GewArch 1985/10, 336
Gericht: Bayer. VGH
Datum: 26.04.1985
Az: 22 CS 85 A.1065
NK: GewO § 35, VwG0 § 80 Abs. 5
Fundstelle: GewArch 1985/10, 336


Titelzeile

Sachverhalt:

   Die Ast'in, eine Organisation der S.-Kirche, bekämpfte den Sofortvollzug einer von der Ag'in ausgesprochenen Gewerbeuntersagung. Gestützt auf § 35 GewO Art. 7 Bayer. LStVG hatte die Ag'in der Ast'in die Ausübung des Gewerbes "Durchführung von heilkundlichen Einzelgesprächen, Persönlichkeitstests, Kursen und Seminaren, Filmvorführungen sowie den Groß- und Einzelhandel mit Verlagserzeugnissen" als selbständiger Gewerbetreibender im stehenden Gewerbe im Bundesgebiet und West-Berlin untersagt und eine sofort vollziehbare Einstellungsanordnung getroffen. Die Ast'in, die Widerspruch einlegte, beantragte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Das VG lehnte dies ab. Die Beschwerde der Ast in hatte Erfolg.

Aus den Gründen:

   Das ... VG hätte dem Aussetzungsbegehren der Ast'in ... stattgeben müssen. Die Komplexität des Sach- und Streitstoffes, verbunden mit Unsicherheiten im Tatsächlichen und Rechtlichen, steht einer Prognose über den Ausgang des Hauptsacheverfahrens entgegen. Die Ag'in hält der Ast'in eine Vielzahl von Sachverhalten vor, die die Gewerbsmäßigkeit der untersagten Aktivitäten, die Unzuverlässigkeit der Ast'in sowie die Erforderlichkeit der Untersagungsanordnung im Sinn von § 35 GewO dartun sollen. Sie sollen ferner belegen, daß rechtswidrige Taten begangen sowie Leben, Gesundheit und Freiheit bedroht oder verletzt würden (Art. 7 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 LStVG; § 6 Gew0). Die Sachverhalte sind in unspezifischer Weise aneinandergereiht. Sie sind, wie auch das übrige Material (Schriften der S.-Kirche, Gutachten von Philosophen, Ärzten und Juristen), für die Subsumtion nicht aufbereitet. Eine erstmalige Aufbereitung im gerichtlichen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes würde einen diesem Verfahren nicht angemessenen Aufwand verursachen und einer zeitgerechten Entscheidung entgegenstehen. Hinzu kommt, daß die Ast'in die Sachverhalte und die Substanz des vorgelegten Materials in Frage stellt. Die Erfahrungsberichte der Bediensteten der Ag'in lassen das Auftreten der S.-Kirche und deren "Praktiken" weniger gravierend erscheinen, als dies die Ag'in darstellt. Dies gilt insbesondere für die Höhe der geforderten Entgelte und die Gewinnerzielungsabsicht der Ast'in sowie für die Gefährdung von Gesundheit und Vermögen der geworbenen Personen. Bei diesem Sachstand fehlt eine ausreichend abgesicherte Tatsachengrundlage für eine Prognose über den Ausgang des Hauptsacherechtsstreits.

   In ähnlicher Weise ungesichert ist die anstehende rechtliche Beurteilung. Sollte der Ast'in die Eigenschaft als Religionsgemeinschaft (Art. 4 GG) oder als Weltanschauungsvereinigung (Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 7 WRV) zustehen (ablehnend BVerwG, NJW 1981,1460 und NJW 1985, 393; dazu Franz, NVwZ 1985, 81 und Schatzschneider, BayVBl 1985, 321), so stellt sich die Frage, ob und inwieweit trotz der vorbehaltlosen Gewährleistung der Schutzbereich des Art. 4 GG eingegrenzt werden kann, etwa mit Rücksicht auf das Gemeinwohl oder zum Schutz überragender Rechtsgüter, etwa bei Verletzung elementarer Grundrechte anderer (vgl. BVerfGE 18, 216/220; 30, 1/20). Ähnliche Fragen wirft die Beurteilung unter dem Gesichtspunkt der Vereinigungsfreiheit auf. Die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), die religiösen Gruppierungen grundsätzlich zusteht, wird durch Art. 9 Abs. 2 GG solchen Vereinigungen aberkannt, deren Zwecke oder deren Tätigkeiten den Strafgesetzen oder der verfassungsmäßigen Ordnung zuwiderlaufen. Ob die von der Ag'in untersagte Tätigkeit, insbesondere die Gespräche, Persönlichkeitstests, Kurse und Seminare überhaupt vom Grundrechtsschutz der Art. 4 und 9 GG umfaßt werden oder ob sie von diesem abzuschichten sind, ob etwa ein wirtschaftliches Unternehmen sich des Deckmantels der Religionsgemeinschaft bedient, ist eine weitere der Klärung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entzogene Problematik. Sollte eine gewerbliche Tätigkeit vorliegen und damit § 35 GewO einschlägig sein, wäre hiervon die Ausübung einer heilberuflichen Tätigkeit - sollte sie gegeben sein - abzugrenzen (§ 6 Gew0); insoweit eventuell vorliegende Verstöße gegen das Heilpraktikergesetz und das Heilmittelwerbegesetz wären über Art. 7 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 LStVG zu verhüten und zu unterbinden.

   Der VGH hat daher seine Entscheidung über die sofortige Vollziehbarkeit der Untersagungsverfüeune unter Abwägung der gegenseitigem Interessen zu treffen und dabei sich einer Prognose über den Ausgang des Hauptsacherechtsstreits zu enthalten. Sollten, wie es die Ag'in darstellt, Gefahren für die Allgemeinheit aus den Aktivitäten der Ast'in entstehen, so scheinen diese doch nicht eine Verfestigung und eine Qualität erreicht zu haben, die ein Eingreifen mit Sofortvollzugsanordnung rechtfertigen. Organisationen der S.-Kirche bestehen in Bayern seit dem Jahr 1970. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, daß sich ihre Aktivitäten seither wesentlich geändert hätten ... Bei im wesentlichen unverändertem und von der Ag'in bisher hingenommenen Tätigsein seit 15 Jahren obliegt der Ag'in eine besondere Darlegungslast für ein über das Interesse am Erlaß der ergangenen Entscheidung hinausgehendes Interesse an seiner sofortigen Vollziehung. Die Ag'in hat jedoch besonders gravierende und in besonderer Weise aktuallsierte Gefahren für die Allgemeinheit, die ein sofortiges Eingreifen erforderlich machen könnten, nicht geltend gemacht. Die Ast'in weist - ohne daß dies die Ag'in substantiiert in Frage stellen könnte - darauf hin, daß gesundheitliche Schädigungen bei der von der Ag'in in Schutz genommenen Personengruppe innerhalb 15jähriger Tätigkeit der S.-Kirche in Bayern nicht bekannt geworden seien. Bei dieser Sach- und Rechtslage muß daher der Grundsatz des Vorrangs der aufschiebenden Wirkung eingelegter Rechtsbehelfe gegenüber dem Sofortvollzug der untersagten Verfügung Geltung behalten.