Jazz im 3. Reich - Jazz im Bunker - Jazz im KZ

von Thomas Klatt

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November 1943 in der Reichshauptstadt: Sirenen erfüllen die Luft, die Berliner rennen um ihr Leben. Görings Luftwaffe ist so aufgeblasen wie er selber. Die Engländer beginnen mit den ersten schweren Bombardements auf das Zentrum des Reiches. Während die meisten ihre wichtigsten Habseligkeiten in den Luftschutzkeller bringen, schleppen zwei Jugendliche mit langen Haaren und in Trenchcoats zwei unförmige Kisten in den Bunker. Der eine trägt ein begehrtes Koffergrammophon der Luxusklasse von Telefunken aus dem letzten Friedensjahr 1938. Nach zähen Verhandlungen hat er es bei einem Klassenkameraden abgestottert. Der andere hütet die unschätzbar wertvollen Schellack-Aufnahmen amerikanischer und englischer Swing-Musiker, die auf den Labels der deutschen Brunswick, Imperial oder Odeon erschienen sind. Es sind schwarze und jüdische Musiker. Beide sind im Nazi-Deutschland verboten. Hitler mochte keine Schwarzen. Bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin weigerte sich der Führer, dem mehrfachen Goldmedaillen-Gewinner Jessy Owens die Hand zu schütteln. Hitler wurde auch nie bei einem Swing-Konzert gesehen. Die NSDAP bekämpfte von Anfang an die "jüdische Negermusik". Schon 1930 verbot die national-sozialistische Landesregierung von Thüringen den Jazz. Aber im großdeutschen Reich ist es nach 1933 nie zu einem völligen Verbot des Swing gekommen. Die Nazis konnten sich auch nie darauf einigen, was denn unter Jazz und Swing genau zu verstehen sei, und so konnten sie auch nichts konsequent verbieten oder kontrollieren. Es kam seit Kriegsbeginn lediglich zu einem Verbot englischer Namen und Titel. Und so behielten die Musiker zwar ihre Noten, schrieben aber einfach über den Tiger Rag "Schwarzer Panther" , und aus dem St. Louis Blues wurde treudeutsch das "Lied vom blauen Ludwig". Goebbels sah schnell ein, daß die Herren den Menschen nicht die Musik und das Tanzen verbieten konnten. Denn die treuen Volksgenossen und besonders die Soldaten an der Front liebten den Swing. Selbst nach dem Fall von Stalingrad hielt die nationale Volkstrauer nur wenige Wochen, danach mußten auf Druck der Wehrmacht Tanzvergnügungen wieder gestattet werden. Die Jugendlichen in den Stadtzentren waren von der Einheitstracht der Hitlerjugend wenig begeistert. Besonders in Hamburg und Berlin bildeten sich aufmüpfige Gruppen der sogenannten Swing-Boys and -Girls. Im englischen Bombenhagel hörten sie den Schwarzen Louis Armstrong oder den Juden Benny Goodmann, ständig in der Gefahr, angezeigt zu werden. Hunderte von Swings wurden von der Gestapo festgenommen, an die Front geschickt oder ins KZ verbracht. Den Boys wurde im KZ Moringen "deutsches Benehmen beigebracht", die Girls sollten im KZ Uckermark durch Vergewaligung und Folter wieder zu anständigen deutschen Frauen werden. Während der Hüter brauner Kulturpolitik in Aachen, Herbert von Karajan, später zu philharmonischen Ehren gelangte, warten die noch lebenden Swings bis heute vergeblich auf Entschädigung.


Neben der Schellack und öffentlichen Tanzveranstaltungen, wurde seit den 30er Jahren besonders der Rundfunk das Musik-Medium, das die Bevölkerung in der westlichen Welt ereichte. Von 1932 bis 1943 wuchs die Zahl der Hörer im Reich von 4 auf über 16 Millionen. Goebbels machte daher das Radio von Anfang an zur Chefsache. Wenn der Jazz nicht einzudämmen war, so sollte er doch kanalisiert werden. Goebbels befahl die Bildung des Deutschen Tanz- und Unterhaltungsorchesters (DTU), an dessen Stil sich künftig alle Kulturschaffenden des Reiches zu orientieren hatten. Im DTU wurden viele erstklassige Musiker vereint, aber sie durften nicht "hot" spielen. Außerdem mußte Goebbels ständig mit dem Militär verhandeln, um Spitzenleute "uk" stellen zu können. Der damals beste Gittarist Deutschlands, Hans Korseck, starb einen Tag vor seiner Abreise nach Berlin auf seinem letzten Gang an der russischen Front durch einen Kopfschuß. Aber alles Bemühen war umsonst. Die echten Swings haben das deutsche Plagiat nie akzeptiert. Der Teutonen-Jazz hat die amerikanischen und englischen Originale nie verdrängen können.


Daneben tobte ein erbitterter Propagandakrieg zwischen den Fronten. Während BBC London mit Beethoven täglich anfing, schickte Goebbels "Charlie and His Orchestra" an die Radio-Front. Die Pseudo-Alliierten sangen auf Jazz-Standards Propagandatexte in englischer Sprache. Sie gingen täglich auf Sendung gegen den Feind. Pro Titel wurden nur 50 bis 100 Kopien hergestellt, die für Sender im besetzten Europa und zur Indoktrination in Kriegsgefangenenlager bestimmt waren. Während die Berliner im Bunker verbotenen Swing hörten, produzierten Hunderte von Redakteuren, Textern und Moderatoren 147 Stunden Programm täglich, aus Schutz vor den Bomben seit September 1943 beim "Reichssender Stuttgart". Für deutsche Hörer gab es im Radio den "Kuckucksruf", die Warnung vor neuen Luftangriffen, während das Propaganda-Orchester auf Kurzwelle bis zum 5. April 1945 Jazz spielte. Wenige Wochen nach Kriegsende spielten die selben Musiker bereits wieder vor überraschten GIs, die sich an den hervorragenden Jazz-Solisten aus "Nazi-Germany" begeisterten. Einige der "Charlie and His Orchestra"-Propagandamusiker erhielten im Nachkriegsdeutschland gute Stellungen beim Rundfunk. Der Schlagzeuger Fritz Brocksieper erhielt 1987 vom Münchener Oberbürgermeister Georg Kronawitter sogar die Medaille "München leuchtet".


Zuletzt war Jazz nicht nur die Seelennahrung für die Kriegs- und Heimatfront, sondern auch eine überlebensstrategie in den deutschen Konzentrationslagern. Zur Täuschung des Internationalen Roten Kreuzes wurde im Vorzeige-KZ Theresienstadt ein eigenes Orchester gefördert, die "Ghetto-Swingers". Nach dem Abdreh des später als "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" bekannt gewordenen Propagandafilms wurden fast alle "Ghetto-Swingers" vergast. Die anderen mußten zum Gefallen der Aufseher und Lagerältesten täglich um ihr überleben spielen. Zum Teil gab es richtige Wettbewerbe in der SS, wer das beste Lagerorchester hatte. Der Berliner Coco Schumann ist einer der nur noch wenigen lebenden Zeitzeugen dieser Unzeit. "Immer wieder sagte ich mir, die Musik kann nichts dafür. Die Musik rettet dir - wenn schon nicht das Leben, so doch den heutigen Tag." schreibt er in seiner Autobiographie.


Der Jazz im Dritten Reich offenbart ein völlig anderes Bild jenseits der Schulbücher. Er zeigt die Vielfalt des latenten Widerstandes der Bevölkerung gegen die Gleichschaltung und die Schizophrenie der Machthaber, die die Musik förderten, die sie offiziell bekämpften.

Der Autor leitet den Arbeitskreis "Jazz in der Kirche". Zur Vervollständigung des Programms "Jazz im Dritten Reich" sucht der Arbeitskreis noch Zeitzeugen und Originaldokumente aus dieser Zeit. (AK "Jazz in der Kirche", Tel.: 030/ 446503-95, Fax: -96)


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