09. Spieltag 1955: BSG Lok Stendal - SC Dynamo Berlin 2:1

Klemm machte 2 folgenschwere Fehler / Kurt Weißenfels muß sein Können mehr in den Dienst der Mannschaft stellen
Es gibt keine Debatten um den Ausgang dieses Spieles: Lok Stendal schlug den SC Dynamo Berlin verdient mit 2:1 Toren. Die Gastgeber hatten ein entscheidendes Mehr an klaren Chancen, obwohl die Berliner technische Vorteile für sich in Anspruch nehmen können. Aber Dynamo verstand es nicht, diese technischen Vorteile in der Kombination auszunutzen, sie im Fluß des Spieles als Plus über die Flügel anzusetzen. Helmut Petzold hatte um diese Vorteile gewußt und die Mannschaft richtig eingestellt: "Elastische, nicht leichtfertige Abwehr, schnelles und flügelgreifendes Angriffsspiel!" Doch die Flügelzange packte nicht. Zu sehr drängten Matzen und Stang nach innen, und zu schwach war vor allen Dingen die Form des Rechtsaußen. Auch Scheffner rochierte nicht genug, dachte nicht mit, während Pinske noch am ehesten den Anforderungen des modernen Spieles gerecht wurde. Da "Moppl" Schröter oft sehr zurückhing, war so dem Sturm die Spitze genommen.

Bis zur Halbzeit sah es dabei noch sehr rosig für die Berliner aus. Eine exzellente Einzelleistung Scheffners hatte Dynamo bereits in der 14. Minute in Führung gebracht, als der Mittelstürmer Lahutta im Stand austrickste und aus 10 Metern unhaltbar für Reh ins Dreiangel trat. Aber Dynamo verstand diese Vorteile und die folgende Verwirrung des Gegners nicht zu nutzen, und Stendal deutete bereits jetzt in wuchtigen Gegenstößen an, was den Berlinern später zum Verhängnis werden sollte: Lok konterte klug und hatte mit Weißenfels und Lindner den Individualismus über das Mannschaftsspiel gestellt. Eine Pausenführung (nach Chancen ohnehin berechtigt) wäre absolut möglich gewesen, obwohl Dynamo konzentrierter, zügiger und kaltblütiger operierte. Kurioserweise wurden der Berliner Elf zwei offensichtliche Klemm-Fehler zum Verhängnis. 64. Minute: Weißenfels schießt unverhofft aus 16 Metern aufs Tor.

Klemm kniet nieder, doch das Leder rutscht ihm durch die Beine ins Tor. 72. Minute: Lindner dribbelt sich am linken Flügel durch, hält an und schaut. Klemm steht in der kurzen Ecke. Der Stendaler Rechtsaußen hebt einen wunderschönen Effetschuß unhaltbar für Klemm in die lange Ecke. Alle Gegenangriffe nutzten nichts mehr, zumal jetzt überhaupt nicht mehr über die lendenlahmen Flügel gespielt wurde. Lediglich Schröter vermochte in vielen Phasen zu überzeugen, sonst war der Angriff zu verspielt und zu unkonzentriert. Auch von Maschke und Heine ging nicht die konstruktive Wirkung aus, die der Angriff benötigt, um erfolgreich zu sein: Gut wieder Michael (als Lindner in der zweiten Halbzeit meist Linksaußen stürmte, hatte er einige Male Schwierigkeiten, den egoistischen Dribbler zu halten), Schoen und auch Bock.

Aber die gewohnte Ruhe strahlte die Verteidigung diesmal nicht aus, was zweifellos durch Klemms Fehler bei beiden Toren (sonst war Dynamos Schlußmann in ausgezeichneter Form) hervorgerufen wurde: Stendals gutes Abschneiden in den letzten Wochen wurde nach diesem Sieg verständlich. Die Persönlichkeit Gerhard Gläsers scheint ihre ersten sichtbaren Früchte zu tragen. Es liegt an den Lok-Spielern, diesen Vorteil auszunutzen. Neubauer rackerte unentwegt und erfüllte doch nicht ganz die gestellte Aufgabe, Schröters Schatten zu sein. Doch gerade diese Tatsache unterstreicht die Quälitäten unseres Auswahlkapitäns, der es immer wieder verstand, sich zu lösen und das Spiel zu forcieren. Doch auch Neubauer verriet dabei viel Blick, viel Kombinationssinn, und sein Auswahltrainer Oswald Pfau hätte sich sicherlich darüber ganz besonders gefreut. daß die "Ratte" nicht nur Zerstörer war. Von ihm ging mehr Wirkung als von Brüggemann aus.

Die Abwehr steigerte sich nach anfänglichen Schwächeperioden zusehends und stand nachher sicher im Wirbel der zu eng gewordenen gegnerischen Angriffe. Konsequente Deckungsarbeit boten Lahutta, Werner und Tanneberger. Weißenfels (wieder dabei) wollte es unbedingt wissen. Seine Persönlichkeit strahlte aber mehr Kampfgeist als Spielruhe aus. Wenn der Stendaler Kapitän (warum einige Male so hitzig?) noch mehr für die Mannschaft arbeitet, wird Stendal seinen beliebtesten Spieler noch öfter feiern können. Wie gesagt: Hätten Lindner, Weißenfels und auch Muthke bei dem seifigen Boden (das geht auch an Dynamos Adresse, Maschke-Heine!) mehr direkt gespielt, mehr den Ball laufen lassen, beide Kollektive hätten den 7.000 dann nicht ein zeitweise so verkrampftes Spiel offeriert. Schade drum; denn in dieser Beziehung wurde der Kampf den gesteckten Zielen der Übergangsrunde nicht gerecht. Ein Lob Schiedsrichter Bergmann (Hildburghausen). Er leitete unauffällig und verriet viel Blick für das Erkennen klarer, dem Spielfluß dienender Vorteile.


BSG Lok Stendal:
Reh; Tanneberger, Lahutta, Werner; Brüggemann, Neubauer; Lindner, Weißenfels, Gradetzke, Tröger, Muthke
SC Dynamo Berlin:
Klemm; Michael, Schoen, Bock; Maschke, Heine; Stang, Schröter, Scheffner, Pinske, Matzen

0:1 Scheffner          (14.)
1:1 Weißenfels         (64.)
2:1 Lindner            (72.)

Schiedsrichter:        Bergmann (Hildburghausen)
Zuschauer:             7.000

Gustav Herrmann, Neue Fußballwoche, 01.11.1955