"Warum schaust du hinterher?" / Vier Ostdeutsche, zwölf Monate Einheit: Warum der Wandel so wenig im Leben änderte (auszugsweise)

Damals war das Jahn-Stadion voll. Damals rief noch keiner "Stasi-Klub". 1978 wurde der Berliner FC Dynamo erstmals DDR-Fußballmeister und dann zehnmal nacheinander, begleitet von Volkswut und umwittert von Gerüchten. Schiedsrichter bestochen, geschenkte Elfmeter, Zwangsdelegierungen der besten Spieler zum BFC: Doll, Bonan, Schulz... aus Rostock, Magdeburg, Brandenburg - fortan Hochburgen des Hasses. "Da drüben hat Mielke immer gesessen", sagt Jürgen Bogs. Da drüben ist die Tribüne mit dem roten Sessel-Separee für die Prominenz. Erich Mielke war Fußballfanatiker, der BFC sein Leibverein und Jürgen Bogs (44) während all der Meisterjahre dessen Trainer. Nie hätte ich mich damals mit ihm unterhalten - wie auch und worüber? Uber den absurden Mikrokosmos Sport, als der das kleine Land sich aufblies und beschränkte? Uber den aberwitzigen Glauben derer da oben, unsere prächtigen Jungen und Mädel mit ihren unvermeidlichen Medaillen, Medaillen, Medaillen stifteten DDR-Identität?

Fußball war das Schmerzenskind. Für die Fußball-Weltmeisterschaft hätte man wohl alles hingegeben Schwimmen, Paddeln, Diskuswerfen und den ginzen Klunkerkram. Denn Fußball, das war Kampf der Systeme, und der Feind stand drinnen wie draußen. Unvergeßlich ein BFC-Spiel beim Leipziger Lieblingsverein Chemie, der gerade seinen besten Stürmer an die Berliner hatte abgeben mussen. "Pelka, komm zurück von den roten Säuen", schrie Volkes Stimme, "du bist doch einer von uns!" Pelka kämpfte sichtlich und schoß für den BFC ein Tor. Die Leipziger hätten ihn wohl gern gelyncht. Jetzt trug er selbst das Kainsmal, der Verräter. "Bayern München wird auch gehaßt", sagt Jürgen Bogs. "Das ist so, wenn man lange Erfolg hat. Von Schiedsrichterbestechungen wußte ich nichts. Und was den Thomas Doll betrifft: Als Rostock 1986 abstieg, sollte er laut Verband nach Leipzig. Er wollte aber zu uns, zu seinem Freund Andy Thom." Das alles ist Schnee von gestern.

Nach der Wende wechselte Thom nach Leverkusen, Doll über Hamburg zu Lazio Rom, Rohde nach Hamburg, Reich nach Karlsruhe, Bonan nach Bochum... Der BFC Dynamo, flugs umgetauft in FC Berlin, verdiente dabei viel Geld und verpaßte die 2. Bundesliga. Doll, wie Ex-Parteimitglied Thom, ist jetzt gesamtdeutscher Nationalspieler und der FCB so etwas wie die Fußball-PDS. "Uns beschimpfen sie immer noch als Stasi-Schweine, auch die neuen Spieler wie den Russen Michail Pronischew und Dirk Rehbein aus Köln." Da die DDR-Geschichte nicht tragisch zu Ende ging, hat sie vielleicht eine Pflicht zur Komödie. Hätte man den Klub nicht besser auflösen sollen? - "Nein", sagt Bogs fest, "dagegen habe ich gekämpft. Was konnten die Spieler für Mielke? Neunzig Prozent der Leute beim Klub hatten nichts mit der Stasi zu tun." - Und er selber? "Nein." Aber Bogs stand unter Druck. Die Vorstände des BFC und von Dynamo Dresden hatten zweimal jährlich der Zentralen Leitung der Polizeisportvereinigung Dynamo ausführlichst zu berichten (andere Klubs den stellvertretenden SED-Bezirkssekretären).

"Das Rapportsystem war üblich. Aufmucken wurde nicht geduldet." Auch nicht, als 1982 gegen den HSV das Stadium mit Stasi-Beamten gefüllt wurde, um Anfeuerung für Hamburg zu verhindern. "Die echten Fans blieben ausgesperrt. Das haben sie uns nie verziehen." Beim Europapokal der Meister landete der BFC Jahr für Jahr zeitig im Aus. Besonders kreidete man Bogs an, wie im Oktober 1988 das Prestige-Duell gegen Werder Bremen verlorenging. 3:0 für Berlin hieß es nach dem ersten Spiel, 0:5 in Bremen. Im Ministerium für Staatssicherheit wurde eine Revisionskommission eingesetzt, die etwa sechzig Leute nach Gründen für die Pleite ausforschte. Bogs mußte abdanken. Später holte man ihn wieder.Pars pro toto erklärt Jürgen Bogs anhand des Fußballs die DDR. Grund zum Grübeln gab es genug für ihn, der seine Spieler "zu guten Fußballern und zu guten Staatsbürgern erziehen" wollte.

1979 setzte sich Lutz Eigendorf nach Kaiserslautern ab. 1983, vor dem Europaspiel in Belgrad, verschwanden Dirk Schlegel und Falko Götz. Von Stund an wurde vor jedem westlichen Auswärtsspiel peinlich recherchiert: keine Hotelbuchungen fürs Parterre. Unterbringung der gesamten Mannschaft auf demselben Flur. Nachts hielten Arzt und Co-Trainer Etagenwache. Individuelle Einkaufsbummel in der City entfielen. Im Trainingscamp wurde den Spielern das Westfernsehen nicht nur untersagt, sondern mittels einer Sendersperre verbaut. Ihre Westkollegen fuhren im Porsche vor. "Der DDR-Fußball ist am mangelnden Selbstvertrauen gescheitert", sagt Bogs, "und an mangelnder Selbstforderung. Die Spieler bekamen 1.500 bis 2.500 Mark Grundgehalt plus Prämien. Was sollte sie noch motivieren?" Den Abgang der DDR hat er mehr gespürt als erwartet. Westlich bereist, fühlte er sich daheim "auf dem Mond". Den Fluchtsommer '89 erlebte er hautnah, als Urlauber in Ungarn.

Als die Mauer fiel, freute ihn die allgemeine Reisefreiheit und daß er nun mit Frau und Kindern fahren könnte. Nach den "Aufdeckungen" verließ er die SED und will "nie wieder einer Partei beitreten". An den Wende-Demonstrationen nahm er nicht teil; er sei kein Typ, der auf die Straße geht. Die oppositionelle Prominenz war ihm fremd wie die Kirche. Den 3. Oktober 1990 hat er mit seinem FCB im "Interconti" verbracht, zu Gast bei Tennis Borussia Westberlin. Wie er sich damals fühlte? Er überlegt; das ist wohl weit, weit weg. "Wie ich mich kenne, hatte ich keine besonderen Emotionen. Fußball haben wir gespielt. Ganz freundschaftlich, 0:0". Jürgen Bogs' Fall ist tief, vom Meistermacher zum Amateuroberliga-Trainer. Doch freut er sich, noch Arbeit zu haben. Vielleicht klappt's ja mit dem Aufstieg. Jetzt beginnt das Spiel, wieder gegen Tennis Borussia. Im Tor der Westberliner steht nun Bodo Rudwaleit, zwölf Jahre lang Torwart beim BFC. "Wessi-Bodo, winke mal!" Bodo winkt und kassiert das entscheidende 0:1. Hinter der Dammkrone des Jahnsportparks versinkt die Sonne im Wedding. Damals war dort Westen. (...)


Christoph Dieckmann, Die Zeit, 41/1991