umbenannt, eine verspätete Attacke gegen den "preußischen Militarismus", mit der fatalen Folge, daß der letzte Anhaltspunkt für die jüdische Geschichte der Straße verschwand. Der Name Almstadt soll an ein Opfer des kommunistischen Widerstandes gegen Hitler erinnern. Da er fast unbekannt, die Straße selbst zu unbedeutend ist, forderte bisher niemand, sie rückzubenennen.

Die Sanierung in den achtziger Jahren hat die Almstadtstraße in eine trostlose Wohnstraße verwandelt, deren Aufgeräumtheit jede Erinnerung erstickt. Zwischen geglättete Mietshausfassaden aus der Gründerzeit wurden Plattenbauten gesetzt. Es gibt fast keine Geschäfte, und neben den zwei geschlossenen Reihen parkender Autos zeigt sich selten ein Passant. Auch die Galerie "Weißer Elefant" zieht außer zu Vernissagen kaum Besucher in die Straße. Die Grenadierstraße war erfüllt von Begegnungen, Klatsch, Gerüchten und frommen Geschichten. Die Almstadtstraße bleibt stumm, als hätten die Gardinen in den Fenstern die Gewalt von Knebeln.

Einzig ein marodes Eckhaus an der Einmündung der Schendelgasse erinnert an die Romantik des Verfalls, die sie vor der Sanierung besessen haben mag. Als ich es fotografiere, tippt mich ein blonder Junge an: "Kostet zwanzig Mark." Er wohne in dem Haus, erklärt er, und er habe diese Woche schon fünf Spaziergänger dabei ertappt, wie sie es ablichteten.

Mangels anderer Gelegenheiten krallt sich die Sehnsucht nach Spuren der Vergangenheit an dieser rissigen Fassade fest. Wer mehr finden will, muß schon kriminalistisch begabt sein wie mein Stadtführerkollege Matthias Rau von "Stattreisen". "Den Prellstein kenn ick", sagt er eines abends und deutet auf das historische Foto eines jüdischen Bücherverkäufers in einem Hauseingang. Und wirklich: Der Prellstein ist noch da, und das Adreßbuch von 1923 weist eine "Talmud Thora Schule" als Alteigentümer des Hauses in der Almstadtstraße 16 aus - ein passender Ort für einen Bücherstand mit religiöser Literatur. Weitere Nachforschungen ergeben, daß ein Mieter des Hauses sich mit dessen Geschichte befaßt und im Hinterhof ein Denkmal errichtet hat: Ein Rasenbeet in der Gestalt eines Davidsterns, mit einem Steinhaufen in der Mitte, wie man sie auf jüdischen Begräbnisplätzen findet.

Aber man kann sich nicht mit jedermann in die Ruhegarten der Mieter des Hauses drängen, und so wäre, wenn schon nicht eine Umbenennung, ein Hinweis auf den alten Namen an den Straßenschildern angebracht. Auch das Motto von Martin Beradts Roman sollte dort zu lesen sein: "Vom Morgen bis zum Abend kann die Welt zerstört werden."

Erstdruck in DER TAGESSPIEGEL vom 19. Juni 1994

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