Schokolade vom bösen Onkel

Die Fußballspieler aus dem Osten stellen mittlerweile ein Drittel der Nationalelf. Doch mit Hansa Rostock und Energie Cottbus sind die beiden letzten Proficlubs vom Abstieg bedroht. Der Frust des Anhangs wird politisch radikalisiert, es wächst die Wut auf den Westen.
Frau Giese sitzt im Chefzimmer und ringt mit dem Computer. Sie hat den Auftrag, eine Mannschaftsaufstellung in dieses Gerät einzutippen, aber das geht nur mit Mausklick, und den beherrscht sie nicht. Als die Mauer gefallen war, hatte Frau Giese einen Kurs belegt und einfache Schreibprogramme gelernt. Jetzt glotzt sie in den verdammten Bildschirm und sucht Rat beim Gast aus dem Westen: "Genn' Se sisch mit där Maus aus?" Frau Giese ist Sekretärin beim ostdeutschen Fußballverein FC Berlin. Das Zimmer, in dem sie sitzt, gehörte früher Erich Mielke. Es war die Zeit, als der FC Berlin noch Berliner FC Dynamo hieß. Dynamo gehörte der Staatssicherheit, die Staatssicherheit gehörte Mielke, und deshalb war Mielke nicht nur ein Menschenschinder, sondern auch ein Fußballpräsident. Sein Club gewann immer, er wurde zehnmal hintereinander Meister der DDR, weil auch die Schiedsrichter Mielke gehörten.

Der härteste Fanclub von Dynamo wohnte in Wandlitz. Volkmar Wanski brachte seinen Sohn zu Dynamo Berlin, als der sechs Jahre alt war. Das war ein Jahr vor der Wende; Wanski wollte, daß aus dem Jungen mal ein anständiger Fußballspieler wird. Daraus ist nichts mehr geworden, aber dafür ist der Vater jetzt Präsident des FC Berlin. Wanski ist Mielkes dritter Nachfolger. Das Chefzimmer sieht aus wie Mielkes Museum, es hat sich nichts verändert, bis auf den Computer. Neben dem steht ein in Bronze gegossener Fußballspieler mit einer krachenden Inschrift: "Ehrenpreis des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik für den Meister der DDR im Fußball". Auch Erichs Kuscheltier gibt es noch, es ist ein Teddybär mit Fußballtrikot. "Dank den Genossen der Trainingsgaststätte", steht da drauf. Als die Mauer fiel, rückten die Herrschaften mit den Geldkoffern im Osten an, Dynamo verkaufte seine besten Spieler und änderte seinen Namen - ein Gebot der Hygiene.

Heute steht der FC Berlin in etwa so gut im Saft wie sein ehemaliger Chef, der neulich zum 91. vom Berliner Bezirksamt Hohenschönhausen eine rote Nelke mit Grünzeug im Wert von acht Mark bekam. Die Perle des DDR-Fußballs spielt jetzt in der Regionalliga Nordost, einem Sammelbecken für 18 Vereine, denen es früher einmal besser ging. Zwei Clubs aus dem Osten sind bei den Profis noch übriggeblieben, Hansa Rostock in der Ersten und Energie Cottbus in der Zweiten Liga. Rostock ist auf einem Abstiegsplatz angekommen, Cottbus ist kurz davor, und wenn sie so weitermachen, dann ist der Westen bald wieder unter sich und der Osten endgültig verschwunden. Das wäre nicht gut für die Republik. Daß Fußball wichtig ist für die Stimmung draußen im neuen Lande, wußte schon Helmut Kohl. Als der noch Wahlkampf machen konnte, versprach er den deutschen Bewerbern um die Weltmeisterschaft 100 Millionen Mark vom Bund, um damit das Leipziger Zentralstadion, eine ostdeutsche Bruchbude, hübsch zu machen.

Jetzt will auch Gerhard Schröder zahlen. Die Wirklichkeit würde aber selbst ein funkelndes Fußballstadion, auferstanden aus Solidaritätsbeiträgen, nicht mehr ändern. Im Sportforum Hohenschönhausen, wo der FC Berlin zu Hause ist, arbeitet Birger Schmidt. Er ist Sozialpädagoge und angestellt beim Fanprojekt Berlin, seine Klientel sind Menschen, die in Ostdeutschland zum Fußball gehen. "Die Leute wünschen sich die alte DDR-Oberliga zurück", sagt Schmidt, "am besten wäre, Cottbus und Rostock würden auch noch durchgereicht." Wenn Rostocks Fans auf Reisen gehen, dann singen sie: "Wir sind die Jungs vom Getränkekombinat Hanseat." Wenn die Regionalliga Nordost Fußball spielt, dann ist das, als würden nicht 10 Jahre Wiedervereinigung, sondern 50 Jahre DDR gefeiert. Die Menschen, sagt Schmidt, hätten die Hoffnung, daß alles noch mal so wird, wie es mal war. Und die Wessis seien schuld, daß das nicht geht. Die Wessis. Die Wessis haben eine Hundertschaft Ossis aus ihren Clubs rausgekauft.

Die Wessis, die immer meinten, sie könnten besser kicken als die übrige Welt, brauchen inzwischen die Ossis, um überhaupt noch mal ein Länderspiel zu gewinnen; ein Drittel von Ribbecks Männern wurde in der DDR ausgebildet. Jedesmal wenn Volkmar Wanski in Mielkes Zimmer kommt, das jetzt seins ist, fragt er sich, wann ihn seine Frau für bescheuert erklären wird. Wanski ist im Hauptberuf Bauunternehmer. Das Geschäft blüht, der Präsident stopft jedes Jahr 300.000 Mark in seinen Club und ist damit dessen einziger Sponsor. Die ganze Republik zieht nach Berlin, aber keiner will ihm Geld geben. "Berlin", sagt er, "ist ein beschissenes Pflaster für zweitklassige Sachen." Der FC Berlin ist nicht mal zweitklassig, deshalb kommen im Schnitt auch nur 500 Leute zu den Heimspielen. Aber Wanski ist nicht auf den Kopf gefallen. Letztes Jahr wurde er beim Mitteldeutschen Rundfunk mit der Idee vorstellig, den FC Berlin wieder in Dynamo umzubenennen.

Der Sender machte eine TED-Umfrage, 67 Prozent der Leute waren dafür. Seitdem sind 150 Mitgliedsanträge auf der Geschäftsstelle eingegangen. Einer mit Glatze und Springerstiefeln kam persönlich vorbei und gab einen Brief dazu ab. Er schrieb, daß er geheult habe, als er die Sendung sah, weil er schon als Kind immer zu Dynamo "jeloofen" kam. Ein anderer verkauft jetzt samstags vor dem Stadion T-Shirts. Das Modell mit der Aufschrift "BFC Dynamo - Rekordmeister der DDR" kostet 30 Mark. Und wenn ein Tor fällt, rufen die Leute: "Diinahmoo." Und: "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit." "Alles reiner Protest", sagt Wanski. "Es ist die blanke Wut auf Wessis." Damals bei Dynamo gab es bloß ab und zu Prügel von den Vopos, aber sonst war alles bestens. Heute sind die persönlichen Aufstiegschancen mit denen des Fußballvereins vergleichbar: Wenn beide bei Null liegen, verfestigt sich der Frust und wird politisch radikalisiert. Da darf sich keiner wundern, wenn die Jungs gelegentlich ausfällig und deshalb meistens im Polizeikessel in fremde Stadien eskortiert werden.

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Matthias Geyer, DER SPIEGEL, 29.03.1999