Der Tod eines Fußballspielers und der lange Arm der Stasi / Der Verdacht erhärtet sich: Lutz Eigendorf, der einstige "Beckenbauer des Ostens", wurde das Opfer eines politischen Mordes

Der schwarze Alfa Romeo, Kennzeichen GF-EL 96, befährt die Braunschweiger Forststraße von Querum in Richtung Bienrode. Es ist kurz nach 23 Uhr am 5. März 1983, als in einer Rechtskurve am alten Bahnhof Querum plötzlich auf der anderen Straßenseite ein Wagen die Scheinwerfer einschaltet. Der Fahrer des Alfa wird so geblendet, dass er die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert und gegen einen Baum rast. Lutz Eigendorf (26) stirbt 34 Stunden später in der Braunschweiger Unfallklinik an einem schweren Schädelhirntrauma und Brustverletzungen. Der Profi-Fußballspieler des damaligen Bundesligavereins Eintracht Braunschweig war nicht angeschnallt, seine Blutprobe wies einen Blutalkoholwert von 2,20 Promille nach. Ein Sachverständigengutachten schloss Fremdverschulden aus. Das scheint voreilig gewesen zu sein.

In seiner Dokumentation "Tod dem Verräter - Der Fall Lutz Eigendorf", die die ARD am Mittwoch, 22. März, um 21.45 Uhr sendet, belegt der WDR-Journalist Heribert Schwan, dass der Fußball-Profi Eigendorf nach seinem Wechsel vom BFC Dynamo Berlin zum 1. FC Kaiserslautern mit seiner Familie in die Fänge des Staatssicherheitsdienstes geriet. Schwans Recherchen und ein Dokument der Gauck-Behörde legen nahe, dass der politisch uninteressierte Sportler Opfer einer perfiden Operation des Staatssicherheitsdienstes der DDR wurde. Eigendorf, scheint es, wurde ermordet. Schwan führt in seinem Beitrag die absurden Bemühungen eines Staatsapparates vor, einem prominenten Republikflüchtling in einer mehrjährigen personal- und kostenaufwendigen Unternehmung abzustrafen.

Die Vermutungen über eine Verstrickung der Behörde Erich Mielkes in den Todesfall Eigendorf sind nicht neu. Schon 1990 gab es vage Anhaltspunkte, die sich auf einen Geheimbericht des Bundesnachrichtendienstes beriefen. Schwan indes fiel erstmals ein 32-seitiges, handschriftliches Dokument aus der MfS-Hauptabteilung XXII in die Hände, dass die Wirkung von chemischen Substanzen auf den Menschen bis zu seiner Vernichtung beschreibt. Auf Seite 22 geht es um Gifte und Gase. In Zeile neun findet sich die Abkürzung "E.", in Zeile 14 steht "verblitzen" und der Name "Eigendorf". Der Rechercheur Schwan schließt daraus und aus weiteren Informationen aus dem Mielke-Apparat, dass Eigendorf in seinem Alfa gekidnappt wurde, unter Todesdrohung Alkohol mit einer giftigen Substanz eingeflößt bekam und, als er aufgefordert wurde zu verschwinden, in Todesangst weggerast sei. Dann kam es zum "Verblitzen" in der Kurve.

Lutz Eigendorf, als "Beckenbauer des Ostens" gefeiert, hatte sich den Zorn des mächtigen Mielke zugezogen, indem er sich am 21. März 1979 auf einer Westreise von seiner Mannschaft absetzte und in der Bundesrepublik blieb. Der DDR-Nationalspieler Eigendorf setzte sich ab, weil ihn der Luxus reizte. Eigendorf, beobachtete Karl-Heinz Feldkamp, sein Trainer beim 1. FC Kaiserslautern, habe immer die neuesten technischen Geräte gekauft "und wollte vom Training freigestellt werden, um Flugstunden zu nehmen". Unmittelbar nach der Flucht bereits, zeigen Schwans Recherchen, setzte das Ministerium für Staatssicherheit die Daumenschrauben an. Eigendorfs Ehefrau Gabriele wird von Stasi-Leuten zur "Klärung des Sachverhalts" auf das Polizeipräsidium gebracht.

In der Folge verhindert die Stasi jeglichen Kontakt zwischen dem geflohenen Spieler und seiner Familie. Eigendorf wollte mit Hilfe seines neuen Klubs Kaiserslautern und mittels Fluchthelfern seine Familie nachholen. Schließlich setzen die Mielke-Leute gar einen langjährigen Freund der Eigendorfs als Liebhaber auf die zurückgebliebene Ehefrau an. Später heiratet dieser die zwangsgeschiedene Gabriele Eigendorf sogar und liefert dennoch regelmäßig Berichte. Im Westen werden ebenfalls Spitzel auf den zwar ängstlichen, aber dennoch gutgläubigen Kicker angesetzt. Zwei Stasi-Mitarbeiter werden eigens in den Westen geschickt, um daran mitzuarbeiten, an dem abtrünnigen Vorzeige-Fußballer ein Exempel zu statuieren. Einer, der IM "Klaus Schlosser" alias Karl-Heinz Felgner, kassiert nach dem Tod 500 Mark. Am 17. März 1983 wurde Lutz Eigendorf auf dem Waldfriedhof in Kaiserslautern beigesetzt.


Jörg Winterfeldt, Die Welt, 21.03.2000