Die Stammeskultur der Dagara aus Westafrika hat Überlebenswissen mitzuteilen: Das Wissen von Ritualen im Stammesleben eines traditionellen Dorfes. Begegnung mit Sobonfu E. Somé
Die afrikanische Besucherin stammt vom Volk der Dagara aus Burkina Faso. Sie sieht anders aus als auf dem Umschlagfoto ihrer Bücher; weniger elegant, dafür direkter, erdnaher - und das kommt eindeutig durch ihr Temperament und ihre Ausstrahlung. Seit sie den Raum betreten hat, ist sie der Mittelpunkt, um den sich Erwachsene und Kinder versammeln. Weniger weil sie berühmt ist, sondern weil von ihr so viel Wärme, Präsenz und Lebendigkeit ausgehen. Sobonfu Somé hat ihr traditionell lebendes Heimatdorf seit Jahren nicht gesehen; ohne Unterbrechung ist sie unterwegs auf Seminaren, Vortragsreisen, Buchpräsentationen. Ich treffe sie bei der Einweihung eines afrikanischen Lehmbaus bei Berlin. Sobonfus Botschaft besteht aus der Lebensweise ihres Volkes, eine Botschaft, die - so meinen sie und viele ihrer LeserInnen - auch für Menschen der Großstädte immer wichtiger wird. Zwischen Liedern, die sie uns beibringt, und Spielen, die sie ganz schnell mit den Kindern improvisiert, antwortet sie auf unterschiedlichste Fragen. Wir wollen wissen, mit welchem Ziel sie in Europa und den USA unterwegs ist.
"Die Menschheit braucht einen neuen Mythos", antwortet sie. "Dieser Mythos entsteht nicht aus einem einzelnen Volk, sondern aus dem Gespräch vieler Traditionen und spiritueller Richtungen miteinander. Ich kann nur einen Teil beitragen, den Teil meines Dorfes, dessen Botschafterin ich bin."
Die Ältesten der Dagara sind davon überzeugt, daß der Westen in seiner Existenz ebenso gefährdet ist wie die Stammeskulturen, die er im Namen der Kolonialisierung dezimiert hat. Die westliche Kultur ist, wie die Dagara sagen, schwer erkrankt. Spirituelle Werte, Umwelt und Natur sind ihr gleichgültig geworden. Gewalt, Armut und die Städte mit ihrer Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Drogensucht werden in die Selbstvernichtung führen. Die einzige Hoffnung sei die Selbstveränderung. Wenn keine wirkliche neue Völkerverständigung gefunden wird und daraus Wege entstehen, die tief das Herz der Menschen verändern, werden sowohl die Stammeskulturen als auch die westliche Zivilisation sich auflösen.
"In Afrika verlassen viele junge Menschen die Dörfer und das traditionelle Leben", erzählt Sobonfu weiter. "Keiner möchte mehr was vom traditionellen Leben wissen. Alle wollen in die Städte. Wir müssen einen neuen Mythos in die Welt setzen, damit auch junge Leute wieder mit Selbstbewußtsein ihrer Tradition nachgehen."
Die Botschaft der Dagara besteht im Kern in seiner Verbindung zu den spirituellen Kräften und - eng damit verbunden - in einem intakten Stammesleben.
"Die Gemeinschaft ist die Seele, der Leitstern der Menschen meines Volkes", schrieb Sobonfu in ihrem Buch "Die Gabe des Glücks". "Das Ziel einer Gemeinschaft ist, dafür zu sorgen, daß jedes ihrer Mitglieder gehört wird und die Gaben, die sie oder er in diese Welt mitgebracht haben, auf die richtige Weise anbringt."
Das Volk der Dagara, das sich noch über die Länder Ghana, Togo und Elfenbeinküste erstreckt, lebt in Burkina Faso teilweise sehr traditionell, in Stämmen und Dörfern ohne Strom und Wasser, weit entfernt von den Städten. Von klein prägt die Beziehung der Menschen zur Natur, zur Erde und zu allem Lebendigen den Aufbau der Gemeinschaft und die Beziehungen der Menschen untereinander. Wie können wir Europäer, die wir doch so anders leben als traditionelle Afrikaner, die Botschaft der Dagara anwenden?
Sobonfu glaubt nicht so sehr an die Unterschiedlichkeit. "Die Verschiedenheit gehört zum alten Mythos. Wir Menschen sind gar nicht so unterschiedlich. Es gibt zwar die Einmaligkeit jeder spirituellen Richtung, jedes Volkes, jedes einzelnen Menschen. Aber daß wir uns so stark auf die Unterschiedlichkeit konzentrieren, ist bereits ein alter Mythos, auf den wir hereingefallen sind. Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es etwas, das allen Traditionen gemeinsam ist: der Wunsch, mit dem Heiligen in Kontakt zu kommen. Darauf sollten wir setzen, nicht auf die Unterschiede."
Die Dagara nutzen jede Gelegenheit, mit dem Heiligen in Kontakt zu kommen. Alles geschieht in der Gemeinschaft, in der Öffentlichkeit des Dorfes. Empfängnis, Geburt, Initiation, Heirat, Trennung, Tod - alle wesentlichen Dinge des Lebens, aber auch viele der für uns beiläufigen, sind eine Angelegenheit des Stammes und seiner Wege, mit dem Heiligen in Kontakt zu kommen. Unter den vielen Ritualen, die die Dagara anwenden, gibt es auch Methoden der Konfliktlösung für Liebespaare.
Kein Zweifel, Beziehungskonflikte sind bekannt bei den Dagara, aber sie scheinen mit viel Humor genommen zu werden.
Sobonfu erklärt das Ritual: "Als erstes muß ein Paar von der Gerichtshof-Mentalität Abstand nehmen. Solange sie sich nur gegenseitig anklagen, hat alles keinen Sinn. Wie jeder Konflikt wird auch ein Beziehungskonflikt in unserem Dorf als etwas Positives betrachtet, als ein Vorgang, der ein stagniertes Verhältnis in Bewegung bringt. Wenn man mit jemandem einen Konflikt hat, erwarten wir, daß die beiden schließlich beste Freunde werden. Konflikt ist ein Entwicklungshelfer für Freundschaft. Das Ritual sieht so aus: Beide stellen oder setzen sich Rücken an Rücken in einem Kreis aneinander und sagen sich die Meinung, sie sagen alles, aber auch alles, was sie über den anderen denken. Sie können es laut herausrufen, aber - und das ist das Wichtigste! - sich gegenseitig ja nicht zuhören. Wenn sie etwas vergessen oder verschweigen, aber andere im Kreis es wissen, sollen sie es sagen, damit alles, aber auch wirklich alles ausgesprochen wird. Das geht so lange, bis sie gereinigt sind. Dann geben sie sich gegenseitig als Friedenszeichen Wasser." Wieder schüttet sie sich fast aus vor Lachen. "Das mag ich am meisten, manchmal bewirft man sich mit dem ganzen Wassereimer."
Wie können Paare, die nicht in einem Stamm leben, dieses Ritual machen?
"Ich ermutige sie, das Ritual allein zu machen und dabei eine gewisse Regelmäßigkeit einzuhalten. Nur wenn sie das über eine längere Zeit nicht gemacht haben, brauchen sie das ganze Dorf, das ihnen hilft, weil sich etwas schon so angestaut hat."
Das Beziehungsmodell der Dagara basiert auf dem Prinzip, daß Beziehungen nicht privat sind. Eine Beziehung gehört nicht den beiden Liebenden, sie gehört der ganzen Gemeinschaft, die auch für deren Wachstum mit Sorge trägt. Romantische Liebe, wie wir in unserem Kulturkreis sie pflegen, gilt bei den Dagara als Illusion. Sie ist eine Form der Anziehung, die das Spirituelle und die Gemeinschaft ausschließt. Es ignoriere die Stufen des spirituellen Zusammenkommens, wobei die Liebenden "am Fuße eines Berges beginnen und gemeinsam langsam zum Gipfel steigen." Romantische Liebe lasse den Beteiligten keinen Raum, sich zu offenbaren und zwinge die Menschen dazu, sich hinter Masken zu verstecken. Leidenschaft, Romantik, Emotionalität, wie wir sie im Westen kennen, hat im Dorf der Dagara keinen Platz. Begehren und Lust werden als Botschaften gesehen, die von einer spirituellen Quelle übermittelt werden. Deshalb wird auch die Intimität bei den Dagara rituell betrachtet. Intimität als Anziehung zwischen zwei Menschen ist etwas, das von den spirituellen Kräften in die Wege geleitet wird. Die spirituellen Kräfte bringen die Menschen dazu, miteinander zu wachsen. Dieses Wachstum hängt direkt damit zusammen, welche Gaben die beiden Menschen dem Dorf geben könnten. Wenn also ein Paar Probleme hat und nicht wächst, dann fehlt dem Dorf etwas. Das Dorf hat folglich ein großes Interesse daran, ein Paar zu unterstützen.
Die alltägliche Lebensweise der Männer und Frauen in ihrem Dorf unterscheidet sich ebenfalls von der unsrigen. Die Dagara gehen davon aus, daß die Frauen und die Männer viel Zeit unter sich verbringen sollten.
... Den ganzen Text können Sie in der Weiblichen Stimme Nr. 2 nachlesen. Zu bestellen hier.
Bücher: "Die Gabe des Glücks", Sobonfu E. Somé, Orlanda-Frauenverlag, 1999, "In unserer Mitte", Orlanda, 2000
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