Kleiner Kerl aus Herzfeld / Als einziger Berliner spielte Andreas Thom für Deutschland Ost und West

Andy kam zu uns als großer Star mit vielen Länderspielen und ganz großen Erfolgen. Mir aber hat er auch deshalb imponiert, weil er den Star nie hat raushängen lassen." Pal Dardai, noch heute Stammspieler bei Hertha BSC und am Sonnabend Torschütze beim 2:1 über Gladbach, erinnert sich voller Wärme an Andreas Thom. Das war im Januar 1998, als sich der Kreis für den Berliner bei Hertha BSC fast schloss und er mit 32 Jahren über die Stationen BFC Dynamo, Bayer Leverkusen und Celtic Glasgow zurück in seine alte Heimat kam. Damals war Dardai ganze 21, der Ungar stand am Anfang seiner Karriere. Eines zeigt die Episode aber deutlich. Wer etwas über Andreas Thom erfahren möchte, fragt nicht ihn, sondern lieber andere. Sonderlich gern spricht Thom nicht über sich.

"Es ist doch alles gesagt", geht er in die Defensive. Dabei hat er sich als Stürmer einen Namen gemacht. Als ein Angreifer, der in einem Atemzug mit Thomas Doll und Ulf Kirsten genannt wird, den beiden anderen Stürmer-Größen seiner Ära aus dem Osten Deutschlands. Mit einem winzigen Unterschied: Thom hatte das etwas größere Talent, den besseren Antritt, die flinkeren Bewegungen. Thom war das größte Fußballtalent der 80er Jahre in der DDR und der bereits in ganz jungen Jahren anerkannte Nachfolger von Stürmer-Legende Joachim Streich. "Als Achim Streich eines seiner letzten Spiele gemacht hat, bin ich als gerade 19-Jähriger in die Nationalmannschaft gekommen", erinnert sich Thom an sein erstes Spiel im Trikot der A-Elf der DDR. Immerhin 28 Minuten durfte er an jenem 10. Oktober 1984 in Aue beim 5:2-Sieg über Algerien mitspielen.

Kurios, dass bei seinem Debüt sein Idol Joachim Streich mit ihm auf der Bank saß und ebenso wie Thom eingewechselt wurde - nur 15 Minuten später als der kesse Neuling. "An dieses erste Spiel werde ich mich immer erinnern, das war schon ein ganz besonderes Gefühl, für sein Land spielen zu dürfen", sagt Thom. An diesen Tag ist längst nicht zu denken, als der kleine Andreas viele Jahre zuvor aus dem winzigen Örtchen Herzfelde (1.750 Einwohner, seit 2003 ein Ortsteil von Rüdersdorf im Landkreis Märkisch-Oderland) zwei Mal in der Woche zum Training zum BFC Dynamo fährt. Oder besser gefahren wird. Sein Vater Richard nimmt ihn an die Hand, fährt die lange und damals umständliche Tour weit östlich von Berlin hinein ins Herz der Hauptstadt.

"Ein Auto hatten wir nicht, also fuhren wir meistens mit dem Bus nach Strausberg, von dort mit der S-Bahn nach Berlin und weiter mit der Straßenbahn ins Sportforum zum Training", weiß Andreas Thom. Danach war der Steppke meist mausetot. "Manchmal war es so, dass auf dem Rückweg in Strausberg gegen 19 Uhr der Anschluss gerade weg war und die Busse nur noch alle Stunde fuhren. Da ist es schon mal passiert, dass ich eingeschlafen bin." Mutter Marlies empfängt Vater und Sohn voller Herzenswärme. Sie erzählt eine ebenso rührende Geschichte, die sie mit dem schmächtigen Andreas erlebt hat: "Er brauchte neue Fußballschuhe. In Herzfelde bekamen wir keine, also fuhren wir nach Berlin in die Schönhauser Allee. Doch vom Verkäufer wurden wir nur müde belächelt, ich solle dem Kleinen doch lieber erst einmal das Laufen beibringen."

Diese alltäglichen Mühen hat Thom trotz aller Erfolge nie vergessen. "Meinen Eltern werde ich ewig dankbar sein, denn was ich geworden bin, konnte ich nur mit ihrer Hilfe werden." Der Kleine mit dem großen Talent ist ein Spätentwickler. "Erst mit 16 Jahren habe ich einen Schuss gemacht", sagt er. Die letzten Zweifel, ob er wegen seiner körperlichen Nachteile beim Fußball bleiben darf, zerstreuen sich. Kaum ist Thom in der DDR-Oberliga angekommen, eilt er auch schon von Titel zu Titel. "Fünf Mal bin ich mit dem BFC Dynamo Meister geworden, zwei Mal Pokalsieger, auch mit Bayer Leverkusen habe ich den DFB-Pokal geholt und mit Celtic Glasgow den Coca-Cola-Cup. Das alles waren schon bewegende Momente", erzählt Thom.

Dass er Torschützenkönig in der Oberliga geworden war und 1988 auch Fußballer des Jahres in der DDR, lässt er ganz bescheiden ungesagt. Dafür loben ihn lieber andere. "Er ist ein begnadeter Fußballer, einer wie Moppel Schröter und Peter Ducke", findet BFC-Meistertrainer-Legende Jürgen Bogs mit dem Hinweis auf gleichermaßen spielende wie torgefährliche Stürmer vor Thoms Zeit. Und doch gerät Andreas Thom noch weit stärker in den Fokus der gesamtdeutschen und der internationalen Öffentlichkeit als alle anderen. Nur wenige Wochen nach dem Mauerfall ist der BFC-Angreifer der erste offizielle Fußball-Export aus Deutschland Osten in Deutschlands Westen.

Um seinen Wechsel zu Bayer Leverkusen ranken sich Legende und Wahrheit. Mit einem Koffer voller Geld soll Reiner Calmund, der Manager der Leverkusener, einfach in den Osten gekommen sein und Thom gekauft haben. 4 Millionen Mark habe der Deal betragen,dazu Medikamente (wer sollte die haben wenn nicht der Bayer-Konzern) im Wert von einer weiteren Million. Schnell wird Thom auch im Westen ein Star. Gleich in seinem ersten Bundesligaspiel gegen Homburg schießt er ein Tor, im ersten Länderspiel nach der Fußball-Vereinigung auch. Als Joker kommt er am 19. Dezember 1990 in Stuttgart gegen die Schweiz ins Spiel.

Für Matthias Sammer wird er eingewechselt und trifft sofort. "17 Sekunden war ich im Spiel, sagen die Statistiker. Es war ziemlich einfach. Ich bekam den Ball, stand frei und drin war er", macht Thom nicht einmal von diesem historischen Treffer sonderlich Aufhebens. Bundestrainer Berti Vogts ist begeistert: "Andreas ist ein perfekter Fußballer." Komisch nur, dass es Thom in der DDR innerhalb von sechs Jahren zu 51 Länderspielen gebracht hat, danach in der DFB-Auswahl unter Vogts nur noch zu zehn. Der Höhepunkt war die Einwechslung im EM-Finale 1992 gegen Dänemark für Stefan Effenberg. "Es hat zwar nicht mehr viel gebracht, weil wir das Endspiel verloren haben", sagt Thom, "aber immerhin habe ich in einem EM-Finale gestanden."

Als Trainer arbeitet er seit einigen Jahren an der Seite von Falko Götz, dessen Flucht 1983 in den Westen Thom seine ersten Spiele in der DDR-Oberliga zu verdanken hat. Das Duo trainierte unter anderem bei Hertha BSC in der Bundesliga. Seit der Rückrunde dieser Saison arbeiten beide bei Regionalligist Holstein Kiel. "Wir wollen in die Dritte Liga aufsteigen", nennt Thom das kurzfristige Ziel, "danach sehen wir weiter." Womöglich sehen ihn die Fans bald sogar in der Zweiten Bundesliga. "Längerfristig ist das eine Aufgabe, ja, aber wir wollen den dritten Schritt nicht vor dem ersten tun", sagt er. Die Zweite Bundesliga wäre auch für Thom eine neue Erkenntnis. Denn mittlerweile ist er 43, aber dort war er noch nie.


Jürgen Babenschneider, Fußballwoche, 02.03.2009