Dynamo muß sich wieder finden / 0:7 gegen Gwardia offenbarte schonungslos die schlechte Arbeit im Club

Dynamo war einmal eine beliebte, weithin als mit vorzüglichen Fähigkeiten ausgestattet bekannte Mannschaft. Am Sonntag vor acht Tagen wurde sie erstmalig ausgepfiffen. Die Berliner waren ob ihrer völlig unzulänglichen Leistung gegen Gwardia Warschau - und das ausgerechnet am Tage der Volkspolizei - nicht nur enttäuscht, sondern ehrlich empört. Unsere Sportler und die Anhänger verlangen verständlicherweise Aufklärung darüber, welche Hintergründe diese Leistungsrückfall hat. Wir beobachten bereits seit einiger Zeit die Entwicklung dieser Clubmannschaft mit Skepsis. Das 0:3 gegen die Stuttgarter Kickers war dann ein Alarmzeichen. Wir schrieben damals "Die Dynamo-Elf wirkt wie ein Torso". Und nun folgte ein Zusammenbruch, der keinen Zweifel mehr offenließ: Das war die Quittung einer bereits länger andauernden schlechten Arbeit mit der Clubmannschaft!

War es unberechtigt, daß deshalb in der vorigen Ausgabe unser Mitarbeiter Gustav Hermann schrieb: "Bei Dynamo ist der Wurm drin?” Wir suchten die Clubleitung und die Zentrale Leitung der Sportvereinigung auf. Leider trafen wir nicht die Mannschaft, Trainer Petzold und Sektionsleiter Hentsch an, die bereits an die Ostsee gefahren waren, um dort ihren Urlaub zu verbringen, was wir jedoch erfuhren, scheint auszureichen, um ein einigermaßen abgerundetes Bild von den grundsätzlichen Ursachen der Krise der Fußballer im Sportclub wiederzugeben. Welche Ursachen sind das nun? Stellen wir zunächst einmal fest, daß offensichtlich nicht die Spieler, sondern die für die Mannschaft Verantwortlichen die Schuld tragen. Der Leiter der SV, Sportfreund Gasch, gab dies unumwunden zu. Die Hauptfaktoren dieser Schuld liegen dabei weniger im Spieltechnischen begründet, wie es mancher Zuschauer vom Rang aus angenommen haben mag.

Wir wollen jedoch nicht verschweigen, daß auch hierin zweifellos Fehler gemacht wurden. Es hieße aber, die in diesem Falle zweitrangigen Dinge in den Vordergrund rücken, wollte man in den Fehlern bei der Mannschaftsaufstellung, Spielanlage usw. das A und O des Übels sehen. Die Dresden-Eislebener Dynamo-Auswahl, die insgesamt gesehen gewiß kein höheres spielerisches Können aufzuweisen hatte, als die Fußballmannschaft des SC Dynamo, konnte gegen die gleiche Gwardia-Mannschaft höchst ehrenvoll bestehen. Ein Beweis, daß bei allem, was zu dieser Niederlage noch beigetragen haben mochte, die eigentlichen Ursachen tiefer liegen müssen. Dies Spiel war nur der Anstoß dazu, einem schon längst schwelenden Brand nachzuspüren, um ihm zu begegnen. In unserer Aussprache im Sportclub und in der Zentralen Leitung kamen wir zu der Erkenntnis, daß das Hauptübel in mehreren zusammentreffenden Komponenten zu suchen ist.

1. Die Erziehungsarbeit war ungenügend und lange Zeit zu inkonsequent. Auch die Aufgabe, den Spielern Arbeitsplätze zu verschaffen, die sie befriedigen, wurde nur mangelhaft gelöst.

2. Die Verantwortlichen für die Mannschaft: die Clubleitung, Zentrale Leitung, Trainer und Sektionsleiter arbeiteten, unserem Erachten nach, nicht nebeneinander, nicht koordiniert. Die Folge davon war, daß die rechte Hand nicht wußte, was die linke tat, und, im Fall Herbert Schoen, zuletzt keiner mehr die Schuld daran tragen wollte, daß dessen Einsatz auf dem Programm und in der Pause angekündigt wurde, der Trainer aber darüber "Bauklötzer" staunte, weil er einen solchen Einsatz nie beabsichtigt hatte.

3. Bis heute warten wir darauf, daß man beginnt, die Clubmannschaft richtig aufzubauen. Wir entsinnen uns, daß man einmal die Alten, dann die Jungen, dann wieder die Alten spielen ließ, und in diesem "rein in die Kartoffeln - raus aus den Kartoffeln" sich nicht dazu entschließen konnte, endlich einen Schnitt zu tun und mit Systematik den Neuaufbau zu beginnen. Systematik, das heißt nicht von heute auf morgen aus alt jung zu machen, es heißt auch nicht einen Nachwuchsmann erst einmal spielen zu lassen, wenn der Stammspieler das Bein gebrochen hat. Man sprach oft davon, daß Matzen ohne einen Möbius nur ein Schatten wäre. Nun gut, ohne "einen" Möbius! Die Aufgabe wäre es, solch "einen" Möbius zu entwickeln, ihn - eventuell von Möbius selbst - in seine, spezielle Aufgabe einweisen zu lassen und ihn langsam - jeweils eine Halbzeit lang - dann mehr und anfangs in noch anspruchloseren Spielen einzusetzen.

4. Persönliche Sorgen der Spieler kommen noch hinzu. Man konnte sie inzwischen beseitigen. Wenn einer vom Spiel in Berlin wieder nach Dresden - oder wo er sonst wohnen sollte, zurückfahren muß, dann am Wochenende nach Wukensee zum Training zu fahren hat und von dort den Weg ins Stadion in Berlin antreten muß, und das so Woche für Woche, dann schafft das gewiß nicht die beste Spiellaune. So erging es den Dynamo-Fußballern aber lange genug, weil man sich offensichtlich nicht genug einsetzte, um Wohnungen zu beschaffen. Die kollektive Bindung zerfiel bei solcher "Wandertruppe" verständlicherweise mehr, als daß sie sich stärkte.

Wie sehen die Schlußfolgerungen aus? All diese Dinge trugen ohne Zweifel dazu bei, nicht die beste Kampfmoral, kollektive Zusammenarbeit, Beständigkeit der Leistungen und höchste Ausnutzung der Fähigkeiten zu sichern. Ein Kollektivkern, energiegeladen und bewußt für den Sieg kämpfend, hätte gegen Gwardia auch die jungen Talente mitgerissen und sie nicht an sich selbst verzweifeln lassen und kopflos gemacht. Einen solchen Kollektivkern werden sich die Fußballer des SC Dynamo Berlin als erste Folge der erkannten Schwächen bilden; den die Maßnahmen der Erziehung stehen nunmehr im Vordergrund. Mit der Sperre aus disziplinarischen Gründen für Schoen, Michael und Bednarek (Schoens Sperre ist inzwischen abgelaufen, er ist jedoch noch verletzt, und Michael wurde nach Dresden zurückgeschickt) zeigen, daß man in diesen Dingen jetzt, wenn auch etwas spät, konsequent vorgehen will.

Als weitere Maßnahme erhoffen wir vom SC Dynamo Berlin den Beginn intensiver, kritischer Auseinandersetzungen innerhalb des Kollektivs mit den Funktionären und vielleicht schon in Kürze eine Aussprache der Sportler mit ihren Kameraden von der Volkspolizei und auch mit der Berliner Bevölkerung, so wie es der SC Empor Rostock und andere Mannschaften bereits beispielhaft taten. Es zeugt von einer sehr erfreulichen Entwicklung und Erkenntnis bei unserem Meister des Sports Günther Schröter, wenn er nach einem Spiel, das nicht nach Gefallen verlief, eine gründliche Aussprache forderte. Dieser Wunsch, sich offen über alle Fehler offen auszusprechen, muß bei allen Spielern - aber auch bei den Funktionären mehr als bisher zu finden sein. Wir kommen bei dieser Forderung auf den gleichen Nenner, wenn wir weiterhin meinen, daß die Bindung der Funktionäre zu den Spielern noch zu gering sei.

Ein Beispiel: der Pokalkampf gegen Wismut Karl-Marx-Stadt, an dessen Vortag man sich sehr ernsthaft mit der Mannschaft und mit der Bedeutung dieses Pokalspiels auseinandersetzte, hat bewiesen, daß man auf diese Weise die Elf sehr wohl zu einer großen kollektiven und kämpferischen Leistung bringen kann. Das darf jedoch nicht nur sporadisch geschehen, sondern muß organisiert und planmäßig erfolgen. Wie wir erfahren, werden den Spielern auch wesentlich verbesserte Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten in beruflicher Hinsicht gegeben. Da auch die Wohnungsfrage zur Zufriedenheit aller geklärt wurde, sind bereits einige weitere Herde der Unzufriedenheit und des Mißmuts beseitigt. Mit die größte Aufgabe wird es jedoch sein, nunmehr kompromißlos an den Neuaufbau der Mannschaft heranzugehen. Die Mannschaft braucht vor allem eine geraume Zeit der Ruhe, um sich innerlich zu festigen und neues Selbstvertrauen zu gewinnen.

Wir möchten nicht unerwähnt lassen, daß zwei Sportfreunde, die zur Zeit an der Trainerfakultät studieren, Trainer Petzold in einiger Zeit bei seiner schwierigen Arbeit werden helfen können. Die Aufgabe Trainer Petzolds wird es sein, überdies seine Trainingsmethoden und seinen Trainingsplan nochmals zu überprüfen, um ihn allen Anforderungen für eine Spitzenmannschaft gerecht werden zu lassen. Wir wünschen den Fußballern des Sportclubs Dynamo Berlin auf denn neuen, besseren Abschnitt seines Weges das Allerbeste. Sie müssen so schnell wie möglich wieder eine der besten Mannschaften unserer Republik werden. Sie und ihre Funktionäre haben vieles wiedergutzumachen. Wir sind nicht bange, daß ihnen dass nicht gelingt, weil sie die Fähigkeiten dazu haben und weil sie es unserer Bevölkerung und dem Ansehen der Volkspolizei unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates schuldig sind.

Götz Hering, Neue Fußballwoche, 12.07.1955