23 OWi 643/95 a
Bußgeldsache gegen xxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxwegen § 16 Straßengesetz
Die Betroffene wird freigesprochen. Die Kosten des Verfahrens
einschließlich der notwendigen Auslagen der Betroffenen trägt
die Staatskasse.
Die Betroffene ist Mitglied der "Scientology". Am 07.04.1995 verteilte sie zusammen mit einer weiteren Person um 15.00 Uhr in der Rathausgasse in Freiburg an vorbeigehende Passanten kleine Handzettel in der Größe DIN A 6 mit folgendem Text:
Kostenloser Vortrag in FreiburgDie Rathausgasse liegt in der Fußgängerzone der Stadt Freiburg. Irgendwelche Hilfsmittel (Ständer, Tische etc.) wurden nicht aufgestellt. Auch Beeinträchtigungen des Fußgängerverkehrs oder des sonstigen Straßenverkehrs lagen nicht vor. Das Verteilen der Handzettel wurde bereits nach kurzer Zeit durch Einschreiten der Polizei beendet.Reagieren Sie manchmal, wie Sie gar nicht wollen? Wissen Sie, oft was Sie tun sollten - und tun es doch nicht?
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Was ist DIANETIK wirklich?
Freitag 7.4.95 um 20 Uhr in der DIANETIK-Information Freiburg, Dunantstr. 16 A, Tel.: 0761/807298
Die Stadt Freiburg wirft der Betroffenen vor, den Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen überschritten und damit öffentlichen Verkehrsraum ohne Vorliegen einer Sondernutzungserlaubnis genutzt und damit gegen die §§ 16 Abs. 1, 54 Abs. 1 Nr. 1 des Straßengesetzes für Baden-Württemberg verstoßen zu haben. Diese Auffassung ist rechtsirrig. Das Verhalten der Betroffenen unterfällt dem Gemeingebrauch. Sie war aus Rechtsgründen freizusprechen.
II.
Sowohl in der Lehre als auch in der Rechtsprechung ist heute weitgehend unbestritten, daß der Widmungszweck einer öffentlichen Straße unter dem Gesichtspunkt "Verkehr" nicht durchgängig auf die bloße Ortsveränderung beschränkt werden kann, sondern daß auch kommunikative und andere Tätigkeiten zum Gemeingebrauch gerechnet werden müssen. Dies gilt vor allem für innerörtliche Straßen und Plätze wie Fußgängerzonen etc., die vor allem auch Stätten des Informations- und Meinungsaustausches sind sowie der Pflege menschlicher Kontakte dienen müssen. Stärkere Einschränkungen werden dort vorgenommen, wo es sich um eine ausschließlich gewerbliche Tätigkeit handelt.
Von einer ausschließlich gewerblichen Tätigkeit kann in vorliegendem Fall nicht ausgegangen werden, zumindest fehlt es an einer auch nur ansatzweisen Darlegung entsprechender Anhaltspunkte, geschweige denn Beweismittel. Unter keinen Umständen kann hingenommen werden, daß der "Scientology" eine Berufung auf Artikel 4 Abs. 2 Grundgesetz (zumindest als Weltanschauungsgemeinschaft) allein mit der Begründung verwehrt wird, sie biete Bücher und Dienstleistungen (Seminare etc.) gegen Entgelt an. In diesem Punkt unterscheidet sich "Scientology" in keiner Weise etwa von Vorstellungen und Verhaltensweisen der Großkirchen, die überdies noch den Vorteil des Kirchensteuereinzugs haben. Allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften muß prinzipiell die Möglichkeit gegeben werden, entsprechende Einnahmen sowohl zur Finanzierung der laufenden Tätigkeit als auch zur Finanzierung des den meisten Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften innewohnenden Missionsgedankens zu erzielen. Der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Freiburg 4 K 758/93 vom 6.6.1994 kann daher nicht gefolgt werden, wobei dieser Entscheidung allerdings auch ein etwas anderer Sachverhalt zugrunde lag. Im übrigen kann zu der Frage Weltanschauungsgemeinschaft oder Gewerbebetrieb bei "Scientology" auf die ausführlichen Gründe in den Entscheidungen etwa des Oberverwaltungsgerichts Hamburg BS III 326/93 vom 24.8.1994, des Verwaltungsgerichts Frankfurt IV/2 E 2234/86 vom 4.9.1990 und des Verwaltungsgerichts Berlin I A 73,86 vom 12.10.1988 verwiesen werden, wo diese Fragen eindrucksvoll und ohne geistige Voreingenommenheit erörtert werden. In diesen Entscheidungen ist auch dargelegt worden, daß - ebenso wie im vorliegenden Fall - keine Anhaltspunkte etwa für die Annahme vorliegen, daß die aus Dienstleistungen und Büchern erzielten Einkünfte bestimmten einzelnen Personen zufließen und aus diesem Grund davon ausgegangen werden müßte, daß ein Religionscharakter nur vorgeschoben ist. Hinzu kommt, daß "Scientology" offenbar auch in den USA bereits ein langwieriges Anerkennungsverfahren zur Steuerbefreiung erfolgreich abgeschlossen hat. Die starke Medien- und Pressekampagne der Gegenwart gegen "Scientology" ist zur Urteilsbildung vollständig ungeeignet.
Die Frage, ob die in vorliegendem Fall festgestellte Tätigkeit der Betroffenen dem Gemeingebrauch unterlag oder eine erlaubnispflichtige Sondernutzung darstellte (wobei allerdings nach der eigenen Auffassung der Behörde eine derartige Erlaubnis ohnehin nicht erteilt werden soll), muß daher von der "Scientology" gelöst und in erster Linie nach den vorhandenen objektiven Kriterien danach beurteilt werden, was eigentlich konkret geschehen ist: So verteilten 2 Personen innerhalb einer Fußgängerzone ohne jede Störung anderer und ohne irgendwelche weiteren Hilfsmittel kleine Handzettel für einen Vortrag. Zu einer derartigen Tätigkeit hat bereits das Bundesverfassungsgericht (auch im Zusammenhang mit "Scientology") wie folgt Stellung genommen (Bundesverfassungsgericht 1 BvR 1377/91 Beschluß vom 18.10.1991):
"Danach ist die Meinungsfreiheit mit dem Rechtsgut "Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs" unter Berücksichtigung der konkreten Umstände abzuwägen. Der Schutz der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs ist nicht generell geeignet, einen Erlaubnisvorbehalt zu rechtfertigen, unabhängig davon, ob es sich um eine Bundesfernstraße oder um innerörtliche Fußgängerzonen oder verkehrsberuhigte Bereiche handelt (so auch BVverGE 56, 63, 66 ff.) Bei der gebotenen differenzierten Betrachtungsweise kann es als nahezu ausgeschlossen gelten, daß die Sicherheit des Verkehrs in Fußgängerzonen und verkehrsberuhigten Zonen durch einzelne oder mehrere Flugblattverteiler überhaupt beeinträchtigt oder gar gefährdet werden könnte.Den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ist kaum noch etwas hinzuzufügen. Unter "straßenrechtlichen" Aspekten lag eine geradezu harmlose Tätigkeit vor, ohne irgendeine meßbare Beeinträchtigung des "Verkehrsrechts" anderer. Eine derartige Verhaltensweise unterfällt dem Gemeingebrauch und darf nicht einem repressiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterworfen werden. Hierzu bedarf es nicht einmal mehr einer Erörterung der Frage, ob Artikel 4 Abs. 2 Grundgesetz einen erweiterten Schutz gewährt. Auch gegenteilige Aspekte, etwa einer sozialen Mißbilligung der Tätigkeit von "Scientology", dürfen für die Auslegung dieser straßenrechtlichen Bestimmungen nicht herangezogen werden. Insoweit darf "Scientology" nicht anders behandelt werden als andere Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften, für die - soweit erkennbar - noch niemals in vergleichbaren Fällen die Notwendigkeit einer Sondernutzungserlaubnis bejaht wurde. Es ist immer wieder ein Zeichen geistiger Unfreiheit und ideologischer Bevormundung und letztlich Willkür, wenn Verbotsnormen hervorgeholt werden, um damit Zielsetzungen zu verfolgen, die mit dem eigentlichen sachlichen Regelungsinhalt der Normen nichts mehr zu tun haben. Auch in vorliegendem Fall ist ganz offensichtlich, daß es nicht um den "Straßenverkehr" geht, sondern allein um eine Mißbilligung von "Scientology". Es muß Aufgabe der Justiz bleiben, dieser Verfahrensweise entgegenzutreten.Beeinträchtigungen der Leichtigkeit des Fußgängerverkehrs sind demgegenüber zwar in Betracht zu ziehen. In aller Regel wird die Beeinträchtigung aber schon deshalb minimal sein, weil die Passanten, die an einem Flugblatt oder einer Broschüre kein Interesse haben, die Möglichkeit haben, einem Flugblattverteiler aus dem Wege zu gehen (vgl. VGH München, NJW 1978, S. 1940 ff.). Jedenfalls steht die Behinderung der Ausübung der Meinungsäußerungs- und Meinungsverbreitungsfreiheit durch das Erfordernis, vor Beginn der Grundrechtsausübung eine Genehmigung einholen zu müssen, außer Verhältnis zu dem mit dem Erlaubnisvorbehalt erstrebten Erfolg, die Leichtigkeit des Verkehrs in Fußgängerzonen und verkehrsberuhigten Bereichen zu gewährleisten."
Zu Rechtsbeschwerde-Entscheidungen in OWi-Verfahren kann im übrigen auch auf die Entscheidungen des OLG Karlsruhe 2 Ss 34/90 vom 9.7.1990 und des OLG Stuttgart 1 Ss 218/95 vom 12.7.1995 verwiesen werden.
[Unterschrift]
Dr. Schleef
Richter am Amtsgericht