Weil ich der Kleinste war - Teil 5

Mit der Erwähnung dieses größten Augenblicks meiner Dresdener Zeit wollte ich nicht etwa die Probleme der ersten Jahre verschweigen, denn unter gar keinen Umständen darf man daraus ableiten, die Zeit bei Dynamo Dresden wäre nur eitel Sonnenschein gewesen, oder gar, es wäre mir alles in den Schoß gefallen, wir wären eben durch den damaligen Beschluß in die höchste Spielklasse gekommen und fertig war der Oberligaspieler Schröter. So einfach war das nun wieder nicht.

Heimisch in fremder Stadt

Wir standen sogar vor einer komplizierten und recht schwierigen Aufgabe, die sich aus einer riesengroßen Verpflichtung ergab. Wir mußten erstens das Vertrauen des Verbandes rechtfertigen und zweitens, was vielleicht noch schwerer war, wir mußten das Vertrauen der Dresdener erringen. Schließlich waren wir bis auf zwei Mann alles Fußballer aus allen möglichen Städten, nur keine Dresdener. Daß wir uns aber keinen einzigen Tag als Fremde in dieser schönen Fußballstadt fühlten, lag zu einem großen Teil an den Dresdener Fußballfreunden. Dresden und sein Sportpublikum machte es uns leicht, uns sofort heimisch zu fühlen. Das muß man lassen. Dresden hatte nicht von ungefähr den Ruf als Stadt mit einem ausgezeichneten Fußballruf. Und er resultierte nicht nur aus der ruhmreichen Fußballtradition. Das hatte unsere Aufgabe, zu bestehen, nur noch schwerer gemacht. Nein, an dem guten Ruf hatten die Fußballzuschauer maßgeblichen Anteil.

Vom ersten Tag an spürten wir es, bei ihnen zählte die Leistung. Wer sie brachte, dem versagten sie nicht die Anerkennung, der war einer der ihren, ob er nun ihren Dialekt sprach oder nicht. Und so sage ich es gern und ohne Schmus, Dresden und sein herrlich aufgeschlossenes Fußballpublikum haben uns und mir viele Steine auf dem Weg zur Leistung wegräumen helfen. So etwas spornt an und macht das Fußballspielen zur Freude. So etwas erzwingt Leistungen ohne Zwang. Das spürte nicht nur ich, das anerkannten wir alle. Wir dankten es den Dresdenern mit ständig wachsenden Leistungen und wurden ganz von selbst und mit unermüdlichem Fleiß natürlich zu einem prächtigen Kollektiv, das auch nicht einen Augenblick seine Verpflichtungen vergaß. Aber der Kampf ein den Platz in der Mannschaft wurde deshalb noch keinem abgenommen.

Ich spürte das recht deutlich. Unser damaliger Trainer Döring hatte eine Vorliebe für große, kräftige Spieler, und ich bin weit entfernt davon, ihm das zu verübeln, denn neben dem körperlich kleinen Halbstürmer Möbius sollte nun noch so ein Fußballzwerg gegen die starken Abwehrspieler der Gegner stürmen. Das muß ihm einige Sorgen bereitet haben. So spielte ich dann im ersten Kampf gegen Lok Stendal, schoß sogar mein erstes Oberligator, einen Elfmeter, und weil Manni Michael auch noch einen Freistoß in die Maschen donnerte, hatten wir unseren ersten Sieg errungen, aber schon im zweiten Spiel gegen Brieske schaute ich zu. Wer weiß. wozu es gut war. Denn so logisch die Überlegung und die Maßnahme unseres Trainers auch gewesen sein mögen, gewurmt hat es mich über alle Maßen. Das vertrug sich einfach nicht mit meinem Ehrgeiz. Mein Trainingsfleiß war einfach nicht zu bremsen. Und so war dieses Spiel gegen Brieske das einzige, das ich ohne verletzt zu sein, verpaßte.

Und dann der Titel

Bedenkt man es recht, und mißt man es an der Tatsache, daß wir beileibe nicht etwa perfekte Superfußballer waren, so war unser Höhenflug in diesen Jahren phantastisch. Denn schon 1953 wurden wir sogar Fußballmeister unserer Republik, wenn es auch beinahe noch schiefgegangen wäre. Ähnlich wie es Chemie Leipzig drei Jahre zuvor ergangen war, mußten wir zu einem Entscheidungsspiel antreten, um den Titel zu erkämpfen. Unser Gegner war Wismut Aue, eine Elf, vor deren Namen man erschauern mußte. Tröger, Schmalfuß, Siegfried und Karl Wolf, Glaser, Süß, Weißpflog, man könnte sie alle aufzählen. Die Aufgabe schien riesig und unlösbar, wenn es in diesem Falle für uns ein Unmöglich hätte geben dürfen. Nur durfte man nicht außer acht lassen, daß unser Gegner um keinen Deut anders dachte als wir. Kurz und gut. Wir führten zwar durch eine Freistoßbombe unseres Spezialisten für solche Sachen, Michael 1:0, aber dann erschossen uns Tröger und Günther, und Wismut führte 2:1 und war Meister bis unmittelbar vor dem Ende der dramatischen 90 Minuten.

Die Berliner Zuschauer und auch unsere treuen Dresdener Schlachtenbummler schickten sich schon an, den neuen Titelträger gebührend zu ehren - und ehrlich, sie hätten keinen Unwürdigen zu ehren gehabt -, da passierte es. Wir hatten schon immer bange zum Schiedsrichter geschaut, erwarteten jeden Augenblick den Schlußpfiff, aber dann pfiff er doch nur zur Ecke. Der Ball flog hinein. Wie unentschlossen schoß er im Strafraum hin und her. Keiner brachte ihn unter, aber keiner brachte ihn auch richtig weg. Dann hatte er sich offenbar entschlossen, ausgerechnet mich zu versuchen. Urplötzlich rollte er mir vor die Füße. Was jetzt? Vor mir ein Wald von unterschiedlich bestrumpften Beinen. Keine Lücke. Oder doch eine ganz kleine. Wie ich die getroffen habe, weiß ich heute noch nicht. Daß ich sie getroffen hatte, merkte ich erst, als meine Freunde auf mich sprangen und meine gefühllosen Beine einknicken wollten.

So waren beide Mannschaften nach anderthalb Stunden soweit wie zu Beginn. Auf alle Fälle, Meister waren wir immer noch nicht, dazu mußte erst Karli Holze heran, der in der Verlängerung ein gewaltiges Ding aus beinahe 20 Meter einhämmerte. Woher er bloß noch die Kraft hatte. Aber unsere Kondition muß "wohl um eine Kleinigkeit stärker gewesen sein als die unseres Gegners. In der übergroßen Freude nach dem Sieg wollte es dann keiner gewesen sein. Mein Argument: "Ich habe keine Schuld an der Meisterschaft. Mein Tor brachte nicht den Titel. es brachte Wismut nur um den Sieg. Karli ist dafür verantwortlich." Und der: "Wenn du mit deinem Tor nicht gewesen wärst, hätte ich meines gar nicht zu schießen brauchen, weil ich es gar nicht mehr gedurft hätte." Manni Michael machte dann den Reigen vollständig: "Nun sagt bloß noch", lachte er, "daß ich derjenige wäre, welcher." Den Schlußpunkt unter unsere überschwengliche Flachserei setzte dann unser Kapitän Herbert Schoen: "Also gut", meinte er trocken, "Wenn es keiner gewesen sein will, dann waren wir es hinten eben, weil wir zwei Tore zuließen, um euch zu zwingen, drei zu schießen."

Keiner von uns hätte in diesen glücklichen Minuten glauben können, daß diese Meisterschaft 1953 die bisher einzige bleiben sollte, die eine Mannschaft der Volkspolizei erkämpfte. Wir waren recht optimistisch und hatten wohl auch Grund dazu. Aber schon drei Jahre nach diesem Höhenflug erwischte uns der Abstiegsstrudel und riß uns mit. Wir mußten die ganze Bitternis des Marsches nach unten durchkosten und vor allem durchstehen, um im nächsten Jahr wieder nach oben zu klettern. Inzwischen waren wir aus dem uns teuer gewordenen Dresden nach Berlin umgezogen. Soviel Verständnis wir damals auch für diese Maßnahme aufbrachten - Berlin hatte keine Oberliga-Elf mehr -, so brachte sie doch eine gewaltige Umstellung für alle mit sich. Wir mußten uns umgewöhnen, uns neu bewähren, und das vor einem wahrhaft ungewöhnlich kritischen Publikum. In der Tat gelang uns das nicht so recht. Aber das ist beileibe nicht der Grund für den Abstieg. Der hatte andere Gründe.

Willi Conrad, Neue Fußballwoche, 09.07.1963