Mietshaus-Mobbing / "Papa, lass uns Ha, Ho, He brüllen" / Berlin, die zersplittertste Fußball-Stadt auf diesem Planeten

Diese Geschichte beginnt in meinem Treppenhaus. Dort, wo dieser Typ im zweiten Stock immer so provozierend seine Borussia-Dortmund-Fußmatte mit dem Wort "Heimspiel" halb auf den Treppenabsatz schiebt. Ja, ich habe ihn wirklich im Verdacht, mit dem Abstreifer so eine Art Mietshaus-Mobbing zu betreiben. Der weiß doch, dass ich Hertha-Fan bin. Und garantiert deshalb stand der Türvorleger nach Herthas unglücklichem Ausscheiden gegen den BVB im DFB-Pokal so fies schräg angelehnt. Ich wette, das war Absicht. Und dann erst diese Stuttgart-Fraktion im Vorderhaus. Ich habe den Eindruck, die vermehren sich. Habe ich leiden müssen, als der VfB 2007 Meister wurde. Die Fahne hing über meiner Straße. Und einer dieser Schwaben fragte mich sogar unverschämter Weise, ob bei Herthas letztem Titelgewinn noch Kaiser Wilhelm die Ehrung vorgenommen habe.

So ist das eben in dieser Stadt, die Weltstadt genannt wird, aber mit ihren 3,4 Millionen Einwohnern gut und gerne in 340 Dörfer à 10.000 Gleichgesinnten zerfällt. Die eine Fußball-Stadt ist, wie Pokalfinale und Länderspiele beweisen – als der KURIER 10 Karten für Brasiliens Kräftemessen mit Neu-Bundestrainer Jürgen Klinsmann im Olympiastadion verloste, zählten wir 16.000 Anrufe in 15 Minuten. Aber eine Hertha-Stadt ist Berlin nicht. Und keine Union-Stadt. Oder Türkiyemspor-, TeBe-, BFC-Dynamo- oder Wünsch-dir-deinen-Verein-Stadt. Willkommen in der wahrscheinlich zersplittertsten Fußball-Metropole auf diesem Planeten. Berlin ist eben immer anders. Wir haben keine Fußball-Identität. Wir haben Hunderte.

Kommen Sie doch einfach mal mit mir mit. Sonnabend, 15.30 Uhr, in eine Fußballkneipe. Zum Beispiel in den Irish Pub "Cliffs of Doneen" am Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg. Brechend voll der Laden, gute 100 Mann (oh, tschuldigung Gnädigste, ich habe Sie übersehen), aber keine Mehrheiten. Im Raum links vom Eingang sitzen die rund 40 Hertha-Fans. Über dem Tresen, sozusagen im neutralen Gebiet, liefert ein Fernseher die Bundesliga-Konferenz. Und hinten, wo der Kicker steht, heißt es: Alarm, die Hessen kommen. Willkommen in der vermutlich einzigen deutschen Fußball-Pinte von Eintracht Berlin oder Hertha FSC. Mittendrin steht Ecki, der Chef, und genießt. "Mit zwei Fan-Gruppen ist immer Stimmung in der Bude. Jubel oder Gestöhne hier, Jubel oder Gestöhne dort. Natürlich gibt es auch mal kleine Gehässigkeiten. Aber das bleibt alles im Rahmen."

Es gibt ganz klare Regeln: "Wenn Hertha nicht spielt, sitzen die Hertha-Fans trotzdem zusammen. Wenn Frankfurt nicht spielt, rücken Gladbach-Fans nach." Einer von ihnen kann das, was auf den ersten Blick so seltsam anmutet, gut erklären. Sven Ottke, Deutschlands einzig ungeschlagen abgetretener Box-Weltmeister, beschreibt das Dilemma vieler Fußball-Fans seiner Generation. "Als ich anfing, mich für die Bundesliga zu interessieren, war Hertha echt nicht mehr dolle", erinnert sich der 41-Jährige. "Natürlich hatte ich meine blau-weiße Kutte, natürlich habe ich mit meinen Kumpels im Fan-Block gestanden. Aber richtig Klasse fand ich die Gladbacher Fohlen mit ihrem genialen Fußball." Genau das ist das Problem des Berliner Sport-Clubs von 1892. Gladbach war 1975, 76 und 77 Meister. Hertha war zwischen 1975 und 1997 nicht weniger als 13 Jahre in der Zweiten Liga. Und zwei Jahre noch tiefer.

"Siehste", sagt Ecki während er ein Guinness zapft, "aus dieser Zeit fehlt Hertha eine ganze Generation. Die Leute haben sich andere Vereine gesucht. Und heute mit den ganzen Zugezogenen ist das nur schwer wieder aufzuholen." Gibt ja auch keine echte zweite Kraft, die sich der Völkerwanderung der Schwaben, Hessen und Hamburger in Richtung Berlin entgegenstemmen könnte. Union spielt tapfer in der dritten Liga. Und der Verein, dem Eckis Liebe gehört, ist aus der luftigen Höhe von zehn DDR-Meistertiteln in Folge abgestürzt ins Jammertal des wohl schlechtesten Vereins-Images der Republik. Dennoch: "Ich habe als Jugendlicher beim BFC Dynamo gespielt. Ich bin und bleibe BFC-Fan." Aufgedeckte Schiri-Schiebereien. Der Ausverkauf durch dunkle Gestalten. Neonazi- und Gewalt-Probleme im Anhang (inklusive Polizei-Übergriffe). Die Wette gilt: Kein anderer zehnfacher Meister in Europa ist übler dran als die Weinroten.

Ecki zuckt mit den Schultern: "Kein Mensch redet heute noch darüber, dass es die echten BFC-Fans damals schon angekotzt hat, wenn der Schiedsrichter Pfeifen-Fieber hatte. Wir wollten gar nicht mir 20 Punkten Vorsprung Meister werden. Wir hatten doch Spieler, um die uns jeder beneidet hat." Thom, Doll und noch viel mehr. Verrückt, dieses längst nicht wiedervereinte Fußball-Feld in der "zusammengeflickten Stadt" (Ecki). Der Verein, der jetzt das Aushängeschild ist, war bis zur Wende die Lachnummer der Nation (West) und muss jetzt mühsam aufholen, was damals verspielt wurde. Und der erfolgreichste Klub auf der anderen Seite der Mauer hatte in dem Moment keine Chance mehr, als Sportkamerad Erich Mielke mit seinen fünf "Karl-Marx-Orden" und dem Titel "Held der DDR" vom Sturmwind der Geschichte weggefegt wurde.

Einer von Eckis Stammgästen mischt sich ein, ebenfalls Dynamo-Anhänger. "Warum wirste denn als kleiner Junge Fußball-Fan?", fragt er rhetorisch. "Weil dein Papa dich mitnimmt zu deinem ersten Spiel. Und je näher du ans Stadion kommst, desto mehr schlottern deine Beinchen. Und dann kriegste glatt Schluckauf." Der Nächste am Tresen fährt mit dem Finger um sein Whiskey-Glas: "Wenn dich dann der Virus erwischt hat, dann gibt’s nichts Schöneres, als selbst der Papa zu sein und den Kleenen zum ersten Mal mitzunehmen."

Genau so ist es.

16. Februar 2008. Hertha gegen Arminia Bielefeld. Ich habe mal keinen Wochenend-Dienst und sitze mit Kai, 4 Jahre und fast 4 Monate, im Olympiastadion. Ein Gurkenkick, aber solange wir ab und zu Herthinho erspähen und es warmen Kakao gibt, geht’s dem kleinen Mann prima. Irgendwann fragt er: "Papa, warum ruft denn niemand mehr Ha, Ho, He?" Für einen Papa gibt es 1.000 Antworten auf diese Frage. Für ein Kind null. Also fangen wir als einzige in unseren Block einfach wieder an. "Ha, Ho, He, Hertha BSC." Warum tut der seinem Jungen das an, fragen die Blicke der anderen. Bis Neuzugang Raffael in der 90. Minute das 1:0-Siegtor schießt. "Ha, Ho, He, Hertha BSC", brüllt das ganze Stadion. Hertha-Fans kommen extra an unseren Plätzen vorbei, um mit Kai abzuklatschen. Geschlafen hat er später selig im blau-weißen Trikot. Als Hertha-Fan, vielleicht fürs ganze Leben.

"Siehste", sagt Ecki. Und hat Recht. Denn nur das ist die Anwort. Solange der Berliner Fußball nicht eine ganze Generation lang (und länger) neue Fans begeistert, haben es die Dortmunder und Stuttgarter und Frankfurter und Gladbacher ziemlich leicht in der Hauptstadt. Das erkennt man nicht bei Länderspielen, wenn alle gemeinsam ins Olympiastadion strömen. Und auch nicht beim Pokal-Finale. Aber an jedem einzelnen Bundesliga-Spieltag zersplittert die Fan-Szene. Im Treppenhaus, in den Kneipen, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis. Das Spiel läuft. Und Berlin liegt immer noch zurück.


Andreas Lorenz, Berliner Kurier, 31.12.2008