MICHAEL DÜRR

Strategien indianischer Herrschaftslegitimierung im kolonialzeitlichen Mesoamerika:
ein Vergleich der Argumentation im Popol Vuh und im Título de Totonicapán
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Einleitung
Die Fassungen

Vergleichende Analyse

Schluß

Anmerkungen
Literatur

Synopsis (English summary)


Einleitung

Aus Mesoamerika gibt es eine große Zahl von Texten in indianischen Sprachen, die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert niedergeschrieben worden sind. Verfaßt wurden sie von missionierten und alphabetisierten Angehörigen der indianischen Oberschicht. Diese Texte aus der frühen Kolonialzeit werden zumeist als Quellen für Kultur und Geschichte der vorspanischen Zeit verwendet, gelegentlich werden sie allerdings auch als Relikte vorspanischer mündlicher Literatur gewürdigt. Fast immer ist der Umgang mit den Texten von der Suche nach vermeintlich "authentischen" Zeugnissen der vorspanischen Kultur geprägt, viel zu selten werden die Texte im Hinblick auf die Situation betrachtet, in der sie geschrieben worden sind. Die Texte dürfen aber nicht nur als Relikte alter Traditionen verstanden werden, sondern vielmehr als Produkte der aktiven Verarbeitung und Diskussion der kolonialzeitlichen Verhältnisse.

Als einzelne Angehörige der indianischen Oberschicht in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts zu schreiben begannen, lebten und argumentierten sie in zwei Kulturen gleichzeitig, der vorspanischen Kultur ihrer Eltern und Großeltern sowie der ihnen in Missionsschulen anerzogenen christlich-abendländischen Kultur. Für die Autoren galt es zwei Krisen zu bewältigen, zum einen die Identitätskrise, die der Verlust der eigenen Tradition und die Neuorientierung in einer völlig anderen Welt mit sich brachte, und zum anderen die materielle Krise, denn sie verloren nach und nach ihre Funktion und damit auch ihre Macht, ihren Besitz und ihre Privilegien. Das Beanspruchen und Legitimieren von Herrschaft, vor allem aber von Besitz und Privilegien, ist denn auch die vorrangige Aufgabe der Texte. Da die Stellung der indianischen Oberschicht von mehreren Seiten angegriffen wurde ­ von den spanischen Kolonialherren, von den anderen indianischen Fürstenfamilien und von der indianischen Bevölkerung ­ mußte die Argumentation möglichst alle Gegenpositionen auffangen: Um Ansprüche gegen einen der neuen spanischen Herren oder gegen eine der rivalisierenden Fürstenfamilien geltend machen zu können, brauchte man juristisch stichhaltige Dokumente, mit dene die direkte fürstliche Abkunft und das Herrschaftsgebiet gegenüber der spanischen Kolonialverwaltung nachgewiesen werden konnte. Der indianischen Bevölkerung gegenüber, die sich zunächst noch weitgehend in den gewohnten vorspanischen Bahnen weiterbewegte, war dagegen die Aufrechterhaltung der traditionellen Legitimationsmuster die erfolgversprechendste Strategie. Diese beiden Argumentationsstränge schlossen sich nicht notwendigerweise aus; allerdings war bei der Verwendung von mythischen Begründungen aus der vorspanischen Zeit Vorsicht angebracht, um nicht mit der Religion der Kolonialherren in Konflikt zu geraten, für die der Anspruch auf alleinige Gültigkeit erhoben wurde.

Die indianische Oberschicht mußte in der kolonialen Gesellschaft aber nicht nur materiell bestehen, sondern auch sozial, so daß sie sich deren Konventionen anpassen mußte, die aus dem Adelsideal des "hidalgo" entsprangen und aus den christlichen Wertvorstellungen. Vor allem das Akzeptieren der christlichen Religion geschah daher nicht unbedingt nur aus der Furcht vor Repressalien, zumal christliche Missionare sich den Adel auch durch Unterstützung seiner materiellen Interessen zu verpflichten wußten. Durch ein europäisiertes Verhalten nahm sich der indianische Adel aber bei der indianischen Bevölkerung viel von seiner Glaubwürdigkeit. Da der Adel ständig in Frage gestellt wurde und er zugleich seine eigene Stellung bikulturell neu definieren mußte, verwundert es kaum, daß er um ein neues Selbstverständis und eine Rechtfertigung vor sich selbst rang. So drängte es die zwischen allen Stühlen sitzende Elite dazu, sich in den Texten nicht nur formal-juristisch zu legitimieren, sondern sich gleichzeitig auch die Daseinsberechtigung zu geben. Auf der Ebene der moralischen Rechtfertigung kann man es aber noch weniger allen zugleich recht machen. Es kommt so je nach dem Standpunkt des Erzählers zu unterschiedlichen Argumentationen, wobei dieser Standpunkt in der Kolonialzeit natürlich nicht mehr ein "authentisch" vorspanischer sein kann. Unabhängig vom Standpunkt des Erzählers fließen immer Versatzstücke aus beiden Kulturen in die Argumentation ein, nur werden sie in recht unterschiedlicher Weise ausgewählt und verknüpft. Dies möchte ich anhand eines Beispiels im folgenden verdeutlichen.

Die Fassungen

Ich wähle hierzu zwei Dokumente aus dem Hochland von Guatemala, die in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts in Quiché niedergeschrieben worden sind, das Popol Vuh und den Título de Totonicapán.1 Die Texte haben wesentliche Gemeinsamkeiten: beide erzählen die Geschichte der Quiché von der Schöpfung über die Zeit der mythischen Vorväter bis hin zu den Fürsten unmittelbar vor der Eroberung. Andererseits gibt es auffällige Unterschiede: so ist das PV etwa fünfmal so lang wie der TT ­ die Erzählung ist viel breiter und ausführlicher angelegt; auch sind die Anlage und vor allem die Argumentation der beiden Texte recht verschieden; in mehreren Fällen wird ein und dieselbe Episode unterschiedlich erzählt. Um dies zu verdeutlichen, wollen wir eine zentrale Episode der Erzählung betrachten, nämlich die Geschichte von der Erlangung des Feuers. Mit dieser Erzählung wird in beiden Texten die Vorherrschaft der Quiché explizit mythisch legitimiert. Bevor ich aber die beiden Fassungen vergleiche, sei zum besseren Verständnis der Inhalt der Fassungen kurz zusammengefaßt.

Popol Vuh (110 ff.): Nachdem die Götter die ersten Menschen Balamquitze, Balamacab, Mahucutah und Iquibalam aus Mais geschaffen haben, richten diese den Kultdienst für die Götter ein. Die vier ersten Menschen erhalten Frauen und vermehren sich. Auf der Suche nach Götterbildern, die sie verehren können, wandern sie halbnackt umher, nur in Felle gekleidet. Sie gelangen schließlich nach Tulan, wo sie ihre Stammesgötter erhalten. In Tulan erhalten die verschiedenen Stämme Feuer, nicht aber die Ahnväter der Quiché. Angesichts der Kälte beklagen sie sich darüber bei Tohil, ihrem Stammesgott, der sie tröstet. Das Feuer der Stämme wird von ihm durch Hagel wieder vernichtet und Tohil erbohrt nun seinerseits Feuer für die Quiché. Daraufhin bitten die Stämme ihrerseits um Feuer. Nach einer Rückfrage bei Tohil geben die Ahnväter der Quiché den anderen Feuer, aber nur unter einer Bedingung: sie müssen sich den Quiché als Untertanen unterwerfen und bereit sein, Tohil als Opfer zu dienen. Auf dieser Abmachung beruht die Legitimierung der zukünftigen Macht der Quiché. Die Episode ist aber nur Vorzeichen und ideologische Legitimierung der Macht, denn die tatsächliche Unterwerfung der Stämme muß erst noch errungen werden. Dies wird im Anschluß erzählt.

Título de Totonicapán (9v.): Die Ahnväter der Quiché kommen als Anführer eines der Stämme Israel von jenseits des Meeres aus Babylon und gelangen halbnackt ins Quiché-Gebiet. Noch gibt es kein Feuer. Balamquitze schlägt vor, Feuer zu machen, da es kalt ist. Die Stämme wollen daraus einen Wettbewerb machen: wer zuerst Feuer hat, erhält einen Untertanen. Balamquitze stimmt dieser Bedingung zu. Die Ahnväter der Quiché erbohren als erste Feuer und die Stämme bitten daraufhin um Feuer. Die Quiché bestehen auf der Abmachung und verlangen Unterwerfung und Bereitstellung von Menschenopfern. Auch hier ist die Episode nur Vorzeichen und Legitimierung der Macht.

Vergleichende Analyse

Zunächst fällt auf, daß im TT der Stammesgott Tohil in der Episode nicht erwähnt wird, während er im PV die zentrale Figur ist, von der alles ausgeht. Demgegenüber wird im TT Balamquitze in den Vordergrund gestellt. Mit diesem Unterschied trifft man bereits auf den wesentlichen Unterschied in der Argumentation: im PV wird Herrschaft in starkem Maße über die vorspanische Religion und über die Religiosität der Anführer legitimiert, während im stärker christlich beeinflußten TT diese Komponente in den Hintergrund tritt.

Im PV werden Balamquitze, ... als Stifter des religiösen Kults dargestellt und ihr Beten und Fasten wird herausgestrichen. Die Verehrung der Götter durchzieht als Ideal den ganzen Text: zunächst als Wunsch der Götter und als Grund, die Schöpfung zu beginnen (PV 8); dann negativ, da die ersten Schöpfungen in dieser Hinsicht versagen und deshalb vernichtet werden (PV 12ff.); und zuletzt positiv, als schließlich die ersten wirklichen Menschen ­ die Ahnväter der Quiché Balamquitze, ... ­ die Götter sofort nach ihrer Erschaffung dankend anbeten und den Götterkult beginnen und auf diese Weise die Schöpfung vollenden (PV 100ff.). Bei den späteren historischen Herrschern der Quiché kehrt das Motiv wieder: auch sie praktizieren den Kult (PV 160ff.) und sind so durch Frömmigkeit und direkte Abstammung von den Ahnvätern doppelt legitimiert.

Im TT sieht die Situation völlig anders aus. An die Stelle der vorspanischen Schöpfungsgeschichte tritt die biblische. Herrschaft wird dadurch legitimiert, daß die Quiché zu einem der Stämme Israel gemacht werden, der nach der babylonischen Gefangenschaft nach Amerika zog: Es findet sich als explizite Legitimierung nur die postulierte Abstammung von den Juden, wobei sich dieses Argument auf die Autorität der Bibel und der Kirche stützen kann. Die vorspanische Religion wird dagegen als heidnische Verwirrung dargestellt, die die Quiché bei der Wanderung ins Quiché-Gebiet befällt: die Ahnväter identifizieren Sonne und Mond mit den "falschen" Göttern Hunahpu und Xbalanqueh. Die fehlgerichtete Frömmigkeit kann folglich nicht zur Legitimierung von Herrschaft dienen, ganz im Gegenteil: die Ahnväter der Quiché werden von Gott verabscheut, weil sie sich von ihm abgewendet haben (TT 7r.f.).

Diese unterschiedlichen Grundkonzeptionen wirken sich in vielem aus: im PV sind Balamquitze, ... die direkt von den Göttern aus Mais geschaffenen ersten Menschen, im TT nur die auserwählten Anführer der Quiché, die von den Juden abstammen. Im PV wird die Verehrung der beiden Schöpfergottheiten hervorgehoben; im TT werden sie überhaupt nicht genannt ­ an ihre Stelle tritt der christliche Gott. Die Stammesgötter motivieren die Handlung des mythisch-historischen Teils des PV und werden zur Begründung ethnischer Abgrenzungen herangezogen, aber ihre religiöse Verehrung wird nur an einer ­ wenn auch entscheidenden ­ Stelle beschrieben (PV 124ff.). Insbesondere Tohil ist der überlegen-allwissende göttliche Berater, der den Weg der Quiché zu Ruhm und Größe planend lenkt. Seine Macht ist so groß, daß die feindlichen Stämme sein Götterbild stehlen wollen, um ihn als den besten Gott zu dem ihren machen zu können (PV 136). Im TT spielen die Stammesgötter eine weitaus geringere Rolle als im PV, sie werden auch erst viel später eingeführt. Tohil ist in der Hauptsache ein Götterbild, so daß sein direktes Eingreifen auf einige wenige kurze Befehle beschränkt ist.

In der Episode um die Erlangung des Feuers (PV 110ff.; TT 9v.) wird die Auserwählung der Quiché im PV durch den Auftrag des Gottes legitimiert. Die Auserwählung ist verdient, da auf diese Weise die besonders Frommen belohnt werden, beinhaltet aber auch die Verpflichtung für Tohil zu sorgen und Menschenopfer beizubringen. Im TT wird der Auftrag des Gottes durch einen Wettbewerb ersetzt, der von den Stämmen ausgeht und dem Balamquitze zustimmt. Die Unterwerfung ist in beiden Texten an die Bitte um Feuer geknüpft. Die Bitte führt zu einer vertraglichen Verpflichtung den Quiché gegenüber, sich zu unterwerfen und als Opfer für Tohil bereit zu stehen. Im PV wird dieses Motiv noch durch ein Gegenbeispiel verstärkt: die Erzrivalen der Quiché, die benachbarten Cakchiquel, unterwerfen sich nicht, sondern stehlen heimlich das Feuer, anstatt darum zu bitten. In diesem Zusammenhang werden auch die Menschenopfer erwähnt ­ sie scheinen für die Unterwerfung konstitutiv zu sein -, aber nur metaphorisch ausgedrückt und für den Außenstehenden mißverständlich, quasi "durch die Blume":

vue ba chiu-ah, chika-tzumah vach y-gux
"Wenn ihr wirklich wollt, werden wir eure Brust küssen!" (TT 9v.21)

ma car-ah on qui-gux, quinqui-caluh "Ob sie mich wirklich umarmen wollen?" (PV 112.20)

Deutlicher wird nur das PV in der anschließenden Zusammenfassung:

ta x-puz r-onohel amac chu-vach, ta x-cotix vloc v-gux chu-toloc
"alle Stämme wurden vor ihm (=Tohil) geopfert, indem ihre Herzen aus dem Brustkorb herausgeschnitten wurden" (PV 112.34)

Ort und Abfolge der Ereignisse sind in den beiden Texten verschieden: im PV ereignet sich die Episode vor der Wanderung über das Meer in Tulan, im TT nach dieser Wanderung bereits im Quiché-Gebiet. Im PV steigert der Ort der Handlung die Legitimität: zum Auftrag des Gottes und dem vorbildlich-frommen Verhalten kommt als drittes Moment, daß der Anspruch auf Herrschaft wie alle rechtmäßigen Herrschaftsansprüche aus Tulan stammt. Im TT ist Tulan mit dem biblischen Babylon identifiziert worden, liegt also in der alten Welt, von wo folglich die Legitimierung doppelt kommt: zum einen über die Abkunft von den Juden, dem auserwählten Volk Gottes, zum anderen über Babylon-Tulan, von wo sich die Herrschaft herleitet.

Die Episode um die Erlangung des Feuers ist aber nur äußere Legitimierung und Vorzeichen der Macht, die erst noch errungen werden muß. Im PV gehen die hierzu führenden Konflikte nur mittelbar von den Quiché aus: Ihre Frömmigkeit treibt sie dazu, Menschen zu jagen und sie Tohil zu opfern (PV 124f.). Die Stämme wollen diese ja durch göttlichen Auftrag legitimierte Praxis unterbinden und verschwören sich gegen die Quiché (PV 126ff.). Sie beginnen mehrere Angriffe; nachdem sie aber jedes Mal unterliegen, fügen sie sich schließlich in die Unterwerfung. Indem die Stämme als Angreifer dargestellt werden, die Quiché sich aber immer nur verteidigen, tragen die Stämme die Schuld für die Niederlage selbst. Im TT wird dies in ähnlicher Weise erzählt, allerdings fließt die Praxis der Menschenopfer wiederum nur andeutungsweise ein. Nachdem Balamquitze von dem Komplott der Stämme erfährt, wird anders als im PV auf Anordnung Tohils den Stämmen formell der Krieg erklärt (TT 10v.ff.).

Es ließen sich noch zahlreiche andere Details anführen, aber dies soll hier genügen. Fassen wir die Hauptargumente zusammen, die den Herrschaftsanspruch legitimieren sollen:

  1. Frömmigkeit: Die Götter wollen Wesen, die sie verehren und finden sie in den Ahnvätern der Quiché und ihren Nachkommen. Dieses Argument findet sich nur im PV.
  2. Abstammung: Die Quiché sind im PV die direkten Nachfahren der aus Mais geschaffenen ersten Menschen. Im TT dagegen sind sie Nachfahren der Juden.
  3. Tulan: Die Quiché haben ihre Herrschaft in Tulan erhalten, von wo alle rechtmäßige Herrschaft sich herleitet. Im TT wird Tulan mit Babylon gleichgesetzt.
  4. Vertrag: Die Bitte um Feuer und die anschließende Abmachung ist ein bindender Vertrag, mit dem als Gegenleistung für das Feuer die Unterwerfung vereinbart wird.
  5. Schuld der Anderen: Konflikte gehen immer von den feindlichen Stämmen aus, so daß die Vorherrschaft der Quiché durch eine Serie erfolgreicher Verteidigungsaktionen zustande gekommen ist.
  6. Fähigkeit und Erfolg: Die Quiché haben mit Tohil den besten Gott ­ dies wird allerdings nur im PV gesagt. Ihre Fürsten sind nicht nur fromm, sondern auch in besonderer Weise fähig bis hin zu übernatürlichen Kräften; und auch die Krieger der Quiché sind tüchtig und erfolgreich.

Trotz ähnlicher Argumente sind die Standpunkte der beiden Texte ziemlich verschieden: Im PV werden die mythischen und historischen Geschehnisse der vorspanischen Zeit bejaht und als mythische Wirklichkeit dargestellt; die Argumentation beinhaltet zugleich die Rechtfertigung der vorspanischen Verhältnisse, wobei vor allem die religiösen Tugenden der Quiché stark betont werden. Der Anspruch auf Herrschaft stützt sich also auf die nicht-christliche vorspanische Tradition. Auch im TT scheint im wesentlichen der gleiche Kanon vorspanischer mythisch-historischer Erzählungen akzeptiert zu sein, mit dem Herrschaft legitimiert wird, nicht aber die durch sie postulierte mythische Wirklichkeit. Die Legitimierung von Herrschaft liegt daher im TT gänzlich außerhalb der alten nicht-christlichen Vorstellungswelt, von der sich der Autor/die Autoren deutlich distanzieren; sie setzen an ihre Stelle die christliche.2 Aus diesem Spannungsfeld zwischen altem Kanon und neuen Vorstellungen erklären sich die Brüche im thematischen und argumentativen Aufbau des TT. Dafür hat aber der im TT erhobene Anspruch auf Herrschaft ­ trotz der weniger konsistenten Argumentation ­ in der Autorität der Bibel und der katholischen Kirche eine starke Stütze, da die Darstellung weitgehend derjenigen des Missionars Domingo de Vico (vgl. auch Ximénez 1929: 62-65) folgt.

Die vorspanischen Inhalte und ihre Bejahung als mythische Wirklichkeit sollten aber keinesfalls so verstanden werden, daß das PV auch vorspanisch argumentiert. Der Autor scheint vielmehr eine Stilisierung vorspanischer Inhalte vorgenommen zu haben, und zwar in ähnlicher Weise, wie ich dies für den formalen Aufbau im Hinblick auf die fiktive Mündlichkeit des PV an anderer Stelle zu zeigen versucht habe (Dürr 1989). Die Stilisierung des Inhalts kann zwar nicht bewiesen werden, da keine vorspanischen Vergleichstexte überliefert sind, aber es lassen sich eine Reihe von Indizien anführen, die darauf hindeuten: Die Frömmigkeit richtet sich primär an die beiden Schöpfergottheiten und weniger an die Stammesgötter. Die blutige Verehrung der Stammesgötter tritt in der Darstellung in den Hintergrund, obwohl sie für die Argumentation der Herrschaftslegitimierung eigentlich die wichtigere zu sein scheint, da selbst der TT sie nicht völlig übergehen kann. Kasteiung, Fasten und Gebete werden als Kultformen herausgestrichen, die Menschenopfer dagegen werden erst behandelt, als sie für die Motivierung des Konflikts mit den Stämmen unerläßlich werden, und nur dort. Die Betonung der beiden himmlischen Schöpfergottheiten scheint als Gegenpol zum christlichen Gott gedacht zu sein.

Schluß

Man kann sich aufgrund dieser Überlegungen die Frage stellen, ob der Entwurf einer vorspanischen Heilsgeschichte, die in den Quiché als auserwähltem Volk gipfelt, im PV nicht als bewußte Gegenposition zur christlichen aufgebaut wurde, zumal Tedlock (1986) anhand eines anderen Teils des PV, der Schöpfungsgeschichte, zu ähnlichen Überlegungen gelangt. Das PV wäre somit anders als z.B. der TT nicht Ergebnis der Anpassung an das Christentum, sondern vielmehr der Ablehnung der von den Eroberern mitgebrachten Religion. Um eine Gegenstimme zu erheben, wurden im PV die vorspanische Ideen im frühkolonialen Diskurs instrumentalisiert; als Ziel sollte die vorspanischen Traditionen als mit dem Christentum gleichrangig aufgebaut werden. Akzeptiert man diese These, so kann es kaum verwundern, daß die Darstellung der Mythen im PV mit christlichen Vorstellungen vereinbar ist ­ man mußte den Gegner mit der eigenen Argumentation schlagen und betonte so die Gemeinsamkeiten.3

Dieses Betonen von Gemeinsamkeiten ist eine bei fast allen kolonialen indianischen Autoren in Mesoamerika anzutreffende Tendenz: Es dürfte den europäisch gebildeten Adeligen nicht nur relativ leicht gefallen sein, Parallelen herzustellen, sondern aufgrund der Notwendigkeit, sich in der spanischen Kolonialgesellschaft zu behaupten, für sie auch ein Bedürfnis gewesen sein. Angesichts der möglichen Folgen ist es nicht verwunderlich, daß trotz der z.T. harter Kritik an den Praktiken der Eroberer die christliche Religion eigentlich nie das Ziel von Angriffen war4 ­ die gegen die Missionierung gerichteten Aktivitäten erfolgten eher im Verborgenen, auf jeden Fall nicht in geschriebener Form. Selbst im PV kann man die Ablehnung weniger in einzelnen Aussagen als in der Konzeption und der Gesamtargumentation dingfest machen; nur hierin unterscheidet es sich z.B. von den aztekischsprachigen historischen Texten, die vorspanische Schöpfungsmythen und mythisch-historische Erzählungen über Stammesgottheiten integrieren.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß eine solche Interpretation dem literarischen Wert des PV als kreative Reaktion auf den kulturellen Kontakt eher gerecht wird als die in ihrer groben Vereinfachung geradezu falsche Frage danach, ob das PV synkretistisch ist oder authentisch vorspanisch: Der im PV eingenommene Standpunkt ist weder vorspanisch, da er die koloniale Situation reflektiert, noch synkretistisch, da er die fremden christlichen Glaubensinhalte ablehnt und nicht etwa miteinbezieht. Der Verfasser des PV entschied sich aus der Kenntnis beider Kulturen heraus für seinen Standpunkt, und dies obwohl seine Entscheidung unbequem war, da er ein Werk mit solchen Inhalten nur schwerlich zur Stützung eventueller Ansprüche der spanischen Kolonialverwaltung vorlegen hätte können;5 seine legitimierende Funktion konnte der Text daher auch nur in einem indianischen Diskurs entfalten.

Anmerkungen

1 Im folgenden werden diese beiden Texte mit den Abkürzungen PV bzw. TT bezeichnet. Zitiert wird das Popol Vuh nach der Edition von Schultze Jena (1944), der Título de Totonicapán nach dem Faksimile in Carmack / Mondloch (1983). Zurück zum Text

2 Der Unterschied in der Haltung der beiden Texte zeigt sich recht deutlich z.B. daran, daß im PV eindeutig gesagt wird, daß Hunahpu und Xbalanque zu Sonne und Mond geworden sind (PV 98), im TT aber nur, daß Sonne und Mond nach ihnen genannt worden sind (TT 7v.). Im PV besitzt die Erzählung anders als im TT mehrfach auch eine ätiologische Dimension. Zurück zum Text

3 Bereits der Entdecker des PV, Francisco Ximénez, konnte daher in seiner "Historia de la provincia de San Vicente de Chiapa y Guatemala" (1929) ohne große Schwierigkeiten zahlreiche Parallelen zur christlichen Heilsgeschichte herstellen, auch wenn für ihn die christlichen "Wahrheiten" durch das Wirken Satans in einem Netz von "Lügen" verborgen sind. Obwohl in der Forschungsgeschichte der "authentisch" vorspanische Charakter des PV im Vordergrund stand, wurde zumindest beim ersten Teil, der Schöpfungsgeschichte, immer wieder der synkretistische Charakter betont. Zurück zum Text

4 Das Manuskript der in vieler Hinsicht bemerkenswerten Streitgespräche von 1524 (León-Portilla 1986) kann als "Gedächtnisprotokoll" der teilnehmenden Missionare, das auf einer abendländischen Tradition fiktiver Streitgespräche mit Angehörigen anderer Religionen beruht, hier kaum ins Feld geführt werden. Zurück zum Text

5 Vgl. Ridder (1989: 21), der das PV ebenfalls als nicht für eine Verwendung vor der spanischen Kolonialverwaltung geeignet ansieht. Das PV hatte also anders als die Títulos für die juristische Legitimierung so gut wie keinen praktischen Wert. Trotz der ähnlichen Grundstrukturen ist dies neben zahlreichen Unterschieden ein starkes Argument dafür, daß das PV nicht nur ein besonders langer Título ist, eine These, die z.B. von Ridder (1989) vertreten wird. Zurück zum Text

 
Literatur

Carmack, Robert M., und James L. Mondloch (1983): El Título de Totonicapán. México: Universidad Autónoma de México (1985 erschienen).

Dürr, Michael (1987): Morphologie, Syntax und Textstrukturen des (Maya-)Quiche des Popol Vuh. Linguistische Beschreibung eines kolonialzeitlichen Dokuments aus dem Hochland von Guatemala. Bonn: Holos.

­­­­ (1989): Literale Ausdifferenzierung oraler Strukturen: die fiktive Aufführung des Popol Vuh; in: Birgit Scharlau (Hrsg.), Wort-Bild-Schrift. Tübingen: Narr, S. 109­119.

Henne Pontious, David (1980): Diccionario Quiché-Español. Guatemala: Instituto Lingüístico de Verano.

León-Portilla, Miguel (1986): Coloquios y doctrina cristiana. Los diálogos de 1524. México: Universidad Autónoma de México.

Ridder, Rob de (1989): The Poetic Popol Vuh. An anthropological study. Dissertation. Utrecht: Rijksuniversiteit.

Schultze Jena, Leonhard S. (1944): Popol Vuh ­ Das heilige Buch der Quiché-Indianer von Guatemala. Stuttgart: W. Kohlhammer.

Tedlock, Dennis (1986): Creation in the Popol Vuh: A hermeneutical approach; in: Gary H. Gossen (Hrsg.), Symbol and meaning beyond the closed community: Essays in Mesoamerican ideas. Albany: State University of New York, S. 77­82.

Ximénez, Francisco (1929): Historia de la provincia de San Vicente de Chiapa y Guatemala. Bd 1. Guatemala: Sociedad de Geografía e Historia.


Synopsis
Strategies for legitimating native rulership in colonial Mesoamerica: a comparison of the argumentation in the Popol Vuh and the Título de Totonicapán

In Mesoamerica, numerous texts have been written by members of the native nobility during early colonial times. The aim of most of these texts, whether composed in Spanish or in one of the native languages, was claiming the inherited rights for land or for privileges. By comparing two parallel episodes in the Popol Vuh and the Título de Totonicapán, both written in Quiché, differences in treating the same traditional story will be shown which depend on fundamentally different argumentations for legitimating rulership: whereas the Popol Vuh negates the new religion and argues on the background of prehispanic traditional values, the Título de Totonicapán in it's global argumentation relies heavily upon Christian ideology and thus avoids prehispanic religious motifs as far as possible even though the same traditional story patterns for legitimation are used as in the Popol Vuh.


Erschienen in Sociologus (Duncker & Humblot / Berlin), Neue Folge 39 (1989): 172-181
Elektronische Ausgabe mit freundlicher Genehmigung des Verlages

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