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Der globale Imperativ: Bildet Gemeinschaft - oder geht unter!Von Leila Dregger Gemeinschaftsbildung liegt uns sozusagen in den Zellen. Die Geschichte von Entstehung des Lebens ist voll von Zusammenschlüssen, Kooperationen und Krisenmanagement durch Teambildung. So etwa gibt es Einzeller, die unter Stressbedingungen dazu übergehen, einen gemeinsamen Organismus zu bilden: den Schleimpilz. Einzelne, bisher konkurrierende Lebewesen werden zu Organen eines Organismus, verständigen sich mit den anderen Organen über ihre Aufgabe und - überleben. Das Erfolgsrezept heißt: Wirkt zusammen - oder geht unter! Die Mitautorin der Gaia-Hypothese Lynn Margulis zieht den Rückschluss auf die Menschheit. Sie sagt: "Wenn wir die ökologischen Krisen, die wir selbst herbeigeführt haben, überleben wollten, müssten wir uns auf völlig neue und dramatische Gemeinschaftsexperimente einlassen." Dramatisch - das Wort lässt ahnen, dass sich beim Wechsel vom Einzelmensch zum Gemeinschaftsmensch um einen evolutionären Wandel handelt, um eine kopernikanische Wende im Bewusstsein des heutigen Erdbewohners. Was Gaia sagt... Gaia Erde würde der Mikrobiologin sicher Recht geben. Von ihrer Warte ist das Gewusel all der Einzelmenschen auf ihrer Oberfläche schlicht hirnverbrannt: all die isolierten Interessen, die völlig sinn- und planlose Ausbeutung ihrer Ressourcen, die Unfähigkeit, Dinge im Gemeininteresse wahrzunehmen und zu regeln, und schließlich die Welle der Gewalt und der Kriege auf der Erde - alles Auswüchse von Milliarden einzelligen Einzelmenschen, die sich nicht als Teil eines Ganzen begreifen, sondern deren Bestreben es ist, sich von anderen abzugrenzen und auf deren Kosten zu überleben. Überleben aber bedeutet, zusammen zu leben. Überleben braucht die Fähigkeit, den anderen - und das ist der andere Mensch gleich welcher Hautfarbe, das sind Tier, Pflanze und alles Lebendige - als verwandt anzuerkennen, und auch, wenn er noch so anders denkt, aussieht oder riecht, als Teil desselben Ganzen zu sehen. Diese Fähigkeit ist der globale Imperativ, den die Evolution gerade den Menschen gibt: Lernt es, zusammen zu leben. Bildet Gemeinschaften! Jaja, Gaia, möchten wir ihr zurückrufen. Das möchten wir ja auch. Glaubst du, wir leben gerne isoliert in unseren Wohnsilos, ausgerüstet mit Sicherheitsschloss und Spülmaschine? Wir würden doch gerne zusammenleben, wenn wir es könnten. Aber weißt du denn nicht, dass wir gebrannte Kinder sind? Weißt du nicht, wie grausam die alten Stammeskulturen zerstört wurden und wie unbarmherzig sämtliche soziale Utopien gescheitert sind? Gescheitert an inneren Machtkonflikten, an Eifersucht, am Widerspruch von Anspruch und Realität. Gescheitert auch an äußeren Feindseligkeiten, an Verfolgung von Seiten des jeweiligen Establishments. Gescheitert auch manchmal schlicht am nicht zu bewältigenden Abwasch. Am Stammtisch Allein das Wort Gemeinschaft weckt manchmal ungute Gefühle. Schon denken wir an Gruppen, die sich nach außen abgrenzen, die die gleiche Kleidung und die gleiche Sprache benutzen, wo Gemeinschaftsgefühl dadurch entsteht, dass man sich auf Kosten anderer erhebt. Stammtische und Fußballstadien sind da noch die harmloseren Beispiele. Die eigenen Unterschiede werden unterdrückt, die Individualität geleugnet, man fühlt sich stark allein dadurch, dass man die "Anderen" ausfindig macht: meistens eine andere Volksgruppe, Religion oder das andere Geschlecht, gegen die dann aller Hass, alle Wut gelenkt werden. In dieser Art von Zusammenschlüssen versteckt sich jeder in der Menge, Hemmschwellen für Gewalttaten sinken; und wenn ein Führer oder Guru da ist, ist der Ersatz für Menschenliebe perfekt. Geteilt wird keine Erkenntnis, sondern eine dumpf empfundene, unverstandene Emotion. Faschismus nannte Wilhelm Reich dieses massenpsychologische Phänomen. Viele ziehen daraus die Schlussfolgerung: Gemeinschaft, nein danke. Dann schon lieber ganz auf die eigene Kraft setzen! Es sind Auswüchse lediglich emotionaler, unbewusster Gemeinschaftsbildung. Statt einer gemeinsamen Aufgabe hat man einen gemeinsamen Feind. Dennoch zeigt das Phänomen eins: wie stark die Sehnsucht, aber wie stark auch noch die Unfähigkeit ist, zusammen zu kommen. Dabei konnten wir es schon, einst, vor langer Zeit! Die Erde war bis vor 10.000 Jahren besiedelt von Stämmen, die an Muttergottheiten orientiert waren und von Stammesmüttern gelenkt wurden. Erinnern wir uns an unsere Ahnen, die zuhause waren in der Schöpfung, an ihre vielen intimen Beziehungen zu Kindern, Brüdern, Schwestern, Müttern, Geliebten, Tieren, Sternen. Ein Stammesmensch ist nie allein, das ist ihr Hauptmerkmal - und auch, wenn sie tagelang allein durch Wald oder Wüste streift, so ist sie doch in Kontakt mit allem, was lebt; ihre Verbundenheit ist eine seelische Qualität, die sie befähigt, immer und überall in Kommunikation zu stehen. Die ursprünglichen matriarchalen Kulturen hatten keine Waffen und keine Pflugscharen, sie machten sich die Erde nicht untertan, aber sie hatten das Wissen, mit den Wesen der Natur zu kooperieren. Aus Zeugnissen von Aborigines, von Indianern Nord- und Südamerikas und durch archäologische Funde Alt-Europas können wir diese Lebensweise rekonstruieren. Das ist unsere Herkunft! Der Stamm, nicht die Familie, ist die Heimat des Menschen. Wo sind denn all die anderen? Von dieser Warte aus können wir nur fassungslos registrieren, wie grotesk die moderne, sogenannte individuelle Lebensweise ist. In jeder Vorsteherin eines heutigen Single-Haushaltes stecken kollektive Erinnerungen; und manchmal, in stillen Stunden, dämmert uns der drastische Verlust, den wir erlitten haben. Sobonfu Somé vom afrikanischen Stamm der Dagara sagt: "Es ist sehr merkwürdig, dass in der westlichen Kultur zwei Menschen eine Gemeinschaft genannt werden. Wo sind denn all die anderen?" Wo all die anderen sind, die Frage steckt dahinter, wenn ein Ehepaar nicht mehr miteinander sprechen kann, weil jedes Wort Streit und Hass hervorruft, wenn ein Jugendlicher unbemerkt von seiner Umgebung einsame Pläne für einen Amoklauf erträumt, wenn einen nicht kleinen Teil der Menschheit morgens um drei die Fresssucht überfällt und er den Kühlschrank plündert bis auf den letzten Rest. Wo sind denn all die anderen? Die Frage stellt sich, wenn Menschen im Alter keinen haben, der ihnen zuhört, wenn in Diktaturen Oppositionelle abgeholt und vergessen werden, wenn in den Mega-Cities der Welt Kinder auf der Straße verwahrlosen, weil sie nirgendwo hingehören. Wo sind all die anderen? Die meisten seelischen und viele körperliche Defekte, von Einsamkeit über Depression über Angst vorm Alter bis zu Süchten - Drogensucht, Sex-Sucht, Fress-Sucht - sind durch diesen Verlust zu erklären. Der Single-Mensch ist eine Errungenschaft der modernen Industriegesellschaft; denn er ist es, der auch die sinnlosesten Waren noch in sich hineinstopft, um die Einsamkeit nicht zu spüren. Nicht nur das, der Single-Mensch ist auch der optimale Schlucker für Manipulation und Meinungsmache, denn Individualität, Selbstverantwortung und Urteilsfähigkeit brauchen Kommunikation und Auseinandersetzung.
Fortsetzung in der Printversion.
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