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Hagit Ra`anan
Hagit lebt in der Nähe von Tel Aviv. 1923 kam ihre Familie aus Polen
nach Israel. "Mein Großvater hatte das Gefühl, dass etwas Schlimmes
kommen würde und er seine Familie in Sicherheit bringen müsste.
Die Schwester meiner Großmutter kam nicht mit - sie überlebte
den Holocaust nicht. 1946 waren meine Eltern in der Untergrundbewegung
"Etzel/Irgun"; meine Mutter war mit meiner älteren Schwester, die ein
Jahr alt war, für ein Jahr im Gefängnis. Mein Vater wurde ein
Kommendeur dieser Bewegung; es war eine rechte Bewegung. Schlimme Dinge sind
geschehen in dieser Zeit. Aber ich muss sagen, ich liebe meinen Vater trotz
allem sehr. 1962 war meine Bat Mitzvah. Die Altstadt von Jerusalem war durch
Jordanien besetzt. Das Geschenk meines Vaters war, dass er mich mitnahm,
um die Klagemauer zu berühren. Er brachte mich nach Jerusalem auf die
andere Seite eines Zauns. Auf allen Dächern standen Scharfschützen;
es war verboten, auf die andere Seite zu gehen. Mein Vater sagte mir: "Auch
wenn es dein Leben kostet, ich möchte, dass du rennst, die Mauer
berührst und dann zurückkommst. Das ist mein Geschenk für
dich."
Im Alter von 32 Jahren hatte ich 6 Kriege erlebt und nur wenige Tage des
Friedens. Während der Kriege habe ich Freunde verloren, in der Schule
und der Armee. Ich selbst war in der Armee, teilweise auf dem Gazastreifen.
Das schlimmste, was ich erlebte, geschah im Juni 1982. Während der ersten
Woche des Libanon-Krieges verlor ich meinen Lebenspartner. Er wurde von einem
Palästinenser nahe Beirut erschossen. In dieser Zeit war ich im
fünften Monat schwanger. Der Schmerz war so überwältigend,
dass ich dachte, es wäre das Ende meines Lebens. Ich verließ den
Friedhof überhaupt nicht mehr. Eines Morgens fand man mich dort auf
dem Boden: ich hatte eine Fehlgeburt. Es war, als hätte ich das Kind
seinem Vater zurückgegeben.
Trotz allem, was ich erlebt habe, sage ich: ich gebe niemandem die Schuld.
Ich bin kein Opfer, und ich glaube nicht, dass irgend jemand von uns Opfer
ist. Ich merkte, um weiterleben zu können, muss ich etwas tun. Ich werde
die Erinnerung an das bewahren, was geschehen ist, aber nur, damit es mich
motiviert, in eine positive Richtung zu gehen. Meine Arbeit hat nichts mit
Politik zu tun. Ich komme als Mensch, um andere Menschen zu unterstützen,
die sich selbst helfen wollen. Ich glaube nicht, dass ich besser bin als
irgendjemand anders, aber ich habe mehr Freiheit. In meiner Sicht gibt es
unendlich viel Angst im Nahen Osten, in Palästina und Israel. Die
Palästinenser sind die Juden der arabischen Welt. Niemand schert sich
wirklich um die Juden oder die Palästinenser. Mein Verständnis
ist, dass wir uns gegenseitig unterstützen müssen, dass wir zusammen
sein müssen - das ist die einzige Wahl, die wir haben. Wir müssen
die Angst loswerden. Es spielt keine Rolle, wer mehr leidet - im Moment leiden
beide. Um die Angst loszuwerden, müssen wir uns treffen und miteinander
sprechen.
Bis Oktober 2000 habe ich Israelis und Palästinenser zusammengebracht,
um zu sprechen. Ich brachte Israelis über das Wochenende in den Gaza
Streifen, damit sie sahen, was die Palästinenser aufgebaut haben. In
Israel gelten die Palästinenser entweder als Terroristen oder als Menschen,
die schlechtere Jobs übernehmen. Aber im Gaza hatten sie schöne
große Orte aufgebaut, Hotels, Flughäfen, Kultur- und
Rehabilitationszentren. Ich wollte auch, dass sie sehen, dass die Millionen
Einwohner des Gazastreifens auf einem Drittel der Fläche lebten,
während der Rest von 12.000 Siedlern bewohnt wurde.
Seit Oktober 2000 kann ich meine Freunde nicht mehr dorthin bringen. Das
ist ein großer Verlust für mich. Nach meinen persönlichen
Verlusten habe ich mich wie eine Mutter für alle Kinder der Erde
gefühlt. Und es gibt viele Kinder im Gaza-Streifen und in der Westbank,
die mich Ima nennen. Ima heißt auf hebräisch Mama.
Und so habe ich bei jeder Terrorattacke einen doppelten Schmerz: um die Israelis,
die verwundet oder getötet werden, und zur gleichen Zeit weiß
ich, dass meine "Kinder" unter der Rache leiden werden. Ich verbringe viele
Stunden damit, mit ihnen zu telefonieren und ihnen zuzuhören. Ich arbeite
daran, verwundeten Kindern medizinische Hilfe zukommen zu lassen.
Ein Kind, das nach einem Schuss eines Soldaten beinahe sein Augenlicht verloren
hatte, konnten wir durch eine Operation retten. Ich besuchte es im Krankenhaus
und brachte ihm Süßigkeiten und Kleider. Er war über die
Süßigkeiten glücklicher als über die Kleider. Er fragte
seine Mutter: "Yama, ist sie eine Jüdin, eine Israelin?" Das brach mir
das Herz - gab mir aber auch ein Verständnis davon, wie die
Palästinenser uns Juden sehen.
Aber nicht alle Israelis sind Besetzer oder Siedler. Und nicht alle
Palästinenser sind Selbstmordattentäter. Es gibt so viele schöne
Menschen auf beiden Seiten, die wirklich den Frieden wollen, die alles tun,
was sie können."
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