"Hemmschwelle ist bei unseren Beamten höher" / Polizei: Etwas wie in Leipzig in Berlin unmöglich / "Mit Ruhe und Gelassenheit" geht die Berliner Polizei an das Heimspiel des FC Berlin gegen Chemie

Halle am Sonnabend. Werner Thronicker, der Sprecher der Innenverwaltung, zeigt sich zuversichtlich. Zu dem Unglück in Leipzig, bei dem der 18jährige Berliner Mike Polley ums Leben gekommen ist, wäre es in Berlin nach Ansicht des Landesvorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Burkhard von Walsleben, nicht gekommen: "Bei nach Weststandards ausgebildeten Beamten ist die Hemmschwelle für den Einsatz von Schußwaffen höher." "Die Ausbildung scheint mir da der große Knackpunkt zu sein", urteilt der GdP-Vorsitzende. Beispiel: Die West-Polizisten erhielten ein Anti-Streß-Training, um in Bedrängnis die Nerven zu behalten. Die Kollegen der ehemaligen Volkspolizei seien für solche "Großlagen" nicht geschult. In Situationen wie einem randaleverdächtigen Fußballspiel habe man in der ehemaligen DDR Armeeangehörige, nicht Polizisten eingesetzt, erklärt der Sprecher der Innenverwaltung.

Bei dem Fußballspiel am Sonnabend, das im ehemaligen Dynamo-Sportforum stattfindet, würden ausschließlich Beamte aus den fünf westlichen Einsatzabteilungen in Aktion treten, die in der gleichen Besetzung auch vor der Vereinigung in West-Berlin existiert haben, kündigt Thronicker an. "Diese Beamten werden für den Einsatz besser qualifiziert sein als die Leipziger Kollegen." Thronicker verweist auf einschlägige Erfahrungen etwa mit den "Hertha-Fröschen". Bereits gestern haben sich Verantwortliche des Vereins mit Behördenvertretern zu einer vorbereitenden Sitzung zusammengesetzt und stark verschärfte Sicherheitsmaßnahmen beschlossen. Bei dem Toten vom vergangenen Sonnabend handelt es sich um den 18jährigen Verkaufsfahrer Mike Polley aus Malchow im Bezirk Hohenschönhausen. Der als Mitläufer geltende junge Mann war unbewaffnet. Die Eltern des an einem Kopfschuß Verstorbenen haben Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Der junge Berliner hatte erst im Juli eine Ausbildung als Ofensetzer und Fliesenleger beendet. Zu seiner Familie gehören auch eine jüngere Schwester und ein jüngerer Bruder.

Der Geschäftsführer des FC Berlin, dessen mitgereiste Fans teilweise für die Krawalle von Leipzig verantwortlich waren, wendet sich gegen einen Ausschluß seines Vereins aus der Oberliga Nordost. Die Leipziger Polizei habe Warnungen in den Wind geschlagen, äußerte Dieter Fuchs in einem Interview in Rias-TV. "Es gab mehrere Anrufe", in denen wir mitgeteilt haben: "Entweder es kommt keiner, oder es kommen 300", wird Fuchs zitiert. Den Forderungen nach Ausschluß hält er auch entgegen, daß die Krawalle nach dem Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft in Luxemburg auch nicht zum Verbot geführt hätten. Ein Hooligan kündigte gestern in einem Interview im "Berliner Rundfunk" Rache gegen den Schützen und den Einsatzleiter von Leipzig an: Er habe "astreine Fotos" und das Geschoß: "Wir haben unseren Freund ins Krankenhaus gefahren. Als wir ihn auf die Trage legten, ist das Projektil herausgefallen." Die Berliner AL fordert personelle Konsequenzen in Leipzig: "Gezielte scharfe Schüsse als Antwort auf Steinwürfe sind völlig unangemessen." Schon zum dritten Mal innerhalb von drei Monaten habe die Leipziger Polizei gegenüber randalierenden Fußballfans Schußwaffen benutzt.


Autor nicht bekannt (si), Volksblatt, 06.11.1990