Der weiße Blitz / Hans-Jürgen Riediger musste seine Karriere viel zu früh beenden

Das jähe Ende kam unverhofft,  und so schlimm sah es zunächst gar nicht aus. Es passierte im Januar 1983, wenige Tage nach seinem 27. Geburtstag, auf einer Reise der DDR-Auswahl durch Tunesien. In einem gänzlich unwichtigen Testspiel auf einem Holperrasen in einer unbedeutenden Kleinstadt verdrehte sich Hans-Jürgen Riediger ohne gegnerische Einwirkung das Knie. Nach der Rückkehr wurde zu Hause bei der ärztlichen Untersuchung eine Meniskusverletzung diagnostiziert - und ein Knorpelschaden. Nach der notwendigen Operation bekam er immer wieder Schmerzen. Zwei Jahre lang quälte er sich durch das Reha- und Aufbautraining. Dann war es endgültig vorbei. "Ich habe wirklich alles versucht, aber es hatte einfach keinen Sinn mehr", kann er sich an diese Leidenszeit noch gut erinnern.

So ging nach 41 Länderspielen eine Karriere zu Ende, deren Höhepunkt eigentlich noch bevorzustehen schien. Denn just in dieser Saison 1982/83 war es zuvor für Riediger wie am Schnürchen gelaufen. Viele Tore hatte er schon in den Jahren zuvor geschossen - aber nie so viele wie in diesen Monaten. "Es lief einfach sensationell. Wo ich stand, kam auch der Ball hin", war ihm das Torjäger-Glück hold. Für den BFC Dynamo hatte er in 13 Oberliga-Spielen bereits 16 Tore geschossen. Viermal war er mit dem BFC schon Meister geworden, Torschützenkönig aber noch nie. Nun war er auf dem besten Weg dorthin, zur Winterpause lag er sogar auf Rang 3 der europäischen Torjägerliste. Doch es sollte bekanntlich anders kommen.

Sicher haben andere Spieler mehr Tore in der DDR-Oberliga geschossen. Aber auf eine solche Quote wie Riediger, der 105 Tore in 193 Erstliga-Partien erzielte, kann kaum einer verweisen. Doch es sind nicht diese beeindruckenden Zahlen allein, die ihn herausragen ließen. Riediger galt als der schnellste Stürmer seiner Zeit. Wenn der schlaksige Rotschopf am rechten Flügel lossprintete, konnte ihm kaum ein Verteidiger folgen. Vielleicht waren es die qualvolle Stille seines Abschieds und die gleichzeitig einsetzende Dominanz seines mittlerweile immer unbeliebter werdenden Heimatklubs BFC Dynamo, die ihn schnell in Vergessenheit geraten ließen. Vielleicht war es auch der Makel, zu seiner Zeit zwar einer der besten Stürmer der DDR gewesen zu sein, aber nie auf der großen internationalen Bühne geglänzt zu haben.

Dort blieben ihm nur wenige Auftritte - und auch die schienen irgendwie unglücksbeladen. Es ging schon los mit den Olympischen Spielen 1976. Damals in Montreal gewann die DDR Gold. Riediger war auch dabei, aber nicht im Vollbesitz seiner Kräfte. Kurz vor dem Turnier hatte er sich eine Knieblessur zugezogen, die ihn stark behinderte. Immerhin spielte er und stand beim 3:1-Finalsieg gegen Polen auch 75 Minuten auf dem Platz. Es sollte sein einziges großes Turnier bleiben, denn danach verpasste die DDR zweimal die Qualifikation für die Weltmeisterschaft. "Beide Male war es ganz knapp, einmal fehlten sogar nur Zentimeter", blickt er zurück. 1978 kam man im letzten Spiel daheim gegen Österreich nicht über ein 1:1 hinaus. Kurz vor Schluss landete ein Kopfball von Riediger am Innenpfosten und prallte ins Feld zurück. Mit einem Sieg wäre die DDR nach Argentinien gefahren.

Vier Jahre später hätte im letzten Spiel gegen die Niederlande sogar schon ein Unentschieden gereicht. Zur Halbzeit führte die DDR 2:0 - am Ende hieß es 2:3. Und der Traum vom erneuten Olympia-Gold 1980 platzte, weil die FIFA kurz zuvor den Einsatz von Nationalspielern verboten hatte. Mit dem Verein lief es international im Europapokal auch nicht viel besser. "Wir mussten ja im Meistercup immer gleich gegen die besten Klubs spielen und hatten auch noch das Pech, dreimal auf den späteren Titelgewinner zu treffen", nennt Riediger den Hauptgrund dafür, dass sein Team nur zweimal bis ins Viertelfinale kam und oft früh ausschied. In denkwürdiger Erinnerung sind ihm die Treffen mit den englischen Champions Aston Villa und Nottingham Forest geblieben. Dabei verlor der BFC jeweils die Heimspiele, gewann aber auf der Insel zweimal sensationell mit 1:0.

Und die britischen Journalisten staunten über "The white flash" (Der weiße Blitz), der den englischen Abwehrrecken ein ums andere Mal davonlief. Riediger schmunzelt noch heute: "Auswärts haben wir meist auf Konter gespielt. Da hatte ich viel Raum und konnte meine Schnelligkeit natürlich nutzen." Dass der BFC danach mal den französischen Spitzenklub AS St. Etienne eliminierte (1:1/2:0) und gegen den späteren Cupsieger Hamburger SV nicht schlecht aussah (1:1/0:2), bestärkt ihn in der Ansicht, dass der Abstand zur europäischen Spitze damals gar nicht so groß war. Und er glaubt bis heute: "Wenn es schon nicht möglich war, aus dem Westen Spieler zu uns zu holen, so hätte man doch welche aus den anderen osteuropäischen Staaten holen können. Dann wären wir noch stärker gewesen und hätten auf Klubebene eine bessere Rolle in Europa spielen können."

Dass es an den individuellen Fähigkeiten nicht unbedingt mangelte, bewiesen später ja zahlreiche Spieler, die in den 1980er Jahren erst in der DDR-Oberliga und nach der Wende problemlos in der Bundesliga spielten. Das hätte Riediger vom Können her zu seiner Zeit sicher auch. Dass spätere Generationen nach der Wende zu Ruhm und viel Geld kamen, während er, der als 14-jähriger Junge von Motor Finsterwalde zum BFC Dynamo kam, halt immer nur dort spielte, erfüllt ihn nicht mit Groll. "Ich bin als Jugendlicher von der Kleinstadt in die Hauptstadt gekommen. Ich hatte in Berlin eine schöne Zeit und mit dem BFC viele Erfolge", zieht er sein persönliches Resümee.

Sein nüchterner Rückblick liegt wohl auch darin begründet, dass er heute mit dem Fußball nicht mehr viel zu tun hat. Nach seinem Karriereende trainierte er noch einige Jahre im Nachwuchsbereich des BFC, später mal die unterklassigen Vereine TSG Fredersdorf und Eintracht Königs Wusterhausen. Den "großen Fußball" sah er nur aus der Ferne. Seit zehn Jahren arbeitet er in der Versicherungsbranche. Und der Beruf hat den Sport mittlerweile völlig verdrängt. Nur manchmal denkt er noch an die alten Zeiten zurück. Denen trauert er nicht hinterher, nur das (zu frühe) Ende nagt immer noch ein bisschen an ihm: "Ich war damals in einer Superform. Und dann kam dieser unsägliche Besuch in Nordafrika..."


Sascha Stolz, Fußballwoche, 16.03.2009