Ruth Pfau

Die kleine, zierliche Frau füllt mit ihrer Ausstrahlung den ganzen Raum. Ich begegne Ruth Pfau auf dem Kongreß der Visionen an Pfingsten 2000 in Bremen. Sie ist keine, die von Workshop zu Workshop reist. Sie kommt aus einer anderen Welt. Sie berichtet von der Kehrseite unseres Wohlstandes, von ihrer Arbeit in Pakistan und Afghanistan, von einer Welt, die wir vielleicht kurz über die Nachrichten zur Kenntnis nehmen, die uns aber, wenn wir ehrlich sind, schon längst entglitten ist. Ruth Pfau zeigt uns die Möglichkeit, dem eigenen Leben wieder Sinn zu geben, indem man es wagt, hinzuschauen, was auf diesem Planeten gerade geschieht.

"Die Wehrlosigkeit macht uns unbesiegbar"

Porträt einer ungewöhnlichen Frau

von Monika Berghoff

Ruth Pfau, 1929 in Leipzig geboren, ist Ärztin und Mitglied des katholischen Ordens der "Töchter vom Herzen Mariä". Sie folgt Seinem Ruf. Über Umwege gelangt sie 1960 nach Pakistan. Sie hat das Armutsgelübde abgelegt, entflieht dem Wirtschaftswunder und aufkommenden Konsumzeitalter. Der Entschluß, ihr Leben ganz in den Dienst der Liebe, der Nächstenliebe, zu stellen, fällt in einem aus alten Holzkisten zusammengenagelten stickigen Raum in einem Vorort von Karachi. Eine Krankenstation. Ein Mann kommt auf allen Vieren hereingekrochen. In seinem Gesicht nicht einmal mehr ein Funken von Auflehnung gegen sein Leiden. Die Erkenntnis trifft Ruth Pfau wie ein Blitz: Sie sieht, daß die Menschen sich hier gegen ihr schweres Schicksal nicht einmal mehr wehren. Und doch haben sie das gleiche Recht auf Leben und Glück wie sie selbst und alle Menschen. Sie entscheidet sich, ihr Leben für diese Menschen einzusetzen und sich gegen das Leiden aufzulehnen.

"Alle Fäden meines Lebens liefen an diesem Punkt zusammen. Es war, wie wenn man seine große Liebe trifft. Dies war nun entschieden und galt für immer."

Sie hat ihre Lebensaufgabe angenommen. Sie hat sich aus dem Bann der Gleichgültigkeit und Sinnlosigkeit befreit und ist eingetreten in den Dienst an der Welt, in den unruhigen Regionen Pakistan und Afghanistan. Sie baut Krankenstationen auf, entwickelt ein Lepra-Bekämpfungsprogramm, bildet Lepra-Helfer aus. Selbst während des Krieges in Afghanistan arbeitet sie - im Untergrund - weiter.

Mit ausgebreitetem Tschador

Wer ist diese ungewöhnliche Frau, die ihr Leben als katholische Nonne verbringt? Wie denkt sie? Was befähigt sie, in einem solchen Umfeld von Gewalt, Armut und Zerstörung zu einem solchen Werk? Über ihre Zeit als junge Novizin in Paris berichtet sie:

"Einmal kam mir eine Gruppe Frauen entgegen. Besonders eine blieb mir im Gedächtnis, jung, hinreißend, unwiderstehlich frech - es gab eine Zeit, da wollte ich auch einmal so sein. Vielleicht war ich in einem Winkel meines Herzens auch heute noch so? Warum hast Du mich dann gerufen und die kleine Schwester meines Herzens nicht? Oder rufst Du sie auch auf diesem Wege? Maria Magdalena, hast Du sie nicht besonders geliebt, weil sie "so viel geliebt" hat?

Das sind erstaunliche Worte aus dem Mund einer Frau, die sich für das Zölibat entschieden hat und dennoch die erotische Liebe nicht verteufelt, sondern sie - im Gegenteil - wahrnimmt als ein Aspekt der großen universellen Liebe. Es sind Worte einer Frau, die die Liebe kennt. Gleichzeitig kennt sie aber auch die Gewalt:

"Gewalt - habe ich eigentlich irgendwann einmal in einer gewaltfreien Gesellschaft gelebt? Aufgewachsen unter Hitler, ein Kind, als der Krieg ausbrach, Teenager, als die Russen das Land besetzen - eine kurze, unvergeßliche Studienzeit im West-Deutschland in Freiheit - dann zurück in ein Dritt-Welt-Land, in dem selbst eine "demokratisch gewählte" Regierung, auch die unter einer Frau, bedenkenlos mit Folter und politischem Mord arbeitet, und einer Stammeskultur, die Rache, Auge um Auge und Zahn um Zahn, als erste männliche Tugend preist. Sicher, wir konnten etwas tun. In unserer eigenen kleinen Einflußsphäre. Heute herrscht in keiner dieser Familien unserer Lepra-Assistenten mehr die Blutrache. Aber diese "neue" Gewalt, die das Land überschwemmt, diese völlig irrationale haßerfüllte blanke Gewalt, Terror um des Terrors willen - wie soll man damit umgehen? Eingebrochen in mein Leben ist diese neue Dimension von Gewalt zum ersten Mal in Gilgit."

Ruth Pfau berichtet von einem Überfall auf ein Krankenhaus in der Nähe von Gilgit, einer Stadt in Pakistan. Sie führt gerade einen Lehrgang für Lepra-Assistenten durch. Alle wissen, daß an diesem Tag Unruhen drohen. Plötzlich hören sie Lärm. "Ein gutaussehender Junge, hellhäutig, blaue Augen. Nicht älter als 22" bricht herein und bedroht die Menschen mit einer Kalaschnikow. Sie handelt blitzschnell, wirft sich zwischen ihn und die Lepra-Assistenten, "mit ausgebreitetem Tschador, dem Schleier der muslimischen Frau - Symbol der Mutter in seiner Kultur, Schutzmantel der Madonna in meiner..."


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Alle Zitate stammen aus dem Buch:

Ruth Pfau: Das letzte Wort wird Liebe sein. Herder Spektrum, 1996.

Weitere Bücher: Ruth Pfau: Wer keine Tränen hat. Herder Spektrum, 1999.

Über Ruth Pfau

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