Hooligans: Geister, die ich rief, die werd' ich nun nicht los / Radikaler Ausdruck einer gesellschaftlichen Grundstimmung

Zum sechzehnten Mal findet eine Fußball-Weltmeisterschaft statt, im wahrsten Sinne des Wortes: ein Welt-bewegendes Ereignis. Die französischen Organisatoren kündigten bereits vorher an, was in der Mediengesellschaft unserer Tage sowieso zu erwarten war: Diese WM werde die Mega-WM der bisherigen Geschichte. Und das wurde sie auch - aber in einem anderen Zusammenhang... Noch nie spielten so viele Mannschaften in einem internationalen Turnier: 32 an der Zahl. Noch nie wurden derartige Profite erzielt, war das Aufgebot an internationalen Medienvertretern so groß. Auch das "Sicherheits"aufgebot wurde auf ein bisher nicht gekanntes Ausmaß gesteigert. Jede Mannschaft wird von einer eigenen Anti-Terroreinheit bewacht. Die Körper- und Taschenkontrollen vor den Stadien werden nicht von adretten und freundlich lächelnden Kartenabreißern erledigt, sondern von Einsatzhundertschaften der französischen Gendarmerie, die bekanntlich Einheiten des Militärs und lediglich in Friedenszeiten dem Innenministerium unterstellt sind.

Am 29. Mai 1985 kam es anläßlich des Europapokalendspiels der Landesmeister im Brüsseler Heysel-Stadion zu europa- und weltweit live übertragenen Ausschreitungen von Hooligans, in deren Folge 39 Menschen starben. In der Reaktion auf dieses Ereignis formulierte der französische Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard in seinem Aufsatz "Das Heysel-Syndrom" bereits vor vierzehn Jahren: "Bestürzend für mich ist, daß ein solches Ereignis in gewisser Weise von aller Welt erwartet, herbeigesehnt wird. Jedenfalls wird es vom Fernsehen erwartet, so daß es heutzutage geraten scheint, sich nicht an öffentlichen Plätzen aufzuhalten, an denen das Fernsehen zugegen ist, weil die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß dessen bloße Anwesenheit ein gewaltsames Ereignis zur Folge hat. Wir alle sind gleichsam heimliche Komplizen in der Erwartung eines verhängnisvollen Geschehens, selbst wenn wir überrascht und bestürzt sind."

Gleiches ist für die WM '98 festzustellen. So malten verschiedene Zeitschriften bereits weit vor Beginn des Coupe du monde die Schlachten an die Wand, über die sie jetzt reißerisch herziehen, so z. B.: "Hooligans drohen: Die WM wird unsere Krawall-Orgie!" (Neue Revue 5/98). "In Vorbereitung auf die WM" brachte das Deutsche Sportfernsehen im Mai einen einstündigen Hintergrundbericht über Hooligans des BFC - Hooligan sein wird durch Medien erst schön. Als 1984 das letzte Fußball-Großereignis in Frankreich stattfand, die damalige Europameisterschaft, ging in der Presse das Schlagwort der "Frankreich-Invasion" um, das sich verschiedene sehr einfallsreiche deutsche Fans auf ihre T-Shirts hatten drucken lassen. Anläßlich der Europameisterschaft '96 in England titelte die britische Boulevardpresse mit "Surrender! Fritz!" und nahm so die kurz vorher in Focus-TV von einem gedungenen "Szenekundigen" ausgestoßene "Fußballkriegserklärung" an.

Nachdem es beim Spiel der englischen Nationalmannschaft gegen Tunesien am 15. Juni in Marseille bereits zu üblen Auseinandersetzungen gekommen war, in deren Verlauf ein englischer Fan schwer verletzt wurde, war das Szenario für Lens fest vorgegeben: Es mußte zur Schlacht kommen, egal gegen welchen Gegner. In Ermangelung jugoslawischer gewaltbereiter Fans bot sich nur noch die - nicht nur infolge der Ereignisse von Marseille - massiv und mindestens ebenso martialisch wie die Hooligans angetretene Staatsmacht an. Neben den Tausenden Fans ohne Karten und den Vertretern der Weltpresse samt Kamerateams bestimmten das Straßenbild in Lens die Kommandos der militärischen Aufstandsbekämpfungs- und Spezialeinheit CRS, die sich ihren Namen insbesondere bei der Niederknüppelung von streikenden französischen Arbeitern erworben haben. Dennoch ist festzuhalten, daß der Angriff auf den in Lens fast erschlagenen Polizisten eine mit nichts zu rechtfertigende Grenzverletzung darstellt, für die jeder der zirka 500 bis 600 angereisten deutschen Fans aus der gewaltbereiten Szene Mitverantwortung trägt.

Kaum weniger die über 8.000 "friedlichen" deutschen Fans ohne Karten, die sich zu keinem Zeitpunkt deutlich von den ebenfalls nach Lens angereisten 100 bis 150 Neonazis distanzierten, deren deutlich erkennbares und artikuliertes Ziel von Anfang an die medienwirksame Auseinandersetzung mit der französischen Polizei war - Reichskriegsflagge und Horst-Wessel-Lied inklusive. Nicht zuletzt tragen auch die deutschen Sicherheitsbehörden ihren Teil der Verantwortung, die in bewährter Staatsschutzmanier bereits weit vor Lens aus dem Internet die Erkenntnis gezogen hatten, daß das Länderspiel Deutschland gegen Jugoslawien von deutschen Neonazis - so wie 1996 bereits das Länderspiel gegen Polen in Zabrze - erneut als international und medial gut vorbereitete Propagandabühne für ihre menschenverachtende Ideologie genutzt werden sollte.

In Lens kam verschärfend hinzu, daß das diffuse Gewaltpotential der gewaltbereiten Fußball-Fans systematisch für die Inszenierung eines neonazistischen Riots von 100 bis 150 Krawallmachern instrumentalisiert wurde. Die eher unfriedliche Geschichte Deutschlands und Frankreichs bis l945 lieferte dafür den idealen Background. So hieß es bereits Wochen vorher auf der Homepage einer rechtsextremen Gruppe, des Siegener Bärensturms: "Freuen uns auf gepflegte Games anläßlich des Frankreichüberfalls". Und so geschah, womit jeder Szenekenner - inklusive der sonst doch immer präsenten Polizei - spätestens nach den Ereignissen im September 1996 im polnischen Zabrze ("Wir grüßen die Schindler-Juden!") rechnen mußte und die Öffentlichkeit rechnen durfte.

Einschaltquoten und Werbeeinahmen waren gesichert, der Vorwand für verschärfte Sicherheitsmaßnahmen war geliefert, die auch umgehend im Schnellverfahren beschlossen wurden (Erweiterung der Befugnisse des BGS), und überdies war erneut der Beweis dafür geliefert, daß jugendlichem (Fußballfan-) Verhalten eben nur repressiv begegnet werden kann. Vom "Hooliganterror" (Bild) ist die Rede, dem nur noch mit den Mitteln der Anti-Terror-Gesetze zu begegnen sei. Welch ein Glücksfall für die innenpolitischen Scharfmacher von CSU bis SPD, die sich bekanntermaßen selbst dann noch dagegen wehrten, die Lex RAF abzuschaffen, als diese bereits ihre Selbstauflösung bekanntgegeben hatte. Vom "Tier im Menschen" (Der Spiegel) wird schwadroniert, und die Jugendkultur des Hooliganismus unter Zuhilfenahme namhafter Seelenkenner trefflich psychologisiert.

Sogleich sind auch die Stimmen vernehmbar, die von "kaum resozialisierbaren Tätern" (Kanther) sprechen und, wie Michael Schumacher, fragen, "ob man die überhaupt Menschen nennen darf?" Denn: "Bei einem Tier geht man hin und schläfert es ein. Vielleicht sollte man das gleiche da auch machen." Auf der Strecke bleibt der innere Zusammenhang zwischen dem, was so medienwirksam öffentlich als "Schande" verurteilt wird, und der inneren Struktur eben der Gesellschaft, deren Kinder die Gewalttäter von Lens sind. Die wohlanständige bürgerliche Gesellschaft empört sich nicht zuletzt deshalb so heftig über das Verhalten der Hooligans, weil sie sehr bewußt wahrnimmt, daß diese in der Konsequenz ihres Tuns lediglich das extreme Zerrbild genau jenes männlichen Stärkekultes sind, der von den Machern des postfordistischen Kapitalismus in Industrie und Politik als Erfolgsrezept verkündet wird: "Never change a winning team" ist nicht nur der T-Shirt-Aufdruck jener Jugendlichen, die nach den Ausschreitungen von Lens dem Haftrichter vorgeführt wurden.

Es ist auch das Motto jener auf Kosten von Zehntausenden Arbeitsplätzen die Dividende ins Unendliche treibenden Industriemanager, die dabei sind, Terrain auf dem Weltmarkt zu erobern. Fünf Tage, nachdem der französische Polizist ins Koma geprügelt wurde, berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift "Lieber Hooligan als Muckefucktrinker" über das Leben und Werk des VW-Vorstandsmitglieds und PR- Verantwortlichen Klaus Kocks; eines deutschen Spitzenmanagers, der für sein Tun ein Jahressalär von DM 1.000.000 einstreicht. Gegner bezeichnet er als "Breitärsche" und "Muckefucktrinker", denen er im ausgerufenen "Wirtschaftskrieg" an "die Hose geht, wann immer er kann". Kocks seufzt zufrieden: "Man kann uns nicht als zimperlich bezeichnen."

Zurück nach Lens: Die deutsche "Nationalelf" war kurz davor, schon frühzeitig nach Hause geschickt zu werden, und zwar durch Tore eben jener vorher bereits als Feinde identifizierten und öffentlich inkriminierten "Jugos" (Bild- Zeitung vor dem Spiel in Anspielung auf die Namensendungen der jugoslawischen Spieler: "Berti, witsch sie weg!"). Aber dank der deutschen Tugenden "Kampfgeist, Disziplin und Moral" gelang dann doch noch das 2:2- Unentschieden. Alles in Butter, wäre nicht in allzu vielen Kommentaren am Montag von der "Brechstange" und der "deutschen Walze" die Rede gewesen, mit der angeblich der Ausgleich "erkämpft" worden war. Der Hooligan ist die Verkörperung der extremen Form postmoderner A-Sozialität - im wahrsten Sinne des Wortes. A-sozial nicht etwa deshalb, weil er gesellschaftlich und/oder ökonomisch marginalisiert ist.

Zu den Hooligans gehören neben Schülern, Studenten und Arbeitslosen zum großen Teil berufstätige junge Männer, die teilweise hochdotierten und geachteten Beschäftigungen nachgehen (z. B. Banker und Juristen); das ist mittlerweile Allgemeinwissen. A-Sozial deshalb, weil sie das Credo des postfordistischen Kapitalismus, das Loblied der ungezügelten Aggressivität am konsequentesten, nämlich in der archaisch maskulinen Konfrontation Mann gegen Mann auch auf der Straße, ausleben. "Die Sprache der Kriegsberichterstattung", schreibt Ulf Poschardt in der Süddeutschen Zeitung, "wie sie bei Sportübertragungen gepflegt wird, ebenso wie die gesellschaftliche Sublimationsfunktion von Sport als einem nichtideologischen "gemeinsamen Nenner" findet ihr deutliches Echo in einer Obszönität, die die Gesellschaft gerade deshalb so erschreckt, weil sie darin auch ihre mühevoll kaschierte Gewalttätigkeit und ihr postmodernes “Anything Goes” wiedererkennen könnte. Die Hooligans machen mit beidem bitter ernst. Sie verkörpern damit (...) die ”versteckte Kehrseite", das Zentrum einer Ideologie."

Die neonazistische Inszenierung von Lens überrascht insofern auch nicht mehr. Denn auch diese war, nicht verhindert von den informierten Behörden, nicht weniger als der radikale Ausdruck einer gesellschaftlichen Grundstimmung, die sich in Deutschland neben brennenden Flüchtlingsunterkünften in Parteiprogrammen äußerte: "Deutschland ist kein Einwanderungsland!" Unterdessen streichen die Mega-Profiteure satt lächelnd über den frisch gefüllten Geldsack und bereiten das nächste Großereignis vor: die Fußball-Europameisterschaft 2000 in Belgien und Holland. Und während so neuerlich die a-soziale Struktur der herrschenden Verhältnisse medienwirksam als Jugendproblem identifiziert wird, beendet eine Millionenstadt wie Köln aus Gründen des Sparzwangs (65 000 DM pro Jahr) ein bestätigtermaßen erfolgreich arbeitendes gewaltpräventives Fan-Projekt zum 31. Juli diesen Jahres und überläßt die betreuten Jugendlichen den Wolfsgesetzen eben dieser herrschenden Verhältnisse. Weder an den Ausschreitungen in Paris noch an denen in Lens waren nach Erkenntnissen der mobilen Fan-Botschaft Kölner Hooligans beteiligt! Von diesen wurde nicht einer verhaftet.


Andreas Buderus, Junge Welt, 08.07.1998