03. Spieltag 1955: ZSK Vorwärts Berlin - SC Dynamo Berlin 0:0

Schußpech verfolgte die Vorwärts-Stürmer wie ein Alpdruck / Eine Halbzeit sehenswerter Fußball im Walter-Ulbricht-Stadion / Wirth hat seine alte Gefährlichkeit wieder!
Diese Spiel brachte auch bei torlosem Resultat die erfreuliche Erkenntnis, daß sich die Form des ZSK Vorwärts Berlin wieder in aufsteigender Linie befindet. Der Glaube derjenigen, die auf eine große Zukunft dieser Mannschaft schwören, ist durch die Sonntagsleistung im Walter-Ulbricht-Stadion gestärkt worden. ZSK hat streckenweise, vor allem in der ersten Halbzeit, ganz ausgezeichneten Fußball gespielt. Nun sah man auch wieder häufig den gassenöffnenden Paß, der solange vermißt wurde. Sofort erhielt vor allem der Sturm der jungen Berliner wieder den nötigen Schwung und Druck. Volle 90 Minuten konnte ZSK Vorwärts das vorgelegte Tempo allerdings nicht durchhalten, immer häufiger mußten wohltuende Verschnaufpausen eingelegt werden. Erst in der letzten Viertelstunde mit dem für den konditionsschwachen Fritsche ausgewechselten Meyer erhielt der Angriff noch einmal Auftrieb.

Aber die Stürmer wurden von ungewöhnlichem Pech verfolgt. Meine Notizen geben Auskunft darüber, daß wenigstens vier- oder fünfmal Pfosten und Latte getroffen wurden! An einem anderen tag gehen solche Schüsse ins Netz. Nicht vergessen werden darf aber in diesem Zusammenhang, daß auch der Dynamo-Torhüter Klemm in ganz ausgezeichneter Verfassung war und eine Reihe von Chancen des Gegners zunichte machte. Ganz deutlich konnte man erkennen, woran es dem ZSK Vorwärts in den letzten so enttäuschenden Spielen in erster Linie gemangelt hat: an zu großer Eigensinnigkeit und "technischen Egoismus". Diesmal stellte sich jeder ganz in den Dienst der Mannschaft, hielt nicht übertrieben lange den Ball. Es wurde auch stets der Versuch unternommen, das gegnerische Tor durch steile Angriffe zu gefährden. Man sah selten die endlosen Querpässe, wie es in den letzten zwei, drei Spielen von Vorwärts augenscheinlich gewesen war.

Wir betonen allerdings, daß wir mit den Leistungen des Vorwärts-Kollektivs noch längst nicht zufrieden sind. Zu einer Klassemannschaft gehört noch weit mehr, aber der Wille zur Überwindung der Krise, die es bei ZSK Vorwärts ohne weiters gegeben hat, ist vorhanden, und man darf sich nur wünschen, daß auf dem erkennbaren Weg rüstig weitergeschritten wird. Das Niveau dieser Auseinandersetzung ließ nach der Pause ganz augenscheinlich nach. Ich habe nach dem Schlußpfiff des korrekt leitenden Schiedsrichters Green, der übrigens bei dem sehr fairen Kampf eine relativ leichte Aufgabe hatte, mich in der Kabine danach erkundigt, was die Ursache zu dem Leistungssturz von erster zu zweiter Halbzeit war. Fast übereinstimmend erklärten alle befragten Spieler, daß die ungewöhnliche Spätsommerhitze allen sehr schwer zu schaffen gemacht habe. Auffällig verbessert spielte Vorwärts-Linksaußen Wirth.

An ihm wurde in der letzten Zeit häufig kritisiert, daß er nicht mehr die für ihn typischen Sturmläufe unternommen und etwas auf eigene Faust riskiert hat. Diesmal hat Wirth wieder sehr zügig und gewitzt angegriffen. Ganz offensichtlich ist dies seinem intensiveren Training zu verdanken, das er nach Ablegung seines Staatsexamens an der Planökonomie wieder betreiben kann. Auch der technisch enorm gute und auch fleißige Werner Wolf sowie Assmy, der diesmal weit mehr Zug und Drang zum Tor entwickelte als sonst, ragten aus dem Angriff hervor. Hier waren eigentlich nur der ausgewechselte Fritsche und Kohle nicht in bester Verfassung. Zuverlässig wie immer die Hintermannschaft mit dem ausgezeichneten Marotzke, der gegenwärtig gute Form hat. Den wie sonst souveränen Eindruck machte dagegen Spickenagel diesmal nicht.

Einmal hatte er sich so weit aus dem Tor herausgewagt und irrte im Strafraum umher, daß ein konsequenterer Stürmer, wie es Holze war, diese Gelegenheit zu einem Torerfolg nicht versäumt hätte. Der SC Dynamo war die meiste Zeit leicht in die Defensive gedrängt, sicherlich auch deshalb, weil "Moppl" Schröter auffällig zurückgezogen spielte. So konnte der Sturm, in dem nach seiner Verletzung auch Matzen wieder mitwirkte, nicht die erforderliche Stoßkraft aufbringen, um den Gegner zu gefährden. Sehr blaß blieb Rechtsaußen Karli Holze, auch Mittelstürmer Wrobel machte keinen überzeugenden Eindruck. Ihm mangelte es doch erheblich an einer Portion guter Einzeltechnik. So wertvoll der Drang und die Wucht des Spiels bei Wrobel erfreuen und für Dynamo auch nützlich sind, da er häufig in ungünstigen Situationen noch Tore herausholt, so müßte er von einem gesunden und formstarken Hänsicke überflügelt werden können.

Dynamo litt offensichtlich unter der defensiven Haltung. Das vorn entstandene Loch konnte von Pinske allein nicht geschlossen werden. Dazu besitzt der blonde Halblinke bei all seinen erfreulichen Fortschritten noch nicht die nötige Physis. Gefahr drohte somit nur von Linksaußen Matzen, der jedoch die sich bietende Gelegenheit in der 29. Minute verpaßte, als Spickenagel aus seinem Tor herausgelaufen war und Holze zu ihm geflankt hatte. Das war für Dynamo die beste Gelegenheit zu Erzielung des Siegestreffers, obwohl ein Erfolg dem Spielverlauf diesmal nicht entsprochen hätte. Aus dem allgemein erwarteten klaren Sieg der Volkspolizisten wurde somit nichts. Aber Dynamo hat ohne Zweifel auch diesmal eine ordentliche Leistung gezeigt. Eine besonders starke Belastung hatte die Deckung auszuhalten, in der Herbert Schoen zu alter Formstärke aufgelaufen ist und sehr viele Situationen bereinigte. Kurz nach der Pause war Dynamo eine Zeitlang sogar feldüberlegen, ohne indessen aus diesem Vorteil Nutzen zu ziehen. Lobend muß vor allem Torhüter Klemm erwähnt werden, der vieles an Schüssen meisterte, was nicht von Latte oder Pfosten aufgehalten wurde.

ZSK Vorwärts Berlin:
Spickenagel; Eilitz, Marotzke, Wühn; Giersch, Huth; Assmy, Wolf, Fritsche (70. Meyer), Kohle, Wirth
SC Dynamo Berlin:
Klemm; Haufe, Heine, Schoen; Maschke, Scheffner; Holze, Schröter, Wrobel, Pinske, Matzen

Schiedsrichter:        Green (Limbach)
Zuschauer:             30.000

H. Müller, Neue Fußballwoche, 13.09.1955