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Andi - Begegnung mit Krankheit und Tod
Rubrik Frauen im Beruf
von Dorothea Mihm
Unser Leben verläuft so beschäftigt, daß wir die Tatsache
unseres Todes meistens vergessen. Jahre und Jahrzehnte verdrängen wir,
daß wir eines Tages sterben werden Erst wenn bei uns eine lebensbedrohliche
Krankheit diagnostiziert wird, erinnern wir uns an die Endlichkeit unseres
irdischen Daseins. Aber einverstanden sind wir damit nicht und tun nun alles,
um die Krankheit zu bekämpfen. Die Schulmedizin ist dabei ein guter
Bundesgenosse, denn auf ihrem Zepter steht: Kampf dem Tod. Ihr Umgang mit
Menschen, die von lebensbedrohlichen Krankheiten betroffen sind, ist dabei
häufig erbärmlich. Ärzte, mit denen ich reanimierte, gaben
mir auf die Frage, ob sie so sterben wollten, immer dieselbe Antwort: "Auf
gar keinen Fall."
Mein Einsatz heute ist im zweiten Stock. Nicht so gerne gehe ich dorthin,
weil dort geraucht werden darf und der Rauch mir oft in die Nase steigt.
Heute soll ich einen jungen, krebskranken Mann versorgen. Das ist nicht einfach,
weil die Metastasen in sein Rückenmark gekrochen sind und langsam
schleichende Lähmungen an allen Extremitäten verursachen. Er kann
weder Arme noch Beine bewegen, hat keine Kontrolle mehr über seinen
Rumpf. Aber eines an ihm ist vollkommen intakt: sein Geist. Da er starke
Schluckbeschwerden hat, wird er über einen Schlauch, der sich in seinem
Magen befindet, durch die Bauchdecke allerdings herausschaut, ernährt.
Atmen kann er noch alleine. Ich versorge ihn heute ein erstes Mal, kenne
ihn nur durch die Übergaben, lese über sein Schicksal in den Akten:
geboren 1974, Vater Alkoholiker, Mutter Prostituierte und später
tablettenabhängig. Überwiegend von der Großmutter
großgezogen, Einzelkind, unerwünscht. Schon in frühen Jahren
Drogenkonsum. Weder Schul- noch Berufsausbildung, Stricher.
Zwischentitel: "Infaust"
Einige Male kam er in Untersuchungshaft, wurde aber wegen guter Führung
auf Bewährung freigelassen. Er verdiente sich sein Geld für Drogen,
indem er Männern seinen Anus zur Verfügung stellte. Oftmals ohne
Gummi, das brachte mehr ein. Bis ihn vor anderthalb Jahren auf den Straßen
Frankfurts der Krankenwagen einsammelte. Er wurde nur mit Unterwäsche
und T-Shirt gefunden, seine Kleider hatten ihm seine Mitcracker entwendet,
es könnte ja noch ein Körnchen Crack irgendwo zu finden sein. Wie
Aasgeier stürzen sich die Freunde der Nacht auf ihre wehrlosen Opfer.
Mit einer schweren Lungenentzündung wurde er ins Krankenhaus eingewiesen.
Bei der Routineuntersuchung stellte man fest, daß er AIDS hatte und
sich inoperable bösartige Tumoren in seinem Lungengewebe eingenistet
hatten. Metastasierung in die Nachbarorgane, Diagnose: "infaust". Er lehnte
außer palliativer Behandlung alle medizinische Therapie ab. Er wußte,
daß es nun soweit war und die letzte Lebenszeit angefangen hatte. Da
solche Patienten für Akut-Krankenhäuser nur Betten belegen und
nichts einbringen, werden sie meistens in das örtliche palliative
Krankenhaus eingewiesen.
Andi hat einen sehr wachen Geist, ist hochgradig intelligent und verfügt
über eine enorme Menschenkenntnis. Als ich ihn an jenem Morgen auffinde,
liegt er in seinem eigenen Stuhl, da er selbständig nicht mehr klingeln
kann und seine Not von den Schwestern nicht bemerkt worden ist. Während
der Übergabezeit kann das schon einmal passieren. Ich gehe also freundlich
und erfrischt in sein Zimmer und mache ihn erst einmal sauber. Nicht gerade
eine einfache Sache, sich einem jungen Menschen als erstes bei der Intimpflege
bekannt zu machen. So ist es nun mal.
Ich gehe mit ein paar passenden Sprüchen über die peinliche Situation
hinweg, nehme mir und ihm das Schamgefühl und verrichte meine Arbeit.
Seltsamerweise führt gerade diese Handlung zu einer Begegnung, als ob
irgendeine durchsichtige Hürde übergangen worden wäre und
auf einmal alles viel einfacher ginge. Schön, denke ich mir. Noch niemals
hat jemand über solche energetischen Phänomene berichtet, die
über die Sinnlichkeit bei der Krankenpflege stattfinden. Wir sehen,
riechen und spüren den sterbenden Menschen in einer intimen Sinnlichkeit,
die nicht mehr übersehen werden sollte. Und tatsächlich ist das
kein Einzelfall.
Irgendwann ist es dann soweit, Andi voll zu versorgen. Ich nehme mir für
ihn viel Zeit, die brauchen wir auch. Um ihn zu verstehen, muß ich
ihm von den Lippen ablesen. Erklärungen, Ressourcen ausschöpfen,
ihn zur Mobilisation überreden etc. - das alles braucht viel Geduld.
Genau da jedoch ist ein Knackpunkt. Er fragt mich, warum ich mich so
bemühe, er sterbe doch ohnehin! Auf der anderen Seite achtet er wie
ein Besessener darauf, daß er genügend Astronautenkost zugeführt
bekommt, damit er wieder zu Kräften kommt. In diesem Zwiespalt habe
ich schon viele Patienten begleitet und komme mittlerweile zu dem
Entschluß, daß es einfach seine Zeit dauert, den schmerzvollen
Bardo des Sterbens anzuerkennen, egal wie hoffnungslos auch immer die Krankheit
ist.
Forts. Printversion
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