Queer View: Es gibt Filme, die auf den ersten Blick seriös wirken, und wenn man sie näher betrachtet, sind sie nichtssagend und leer. Bei Hustler White ging es mir genau umgekehrt. Euer Film wirkt zunächst albern und verspielt, aber im Nachhinein kommen ein paar ernsthafte Anliegen zum Vorschein. Ich denke da vor allem an die Nummer zwischen dem beinamputierten Stricher und dem Fetischisten, der auf Amputationen steht. Wie ihr das gezeigt habt, sah das völlig alltäglich aus. Da gab es überhaupt nicht diesen Vorzeige-Effekt – schaut mal, wie eklig, wie pervers... War diese Normalisierung eure Absicht? Ist Hustler White am Ende sogar ein seriöser Film mit einer Botschaft?
Bruce LaBruce: Ja, meine Gedanken gehen generell dorthin,
extreme Dinge zu normalisieren. Sie so aussehen zu lassen, dass die
Zuschauer denken, sie treffen alte Bekannte. Und normale, unauffällige
Menschen haben ja oft extreme sexuelle Phantasien. Was das ernste
Anliegen betrifft, denke ich, du hast recht, viele Menschen haben mich
auf diese ernsten Aspekte hingewiesen. Ich denke ohnehin, dass Homosexualität
generell etwas sehr Tragisches ist. Ich meine, die Rolle, die Schwule
in der Welt einnehmen, als sehr kleine Minderheit, die von einem sehr großen
Teil der Bevölkerung verachtet wird. Homosexuelle sind sehr
verbittert und wütend, und einige von ihnen kommen darüber hinweg.
Das erklärt den tragischen und seriösen Unterton meines Films.
Queer
View: Aber schwule Männer werden doch oft wegen ihrer Promiskuität
beneidet. Ihnen bieten sich viel mehr Gelegenheiten zum Sex.
Bruce LaBruce: Wenn man die Vorteile seines Andersseins erkennt, bieten sich einem viele Möglichkeiten, die andere nicht haben.
Queer View: Dazu kommt noch die Solidarität.
Bruce LaBruce: Nun ja, daran habe ich nie so richtig geglaubt. Ich denke, dass viele Homosexuelle ihre Identität nur dadurch gewinnen, dass sie sich der schwulen Gemeinde anpassen – die dann oftmals gar nicht so aufregend oder gar interessant ist.
Queer View: Ob aufregend oder nicht: Je mehr Probleme du hast, umso mehr kannst du mit ihnen wachsen.
Bruce LaBruce: Ja, absolut. Aber ich denke immer noch, dass das Leben der meisten Schwulen tragische Züge trägt.
Queer View: Das klingt sehr nach Selbststilisierung.
Bruce LaBruce: Hm, ich weiß nicht so recht. Ich denke, die Missbilligung in unserer Kultur hat einen unbewussten Einfluss, wenn du heranwächst, und es gibt eine legitime Wut bei den meisten Schwulen. Ich will nicht sagen, dass so etwas dein Leben bestimmen muss, dass es die Oberhand gewinnt. Man kann das Beste daraus machen. Aber das Problem ist immer noch da. Und das ist der Grund, weshalb Schwule so fürs Kino schwärmen, für große tragische Filme wie Douglas Sirks Imitation of Life oder die von Fassbinder, denn sie wollen die Tragödie ihres Lebens zelebrieren.
Queer View: Ihr habt den Film gemeinsam inszeniert. Wer hat was gemacht? Ich kann mir vorstellen, dass Bruce für die Boshaftigkeiten zuständig war und Rick für die Menschlichkeit.
Rick Castro: Bevor wir darüber reden, noch etwas zu deiner ersten Frage. Ich denke, dass Bruce und ich bei den sexuellen Situationen völlig einig darüber waren, dass wir sie als etwas Selbstverständliches darstellen würden. Nicht als Problem, das wir ausschlachten. Diese Menschen versuchen ihre Phantasien zu realisieren. Ich bin froh, dass du darauf hinweist. Und was den Amputierten betrifft... Viele Leute kamen direkt auf mich zu und sagten, wie hässlich sie das fanden. Ich sagte, er hätte doch einen schönen Körper, und sie sagten, so etwas wollten sie nicht sehen. Es war uns wichtig, Formen der Sexualtität zu zeigen, die über das übliche Penetrieren hinausgehen. Was die Tragik der Homosexuellen angeht, muss ich Bruce allerdings total widersprechen.
Queer View: Nun ist die Lage in den USA auch härter. Als Mitteleuropäer wird man nicht mit einer so aggressiven Homophobie konfrontiert.
Bruce LaBruce: Ich halte Homophobie für absolut verständlich und natürlich. Sie ist absolut und überall präsent.
Rick Castro: Ich würde sagen, dass Bruce sich vielleicht persönlich mehr zur Tragödie hingezogen fühlt als ich, aber ich glaube nicht, dass das etwas mit Schwulsein zu tun hat. Eher mit der Trinkerei.
Bruce LaBruce: Inzwischen ist es Heroin (lacht).
Rick Castro: Noch etwas zu der Frage, wer was gemacht
hat: Ich bin Fotograf und habe die Stricher beobachtet, die fünf
bis sechs Jahre lang meine Modelle gewesen sind. Dann habe ich Bruce
ein paar Videos von den Jungs gezeigt, und er machte den Vorschlag, einen
Langfilm über sie zu drehen. So begann unsere Zusammenarbeit.
Wir schrieben das Drehbuch an vier Tagen in Palm Springs. Und dann
drehten wir den Film in zehn Tagen. Ich bestellte die Models, die
ich als Fotograf aufgenommen hatte, zu einem Casting. Es gefiel mir
auch sehr, Bruce durch seine Szenen zu führen.
Bruce LaBruce: Wir haben uns viele Probleme während der Dreharbeiten dadurch erspart, dass wir alles mit dem Kameramann im Voraus geplant haben. So gab es kaum Diskussionen während der Dreharbeiten.
Rick Castro: Wir sind verschieden im Temperament, aber wir hatten dieselben ästhetischen Vorstellungen bei diesem Projekt.
Queer View: Fast der gesamte Film ist bei Tageslicht gedreht worden. Hatte das mit dem niedrigen Budget zu tun, oder wolltet ihr damit einen optimistischen Ton treffen?
Rick Castro: Nein, wir haben das so gemacht, weil die Stricher ihre Geschäfte am Tag erledigen. Am Abend übernehmen dann die drag queens den Santa Monica Boulevard. Außerdem wollten wir von der Vorstellung wegkommen, dass Stricher nachts im Geheimen arbeiten. Und dass sie blutjung sind. Viele unserer Darsteller sind über dreißig, oder sogar schon tief in den dreißigern. Und die Kunden sind nicht alle alt und hässlich.
Bruce LaBruce: Was das Tageslicht angeht, so wollten wir, obwohl die Handlung sich über einen unbestimmten Zeitraum von vielleicht mehreren Monaten abspielt, den Eindruck erwecken, es handle sich nur um einen Tag.
Queer View: War es nicht schwierig, Tony Ward zu bekommen? Ich kann mir vorstellen, dass er sehr teuer ist nach seinen Auftritten in Videos wie Justify My Love.
Bruce LaBruce: Er hat mal für Rick Modell gestanden. Rick kennt ihn seit den 80er Jahren und Tony hat das alles für wenig Geld gemacht.
Rick Castro: Ursprünglich hatten wir die Hauptrolle mit einem Stricher besetzt. Er hieß Monty, daher kam auch der Rollenname. Und dann – soll ich ihm das erzählen?
Bruce LaBruce: Nur zu.
Rick Castro: Eine Woche vor Drehbeginn stellte sich heraus, dass er mehrere Verfahren am Hals hatte, er hatte ein Mädchen geschwängert und ein anderes geheiratet, und er stahl einem mit uns befreundeten Schauspieler die Gitarre und Gemälde von John Wayne Gacy. So beschlossen Bruce und ich, dass er nicht sehr zuverlässig sein würde, und Tony war ohnehin meine erste Wahl. Ich dachte, er hätte nicht den Mut, diese Rolle zu spielen, daher habe ich mich nicht gleich an ihn gewandt. Aber nachdem der erste Schauspieler ausfiel, ließ ich ihm mein Script zukommen. Er rief sofort zurück und erzählte uns, er wolle das unbedingt machen. Das war natürlich großartig.
Queer View: Ich war sehr überrascht, denn in den Videos wirkt er sehr kalt und hölzern und in Hustler White spielt er recht animiert und humorvoll.
Rick Castro: Das finde ich auch, und das liegt daran, dass er das Drehbuch richtig verstanden hat. Er kannte mich schon seit Jahren, daher fühlte er sich sicher und vertraute mir. Mit Bruce hat er sich auch sehr gut verstanden. Er hatte überhaupt keine Angst, dass wir irgendetwas unternehmen könnten, das ihm nicht passte.
Bruce LaBruce: Ich glaube, das ist der Grund, warum er das alles gemacht hat. Er hat so viel als Model gearbeitet und war immer stoisch. Jetzt auf einmal fühlte er, dass er etwas anderes ausprobieren könnte. Er hat sogar manchmal versucht, die Regie selbst zu übernehmen.
Queer View: Es gab in dem Film eine deutliche Anspielung auf Andy Warhols Flesh, wenn Tony in der Badewanne mit dem kleinen Jungen spielt. War das sein eigenes Kind?
Rick Castro: Es war das Kind seiner damaligen Freundin. Er sagte, er wüsste nicht genau, ob es seins sei. Es sah eigentlich nicht aus wie er, aber er vermutet, es sei von ihm. Noch etwas zu Tony. Ich glaube, dieses Projekt bedeutet mehr für ihn, als seine Modelkarriere. Seine Modelkarriere, sagt er, ist bullshit. Er macht das des Geldes wegen. Uns gegenüber war er sehr großzügig mit seiner Zeit.
Bruce LaBruce: Er erschien nicht nur am Set, wenn er in einer Szene gebraucht wurde, sondern kam auch, um einfach nur die Dreharbeiten zu beobachten.
Queer View: Euer Film ist zu heiß fürs Fernsehen, aber er ist auch kein richtiger Hardcore-Porno. Wollten die Darsteller nicht mehr bieten, oder wolltet ihr nicht mehr zeigen? Gab es künstlerische Gründe für die Zurückhaltung bei den entsprechenden Szenen?
Rick Castro: Viele unserer Models waren zu nervös, um richtig zu funktionieren. Wir haben niemanden gedrängt, wir haben einfach gesagt, es ist gut so. Übrigens wurden, wenn es erforderlich war, Kondome benutzt.
Bruce LaBruce: Ich wollte bewusst keine expliziten sexuellen Darstellungen. So langsam möchte ich davon wegkommen. Einige Leute waren tatsächlich enttäuscht und haben mich gefragt: "Warum machst du keinen Sex mehr?"
Rick Castro: In Sundance haben wir mehr Zuschauer durch die Kuss-Szene verloren als durch die stumping-Szene. Die Leute waren es nicht gewohnt, Bruce so zu sehen.
Queer View: Das ist im deutschen Film nicht anders. Es gibt immer häufiger positive schwule Charaktere, aber man sieht sie nie in wirklich zärtlichen Momenten.
Rick Castro: Waren eigentlich die Anspielungen auf die übrigen Filme zu erkennen?
Queer View: Von Flesh abgesehen? Nun, die Einleitung der Rückblende war aus Boulevard der Dämmerung und die Aussprache am Strand aus Was geschah wirklich mit Baby Jane?. Mir ist nicht klar, was Euer Film mit Tod in Venedig zu tun hat.
Bruce LaBruce: Ich habe mein Haar wie Professor Aschenbach
schwarz gefärbt.
Queer View: Ja, richtig. Aber du siehst nicht ganz so vertrocknet aus. Du hast ein bissschen wie Udo Kier ausgesehen.
Bruce LaBruce: Das ist interessant, denn eine Freundin hat mir dasselbe gesagt.
Queer View: Und wie Camille Paglia, vor allem um den Mund herum. Du könntest ihr Zwillingsbruder sein.
Bruce LaBruce: Ein sehr schmeichelhafter Vergleich.