Eine Reise nach Berlin im Jahr 1956

Den folgenden Text fand ich im Nachlass meiner Mutter. Es handelt sich um ein Album mit Fotos, handschriftlichem Text, Zeitungsausschnitte, Eintrittskarten etc. Es ein Bericht aus dem Berlin des Wirtschaftswunders, nach dem Krieg und vor dem Mauerbau. Man konnte sich zwischen West- und Ost-Berlin frei bewegen, aber es gab einige merkwürdige Regeln und Fallstricke. Aus damaliger Sicht war der Bericht vermutlich banal, und verschwand im Regal. Über 50 Jahre später ist er jedoch sehr wertvoll.

Achtung: Text und Fotos sind urheberrechtlich geschützt. Nur "weil es im internet ist", bedeutet es nicht, dass ohne Erlaubnis der Erben beliebig kopiert oder abgedruckt werden darf.

Kommentare und Bemerkungen bitte in diesem Blog-Eintrag, private Nachrichten an tilman at snafu punkt de.

Alle Namen sind geändert oder gekürzt, inklusive der meiner Mutter.


Nur für Leser -
          so schlecht wie ein Vorwort

Lieber Leser - es ist das erste und einzige Mal, daß ich dich so nenne - du hast hoffentlich schon gemerkt, daß dieses Buch weder für dich noch für irgend einen anderen Mitmenschen geschrieben ist. Ich habe es dir sehr leicht gemacht, einer Versuchung zu widerstehen, indem ich dir nur verkehrtherum stehende Buchstaben zeigte und dafür Bilder sprechen ließ. Aber - der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach: deine schmutzigen Hände haben das Buch nun doch herumgedreht.

Damit du gleich weißt, mit wem du es zu tun hast: Ich bin boshaft und will dir einige Enttäuschungen nicht ersparen (ein Sündenfall muß schließlich bestraft werden). Denn dieses Buch ist kein Buch sondern ein Tagebuch. Ein ganz persönliches Tagebuch meines Urlaubs in Berlin. Es fängt ganz nett und lustig an und wird, je näher das Ende rückt, immer langweiliger. Das liegt ganz einfach daran, daß mir die Schreiberei sehr bald zum Halse heraushing.

Ich schrieb keinen Führer Berlins, das konnte Baedeker besser; ich legte keinerlei Wert auf Vollständigkeit in der Aufzählung von Sehenswürdigkeiten. Wir sind durch Berlin gebummelt - Bummeln verträgt sich nicht mit Systematik (Jerome). Du wirst hier auch keine Soziologie oder Typologie der Berliner finden, einmal, weil es, frei nach Heine, Berlin und den oder die Berliner gar nicht gibt, zum anderen, weil wir, ich voreingenommen waren und sind. Auch Sympathie verschleiert den Blick.

Du wirst, pfui Teufel, ab und zu eine starke Tendenz in diesem Buche finden. Nun - du kannst mir die still geäußerte Stellungnahme schon gar nicht versagen - mein Standpunkt, ob vertreten oder verschwiegen, ist eben verdammt westlich. Dennoch schrieb ich kein "Zeitdokument". Du wirst kaum lesen, daß dieser Sommer unter dem Zeichen von Nasser stand (hat man je einen nasseren erlebt?) und du kannst aus unseren Äußerungen und unserem Leben und Tun nicht auf die "heutige Zeit" und die "Jugend von heute" schließen.

Über eins aber freue ich mich ganz besonders: Du wirst vieles nicht verstehen! Und was noch schöner ist: Du merkst gar nicht, daß du etwas nicht verstehst oder übersiehst. Denn diese Seiten sind für mich allein geschrieben, nur Willi und Erika hätten ein Recht, sie zu lesen und können sie verstehen. Sie sind dabeigewesen und wissen auch da weiter, wo nur angedeutet oder verschwiegen worden ist.

Ha! Jetzt leuchtet deine Signalanlage für Gesichtszüge wieder auf: Rot (Bedeutung siehe Farbensymbolik)! Aber hier irrt nicht der Autor sondern der Leser! Jedesmal, wenn du glaubst, eine Stelle gefunden zu haben, deren Reiz in Verschwiegenem besteht, dann irrst du! Ich erinnere dich noch einmal daran, daß du ein Tagebuch vor dir hast! Warum sollte man in einem Tagebuch so "wichtige" Erlebnisse verschweigen? Der Mond scheint auch in Berlin sehr schön, aber meinst du, man muß deshalb (wie du) gleich sentimental geworden sein? Pustekuchen, denkste!

Und jetzt langt's, mir schon lange, weil ich es ablehne, mich mit Schnüfflern zu unterhalten, dir, weil... - ppp, ich frage nicht nach deinen Gründen.

Aber ich sage dir - ein für allemal: dieses Buch ist

nicht

für

Leser !!!!!!!!!!


2.9.1956 Sonntag

Berlin! Berlin! Seit Wochen das Gesprächsthema, mein Gesprächsthema. Nun aber nischt wie hin, sonst können die anderen det Jerede nich mehr ertragen. Heute soll es endlich losgehen; wenn nicht alles schiefgeht, holt Onkel Emil mich um sieben Uhr ab. Na also, da isser ja. Abschiedsküßchen, den Teddybären unauffällig verstaut und hinein in den Wagen. "Tach, Erika. Ja ... wo hast du den Carolus Magnus gelassen?" - - - "Nee sowas! Und Mike-Othello hatte sich doch sooo gefreut!"

Meine Reisebüroerfahrungen werden gleich ausgenützt, ich soll Erika eine Fahrkarte nach ... ach so, nach Berlin besorgen. So 'ne Schlange am Schalter! Ob der Zug wartet? Aber da ist ein netter Herr, der auch nach Berlin will. "Natürlich, jemacht, Frollein." Also besorgt er uns die Karte mit. Ohne Provision. Erikalein, hätt'ste eher was gesagt, hättste die Karte sogar noch 50 Pf. billiger bekommen. Reisebürobeziehungen...

An der Sperre gibt es eine kleine Hemmung. "Ja wieso denn, ich eine Fahrkarte zu wenig? Na hörn Se mal... Ach so, für meinen jungen Hund? Na da lassen Se sich man keine grauen Haare wachsen, der fährt schwarz und das bis nach Berlin."

Der Zug hat Verspätung. Ob wir wohl einen Sitzplatz bekommen werden? Wir haben Glück, ein fast leeres Abteil, nur eine mittlere Dame sitzt darin. Othello bekommt einen Fensterplatz und Erikas Kleiner darf auch sitzen. Sie sind ein köstlicher Spaß, diese beiden, man betrachtet uns schon mißtrauisch genug ob dieser Kinderei. Aber es stellt sich dann heraus, daß wir vielleicht gar nicht so kindisch sind, als sich ein kleines Gespräch mit unserem Gegenüber ergibt.

Und sonst? Wir essen, man kennt das. Und reden von einer Freundin, die angeblich und vielleicht, aber gar nicht sicher in Braunschweig zusteigen wird. Wir halten mit Mühe und Not einen Platz frei, in Braunschweig wird es nämlich wirklich voll. Aber diese Freundin kommt nicht! Und auf den freigehaltnen Platz setzt sich - einfach allerhand - ein junger Mann. Neben uns. Na det kann ja heiter werden! Wird es auch. Aber zunächst liest er Zeitung, den "Spiegel". Ich kenne die Nummer und erzähle Erika den Inhalt des Fischer-Koesen-Aufsatzes, den Rudi gerade liest. Rudi... Rudi? Ach so, der Passbeamte kontrollierte sehr, sehr misstrauisch Rudis Ausweis und Fahrkarte und fragte dann: "Heißen sie Rudi?" Was er nur bejahen konnte.

Dann kommt die Grenze. Ewiger Aufenthalt in Marienborn. Wir sehen die ersten Vopos, unsere Ausweise werden sehr oft, das Gepäck gar nicht kontrolliert. Othello wird an die frische Luft geführt, Erika besorgt neuste Propaganda-"Literatur" und unter den Augen der wachsamen Mitreisenden werden die ersten Anknüpfungsversuche mit diesem jungen Mann gemacht. Der eine und der andere geht mal auf den Gang, man folgt, man kommt wieder, außerdem sind die Teddies da - die Sache entwickelt sich und unsere Ab-Teil-Haber gucken merkwürdig. Naja.

M a g d e b u r g. Heimat ich grüße dich. Wirklich, es wird mir etwas weh ums Herz. Besonders, als wir nachher weiter in Richtung Biederitz fuhren. Ja Kuchen! Den wir dort vor Jahren regelmäßig aßen. Vorher wurde noch geknipst. Auf dem Bahnhof. Natürlich darf man nicht, aber ich bin noch zu harmlos, um ängstlich zu sein. Ich wollte ja auch nur das Bahnhofsschild... Und Erika soll auch mit drauf, als f... nein westliche Staffage. Klick. Und nun die Kamera schnell wieder in den Wagen. "Halt, halt, Frollein! Sie haben hier fotografiert? Und Sie wissen ganz genau, daß Sie das hier nicht dürfen, im Westen ist es ja auch verboten!" Fatal, fatal. Na, ich sage ihm, daß es im Westen keinesfalls durchaus und ganz und gar nicht verboten sei, auf Bahnhöfen zu knipsen. Staunen. Will er nicht glauben. Dann: Aber bei uns ist alles volkseigen und bei uns dürfen Sie nicht knipsen" und er grinst dazu. Dialektisch geschulte Leute - nicht zu widerlegen. Ein letzter Versuch: "Aber Sie haben doch gesehen, daß ich nur meine Freundin fotografiert habe, ein Erinnerungsbild, das keinerlei dokumentarischen Wert hat!" Vielleicht hat Erika ihn angelächelt oder es lag an dem schönen Wetter oder es war überhaupt ein netter Mensch - er nimmt uns den Film nicht weg und verabschiedet sich mit einer milden Verwarnung.

Langsam wird unser Abteil wieder leer und wir unterhalten uns sehr angeregt mit der (seit Hannover mitfahrenden) letzten Dame. So erfährt man eben doch vieles über den Osten, was man noch nicht weiß und auch sonst nicht hört, sie erzählt mit einer erstaunlichen Offenheit. Wirklich, wir sollten dankbarer sein für jeden Tag, den wir in westlicher Freiheit verleben dürfen, und es wiegt, so verglichen, nicht schwer, daß auch bei uns manches nicht in Ordnung ist.

Und weiter geht's in Richtung Berlin. Unsere Reisebekanntschaft - man macht Fortschritte, wir duzen uns bereits. O diese Jugend. Draußen wird es immer brandenburgischer. Dann kommen wieder Kontrollen. In Fahndungsbüchern wird solange geblättert, bis der freien Weiterreise nichts mehr im Wege steht. Hinein nach Berlin. Bahnhof Wannsee, an der Avus entlang, wir sehen den Funkturm - alles ist uns längst vertraut. Findige Augen entdecken noch während der Fahrt eine gewisse Straße mit einem gewissen Gebäude Nr. **. Der Zug hat etwas Verspätung und wir sind sehr, sehr gespannt, ob und wer uns abholt.

Ah, da ist ja Paul. Heute sagt man natürlich, so habe ich ihn mir vorgestellt, genau so. Alles Schwindel! Beschreibung? Laßt Bilder sprechen! Ich bin in leichter Unruhe. Ob Willi keine Lust gehabt hat? Und wenn er da ist, wie sieht er nun wirklich aus? Überhaupt, jemanden kennenzulernen, den man noch gar nicht kennt, es ist eine aufregende Sache. Wir gehen durch die Sperre, na also, er kommt uns schon entgegen. Vorstellung: Willi, Erika, Paul, Rudi, alles ganz einfach.

Und dann? Erika und ich versuchen, mit einem Berliner Telefon fertig zu werden, unmöglich. Viele Groschen müssen dran glauben, aber es gelingt uns nicht, Sundermanns richtige Telefonnummer zu erfahren, geschweige denn die Verbindung zu bekommen. Ratlose Gesichter. Rudi hat auch Pech, der gute hat die Adresse seiner Verwandten vergessen und muß nun so in Spandau auf die Suche gehen. Ein Berliner Adressbuch gibt es noch nicht, aus Rücksicht auf die vielen Leute aus dem Osten, die hier untergetaucht sind. Auf dem Einwohnermeldeamt oder bei den Polizeidienststellen bekommt man auch nicht ohne weiteres eine Auskunft, man hat in Berlin zu schlechte Erfahrungen gemacht (mit östlichen Agenten). Man muß zunächst den (westlichen) Ausweis vorlegen, die Adresse wird notiert und dann wird erst bei der gesuchten Adresse angefragt, ob ein Zusammentreffen erwünscht ist.

Unsere Adresse haben wir zwar, aber die Straße ist auf dem Baedeker-Stadtplan nicht zu finden, wir hätten sie auch nie gefunden, wenn nicht Willi und Paul gewesen wären. Wir hören nur U-Bahn und Wittenbergplatz umsteigen und Krumme Lanke und Dreier-Bus, da hat schon irgendjemand Fahrscheine gekauft und wir sind gleich in der U-Bahn.

Zwischen Bahnhofshalle und U-Bahn-Schacht gab es noch einen "ersten Eindruck" von Berlin, nämlich den Blick auf die belebte Kreuzung Hardenbergstraße-Joachimstaler und auf die Ruine der Gedächtniskirche, ein Mahnmal an alle Wunden, die der Krieg Berlin geschlagen hat.

Die U-Bahn - das erste Zeichen dafür, daß die zwei Hälften Berlins immer noch ein ganzes sind. Sie gehört dem Westen, verkehrt aber in ganz Berlin. Die S-Bahn gehört dem Osten, auch sie fährt über die Sektorengrenzen. Zahlungsmittel für beide: Im Westen Westgeld, im Osten Ostgeld, die U-Bahn ist im Osten sogar -,10 DM billiger. Ostbewohner dürfen auch im Westen mit Ostgeld zahlen.

Wir fahren eine endlos lange Strecke, bis zur Krummen Lanke. Es ist drückend heiß, wie gut, daß Othello noch seinen Sommerpelz anhat. Im Bus ein Berliner Kuriosum: Wir haben zwar Umsteigefahrscheine, müssen aber 5 Pfennig nachbezahlen, für die Koffer auch. Natürlich weiß kein Mensch, wo die Straße ist. Tscha, wir sind eben 4 Stationen zu weit gefahren! Willi und Paul schleppen brav die Koffer, bis zu Sundermanns. Niemand da. Nur eine Art Haushälterin (später stellt sie sich als Chauffeursfrau heraus) und ein undefinierbarer junger Mann. Sundermanns sind im Segelclub, der junge Mann erklärt recht umständlich den Weg. Aber da kommt ja Karl Heinz, der süße Racker! Wie er sich freut, daß seine liebe Erika da ist!

Sundermanns sind reizend zu uns, laden uns ein, mit ihnen etwas zu trinken, wir können wirklich nicht nein sagen. Arrivederci, Paul und Willi, bis morgen. Und vielen Dank.

Karl Heinz ist außer Rand und Band und tobt mit uns herum. Aber nach dem Abendbrot muß er in die Heia, da hilft alles nichts. Wir sitzen noch mit Sundermanns zusammen, trinken ein Glas Wein, erzählen lange und sinken dann todmüde ins Bett.

Der Anfang war gut!

3.9.1956

Morgens um ½ 6 wache ich auf, mein Kopf ist irgendwie kalt geworden. Wenn man wach ist, ist einem ein schlafender Mitmensch ein Ärgernis. Deshalb stoße ich Erika mit dem Fuß an, sie brummt etwas und dreht sich auf die andere Seite. Da geht die Tür an meinem Kopfende ganz auf und hereinspaziert ein junger Mann, unser Karl Heinz. Nun ist ja an Schlaf nicht mehr zu denken! Es wird getobt, er treibt es ein bißchen arg und es geht nicht ohne Krach. Seine Mutti ist entsetzt, schickt ihn wieder ins Bett, aber der süße kleine Frechdachs kommt immer wieder. Wir haben noch lange nicht genug blaue Flecke!

Herr Sundermann fährt uns in die Stadt, über die Avus und den Kaiserdamm mit der "grünen Welle" (für Uneingeweihte: Wenn man hier mit einer bestimmten Geschwindigkeit, ich glaube 50 Stdkm., fährt, hat man immer grünes Licht) und durch die Hardenbergstraße. Aber bei der Geschwindigkeit ist die Nummer 32 nicht zu entdecken.

Kurfürstendammbummel mit Paul. Das also ist Berlins schönste, berühmteste Straße. Ein Geschäft neben dem andern, Kinos, Theater, elegante Cafés. Reklame. Elegante Menschen, die es nicht einmal alle eilig haben (also wohl keine Berliner?)

Vorsicht, frische Farbe! steht an den Straßenlaternen. Für die Filmfestspiele hatte man sie in aller Eile neu aufgestellt, um den festlichen Anblick noch zu erhöhen. Das mußte aber so schnell gehen, daß man sie nur provisorisch streichen konnte. Heute kratzt man die Farbe wieder ab und holt den Rostschutzanstrich nach - das ist die andere Seite eines verblüffenden Berliner Tempos, oder?

Nachher treffen wir Rudi. Der arme hat seine Verwandten natürlich nicht gefunden. Er schlief in der Bahnhofsmission, dort waren leider Wanzen, also schlief er nicht.

Bei Aschinger wird die erste Weiße mit Schuß getrunken. Kinder, det Zeugs schmeckt ja!

Das ist ja großartig, wir finden zwei Zimmer im Autohof Westend, sehr billig, 3.50 DM pro Person und sehr sauber und ordentlich!

In Wannsee haben wir noch ein langes, ernstes Gespräch mit Frau Sundermann. Wirklich, sie hat es nicht leicht gehabt und Außenstehende können gar nicht ahnen, was sich hinter der schönen Fassade des Wohlstandes noch heute an Unfrieden und Unglück verbirgt. Der Knilch von unten macht es ihr besonders schwer. Gestern hat er sich auch etwas Besonderes geleistet, hat er doch zu Sundermanns gesagt: "Die beiden kamen gleich mit zwei Arbeitslosen an, die ihnen die Koffer tragen." Nee, Willi und Paul, da habt ihr auf uns doch einen besseren Eindruck gemacht!

Nun aber schnell! Erika in den Wannsee und ich in den Autohof. Ist das eine Hetze! Und der Koffer ist so schwer. In der Aufregung gehe ich aus Versehen beim Wittenbergplatz durch die Sperre und muß noch einmal bezahlen (Aber den Koffer habe ich so durchgeschmuggelt). Ich schlafe in der U-Bahn im Stehen, selbst Othello fällt einfach um und wird von freundlichen Mitmenschen wieder aufgehoben. Ja, die Berliner Luft macht doch müde.

Mit nur einer Stunde Verspätung komme ich an, um 7 Uhr. Die Hausnummer finde ich auch erst, nachdem ich in der Bank gefragt habe, nee sowas. Ist das umständlich, Anmeldung usw., ich will doch gar nicht zum Direktor. Aber dann kommt Willi. Wir hören Schallplatten (Brubeck und dann noch etwas "Schönes"), ich lerne seine Eltern kennen, und wir essen Abendbrot (mit Hustentee, Vati würde sich freuen!). Tut doch gut, wenn man den ganzen Tag nicht richtig gegessen hat (weil keinen Appetit = keine Zeit). Herr Hansel ist entsetzt, daß ich ihn nicht für einen Berliner halte. Ist er aber wirklich nicht.

Um ½ 9, eine halbe Stunde zu spät, sind wir wieder am Kaiserdamm. Kein Mensch da, wir warten noch eine halbe Stunde, telefonieren einige Male und mit Erfolg, aber Erika, Paul und Rudi sind nun mal unauffindbar. Da trotten wir eben allein zum Funkturm, auch gut. Berlin bei Nacht und von oben, viel Licht, aber merkwürdig ruhig und an der Sektorengrenze beginnt die Dunkelheit. Ein faszinierender Anblick, fremd, schön, rätselhaftes Negativ eines Bildes, Schemen, Formen, Umrisse ohne verwirrende Einzelheiten. Windig ist es. Der Turm, gerade 30 Jahre alt, wackelt wahrhaftig mit dem Kopf.

Im Funkturmrestaurant tun wir erst so, als ob wir nur Ansichtskarten kaufen wollten. Man schubst uns vom unhöflichsten Kellner zu einem noch unhöflicheren, wir bekommen die Karte von oben herab und - setzen uns. Sieh da, sieh da, sie können auch anders, auf einmal! Unseren Wein bekommen wir schon viel höflicher!

4.9.1956

Erika hat es schwer. Sie leidet, unter mir. Denn ab ½ 6 kann ich nicht mehr schlafen. Ist es die "liebe" Gewohnheit? Oder der Autolärm? Oder einfach die Neugier auf ein weiteres Stück von Berlin und die leise Furcht, etwas zu verschlafen? Es sei wie es wolle, ich esse erst mal was, Stullen von zu Hause. Aufräumen konnte auch nicht schaden. Es macht sogar wieder müde. Die erste Postkarte nach Hause muß endlich geschrieben werden, im Bett. Weil es höchste Zeit ist, unter dem Datum von gestern: "Ich sitze auf dem Funkturm..."

Bei Rudi ist bis 12 Uhr "Nebel", hat er gesagt. Die verwanzte Nacht muß nachgeholt werden. Also bummeln wir allein, Erika und ich. Durch die schöne Hardenbergstraße mit ihren modernen Geschäftshäusern, der TU, der Kunstakademie, der "Sinfoniegarage", dann durch den wieder aufgeforsteten Tiergarten, an der Siegessäule vorbei, bis zum Brandenburger Tor. Am russischen Ehrenmal ist ein köstlicher Fremdenführer, der Amerikanern Berlin zeigt und ihnen gerade klarmacht, daß nicht allein der Ku-Damm Berlin ist. Na, hoffentlich hat ihn "Madame" verstanden, er "berlinerte" nämlich sehr.

Am Brandenburger Tor ist der Westsektor und wir auch - zu und am Ende. Es ist warm, die Sonne sticht, unsere Füße schmerzen und der nächste U-Bahnhof ist weit weg. Es hilft alles nichts, wir müssen schon in den Ostsektor. Gerade an dieser Stelle ist der erste Eindruck erschreckend. Wir gehen am Reichstag vorbei, an der Spree entlang, zum Bahnhof Friedrichstraße. Viele Ruinen, tote Straßenbahnschienen, alles öde und grau. Wir sind am Verdursten. Nur durch große Überredungskünste gelingt es uns, den Kellner zu bewegen, uns für Westgeld einen Apfelsaft zu verkaufen. Es ist eben verboten. Angeblich kann er auch nicht auf 5,- herausgeben, aber soviel für 2 Apfelsaft? Wohl ein bißchen teuer, was? Zum Glück finden wir noch einen Schwaben, der uns mit Kleingeld aushilft. In der U-Bahn nehmen sie unser Westgeld schließlich auch an.

Erika ist pflastermüde und will ein Nickerchen machen. Rudi und ich gehen in die "Markthalle", ich will mir in meinen Gürtel noch zwei Löcher knipsen lassen. Die Verkäuferin guckt mich an, fragt: "Zur Mitte oder nach außen?" Meint ihr Chef, mit schrägem Blick auf mich: "Na meinste, die will ne Mastkur machen?" Dann fahren wir zu den "Mäckies". In der Kunstakademie ist eine gute Ausstellung moderner französischer Kunst, aus einem Pariser Museum, das gerade umgebaut wird. Einen Film über Picasso und einen über den Zöllner Rousseau sehen wir auch noch, als Zugabe.

Gegen Abend treffen wir Erika und Paul, unter der Uhr am Zoo. Bei Aschinger holen wir erstmal das Mittagessen nach. Hier ist und isst ganz Berlin, Leute mit und Leute mit weniger Geld, sicher wird Aschinger auch unser Stammlokal werden.

Wir fahren zum erstenmal mit der S-Bahn, die ja dem Osten gehört. Wir werden es sicher nicht oft tun, drüben stellt man sich so mit dem Geld an, da wollen wir ihnen unser Westgeld auch nicht geben. Außerdem wird gar nichts für die westlichen S-Bahnhöfe getan. Was nicht sicherheitshalber repariert werden muß, läßt man verfallen. Gras gedeiht gut zwischen den Schienen. Eine Kleinigkeit, die auch ärgert: Auf dem Liniennetzplan in der S-Bahn steht: A = Amerikanischer, B = Britischer, F = Französischer und D = Demokratischer Sektor (wie auch auf den Sektorengrenzschildern).

Paul führt uns nun offiziell in den Ostsektor. Wir stöbern in einer Buchhandlung, der Humboldt-Buchhandlung. Gut, daß die Humboldts nicht ahnen, was man dort verkauft (verkaufen muß). Wer die reichhaltige Auswahl in westdeutschen Buchhandlungen kennt, erschrickt über diese Einseitigkeit, diese geistige Planwirtschaft. Die gesamte Unterhaltungsliteratur - rot. Die Klassiker sind mit Bedacht ausgewählt, je mehr sie in die heutige Linie passen, desto umfangreicher die Gesamtausgaben (Beispiel: Die vielbändige Heine-Ausgabe). Ebenso ist es mit den Ausländern, den modernen und den Klassikern. Teuer sind die Bücher auch, wenn man die Preise aus der Perspektive eines ostdeutschen Geldbeutels betrachtet, schlecht ausgestattet im Vergleich mit westdeutschen Büchern. Durch den günstigen Kurs könnten wir manches billig kaufen, im Ruetten & Loening-Verlag gibt es einige Klassikerausgaben, die mich reizen. Mal sehen, vielleicht beim nächstenmal. Denn Bücher, Zeitungen und Theaterkarten sind das einzige, was der Westdeutsche für Ostgeld kaufen darf.

Paul geht noch in ein Postamt, um von dort seinen Onkel anzurufen. Auch das ist Berlin: Man kann von Westen zwar nach Moskau telefonieren, aber ein Gespräch von West- nach Ostberlin ist unmöglich.

Unter den Linden, Friedrichstraße - das alte "klassische" Berlin. Heute? Linden sind wieder gepflanzt, es wird noch lange dauern, bis aus den Bäumchen Bäume geworden sind. Die Oper ist wieder aufgebaut worden, man ist besonders stolz darauf, weil West-Berlin sein großes Opernhaus noch nicht wieder hat. Aber sonst ist es auch unter den Linden öd und leer. Viele der historischen Bauten sind zerstört und es ist kaum wieder aufgebaut worden, Auf der Friedrichstraße sieht es etwas besser aus, hier herrscht wenigstens Leben und Verkehr. Einige Neubauten - meistens Häuser der Ostblockstaaten.

Überhaupt geht es mir seltsam mit Ost-Berlin. Zuerst kommt man aus Neugierde, man will mal sehen, wie es hinter dem "Eisernen Vorhang" aussieht. Aus der Neugierde wird Erstaunen, dann Erschrecken und ganz plötzlich kommt das furchtbare Begreifen. Begreifen, was es heißt, hier und so zu leben, unter einem Regime, das den ganzen Menschen beherrschen will und das seine Entwicklung völlig in der Hand hat und ihn beliebig fördert oder unterdrückt.

Die Stalinallee ist eine einzige Geschmacklosigkeit. Ein Klotz neben dem anderen, fast gleich im Aussehen und in der Größe, kalte Pracht. Die Stalinallee ist das "Schaufenster des Ostens", aber auch in ihren Schaufenstern sieht es nicht besser aus als überall im Ostsektor. Schlecht dekoriert, altmodisch und die Waren sind teuer und selten gut. Stalin-Allee und Kurfürstendamm - zwei Welten. Treffender läßt sich der Gegensatz von Ost und West gar nicht darstellen. Der Kurfürstendamm - wenn er nicht Berlin, gewachsenes (gewuchertes) Berlin wäre - er könnte eine Mischung aus Paris und New York sein. Die Stalinallee - geplantes Moskau.

Paul hat seinen Beruf verfehlt, er hätte Fremdenführer werden sollen! Er erzählt uns alles so lebendig und gibt überall Geschichten dazu, Erlebnisse, Ereignisse und Histörchen aus dem alten und neuen Berlin.

Aber nun ist es genug, wir müssen heraus aus dieser Luft, in dieser Öde und Trostlosigkeit ist es nicht auszuhalten. Der ganze Eindruck ist so niederschmetternd. Die geschmacklosen neuen Gebäude (Stil wie Stalinallee oder wie um 1900 herum), die stehengebliebenen alten Gebäude, die immer mehr verkommen, weil nichts an ihnen getan wird, die politische Propaganda überall und die wenigen Menschen, die noch zu sehen sind, müde, resignierend, meist schlecht gekleidet.

Wir verlassen die tote Hälfte Berlins und kommen wieder in den Westsektor. Im Aki tun wir einen Blick in die Welt: Politik, Sport, Wirbelstürme über Niedersachsen, ein Gebiss, das auch dann nicht zerbricht, wenn ein Auto darüber fährt. "Mensch," sagt ein "Jugendlicher" neben mir, "wenn se dir jetzt überfahren, haste mindestens dein Gebiss gerettet." Eben, das bekannte Glück im Pech.

5.9.1956

Zu Erikas Freude schlafe ich heute wirklich lange. - Unsere häuslichen Vorräte gehen allmählich zur Neige, wir müssen Nachschub besorgen. Ein kleiner Bummel durch Geschäfte und Kaufhäuser, Ku-Damm, Tauentzienstraße. Erika kauft sich eine hübsche weiße Bluse.

Ja, natürlich, Mister Joe! Beinahe hätten wir ihn vergessen. Erika hatte einen tollen Rohrpostbrief von ihm bekommen, sehenswertes Stück. Nun rufen wir ihn an, aber es klappt nicht gleich, er ist nicht momentan und angeblich kann man ihn auch nicht holen. Aber dann, nachher, ist er da, begeistert, aber enttäuscht, daß die Seeräuberjenny nicht mitgekommen ist. Das ist auch wirklich schade!

Das U-Bahn-Netz kennen wir nun schon ganz gut und kommen auch richtig nach Tempelhof. Schöne großzügige Anlage, aber die meisten Gebäude noch von den Amerikanern beschlagnahmt. Vor der "Hungerforke", dem Luftbrückendenkmal, stehen mindestens 20, mit Fotoapparat. Sie stehen überall in Berlin, die Amerikaner, und knipsen einfach alles. Im Flughafenrestaurant ist es sehr teuer, aber man kann wenigstens etwas sehen. Das ist ein anderer Betrieb als in Hannover! Eine Landung nach der anderen!

Hunger, Hunger, Hunger! Laßt uns zu Aschinger gehen, hier zu essen verbietet seine Majestät, der Reiseetat.

Am Abend holen Rudi und ich Willi ab und wir fahren zusammen in den Ostsektor. Wie ärgerlich, die "Distel" ist auf Tournee. Also Friedrichsstadt-Palast, "100 Jahre Varieté". Das Programm ist ganz gut, nur die kabarettistischen Einlagen sind voller quälender politischer Zweideutigkeiten, manchmal weiß man wirklich nicht, was und ob oder ob nicht verspottet werden soll. Aber gelacht ham wa, ham wa jelacht. Nur Mario Tuala - nee, wir fanden ihn scheußlich, das restliche Publikum jedoch war restlos begeistert. Naja.

Am Savigny-Platz trinken wir mal wieder die geliebte Weiße. Willi stößt beinahe mit seinem Musikverleger zusammen. Er bringt uns noch bis zum Autohof, Willi, nicht der Musikverleger. Auf dem Hof quatschen wir natürlich wieder solange, daß er seine letzte Bahn verpaßt. Es ist 1 Uhr und er muß zu Fuß zurück. Der Ärmste!

6.9.1956

"Das war in Schöneberg..." Ja, da fahren wir heute hin und wollen uns das Schöneberger Rathaus ansehen mit der Freiheitsglocke und der Unterschriftensammlung von 17 Mill. Amerikanern. Im Schöneberger Rathaus tagt der Berliner Senat. Pech, ausgerechnet heute darf nicht besichtigt werden, der Portier oder was er sonst darstellt, läßt sich nicht bestechen, schade. Na, wir hören um 12 wenigstens noch die Freiheitsglocke läuten.

Am Nachmittag fahren Rudi und ich wieder zum Zoo. Ich sehe mir die Heinrich-Heine-Buchhandlung an, die mir so gut gefällt, weil der Inhaber den idealen Buchhändler alter Schule darstellt. Freundlich, hilfsbereit, aufmerksam und zurückhaltend und - so scheint es dem Kunden und in diesem Falle auch mir - allwissend. Wir haben uns über Kästner unterhalten, den er sehr gut kennt - seit der Entstehung des fliegenden Klassenzimmers. Rudi hat inzwischen Geld umgetauscht zum "Schwindelkurs" von 1 : 4.20 und wir fahren zur Friedrichstraße. Wir fotografieren, nachdem wir vorher gefragt haben, ob und was man darf. Ja, seit Magdeburg sind wir doch vorsichtig geworden. Wir bummeln wieder Unter den Linden, auf der Friedrichstraße, gehen zu den Theatern und wieder in Buchhandlungen.

Rudis Film ist leider voll und es gelingt uns nirgends, einen zu kaufen, für Ostgeld sowieso nicht und wir können auch niemanden überreden, uns etwas für Westgeld zu geben. Wir könnten ja Spitzel sein! An einer Eisbude hat man wohl Mitleid mit uns, wir bekommen unser Eis tatsächlich ohne Ost-Ausweis. Einige Zeitungen nehmen wir noch mit, wir lesen sie sehr gründlich, obwohl ein großer Teil des Inhalts verfälscht ist und die Hetze gegen den westlichen Teil der Welt kaum zu ertragen ist. Und doch muß man zugeben, daß die Zeitungen schon etwas besser geworden sind als sie vor einigen Jahren waren. Man wagt es schon mehr, Fehler aus dem eigenen Land zu äußern. Allerdings wird daraus kaum eine Kritik am Regime, höchstens Kritik an der Verwaltung, und man stellt Forderungen zur Überwindung technischer Schwierigkeiten, ohne dabei "politisch" zu werden. Beispiele: Hindernisse in der Materialbeschaffung, Hemmungen und Unregelmäßigkeiten in der Warenverteilung, Organisationsfehler, auch nachgewiesene Langsamkeit der Post selbst bei Eilbriefen und ähnliches. Meistens geht es um Schwierigkeiten, die sich in einer freien (kapitalistischen) Wirtschaft von selbst regulieren oder die durch private Initiative beseitigt werden. Es wird eventuell noch an der Parteiarbeit in den unteren Regionen Kritik geübt. Könnte man sich aber im Westen vorstellen, daß alle Zeitungen, alle Parteien mit der Politik der Regierung im ganzen einverstanden sind? Seltsam ist auch, daß es hier fast keine Illustrierten gibt, wir entdecken sogar nur eine einzige. Aber das mag Zufall sein. Außer den Tageszeitungen sieht man an den Kiosken politische Zeitschriften und vielerlei Fachblätter. "Schund und Schmutz", wie bei uns, gibt es offiziell im Osten nicht. Aber es gibt Romanhefte über das Gangsterunwesen in Chicago bis zum Sittenroman, der warnend darstellt, wie schlecht und schmutzig die kapitalistische Welt ist. Diese Hefte sind natürlich "von erzieherischem Wert" für das Arbeiter- und Bauernparadies.

Heute abend steht uns eine besondere Überraschung bevor. Wir werden Herrn Kimbel kennenlernen. Um es ganz spannend zu machen, gehen Rudi und ich schon sehr früh zum Treffpunkt. Wir beide sollen uns den Knaben zuerst beschauen. Erika wird dann strahlend auf uns zukommen, auf mich und Rudi, und wir werden - gehen. Mal sehen, ob der "Unbekannte" gleich etwas merkt.

Unter der Uhr am Zoo stehen allerlei Leute, wartend. Wenn wir nur wüßten... Aber das Bild war zu klein, Gesichtszüge sowieso nicht zu erkennen. Rudi und ich wagen es, um 10 Pfennig zu wetten, welcher der anwesenden Charakterköpfe die Ehre hätte, Herrn Kimbel zu gehören. Rudi gewinnt. Als Erika kommt, stellt sich ihr ein mittelgroßer, etwas zerknitterter (Anzug, Hemd, Gesicht) Herr vor, naja. Aber das Mundwerk janz jroß, nachdem er sich davon erholt hat, daß Erika wirklich den ganzen Anhang mitgebracht hat. Es ist noch früh, wir gehen Eis essen und dann in die "Eierschale". Dort sind die Leute alle nicht ganz trocken hinter den Ohren, das liegt aber an der Hitze. Die Eierschale ist sehr klein, sehr voll, die Kapelle sehr laut, die Coca Cola wirklich eiskalt, die Gäste sehr jung und sehr ausgelassen. Wir - machen einfach mit und amüsieren uns köstlich, nachdem wir uns an Platz- und Luftnot gewöhnt haben und die südliche Temperatur als fast angenehm empfinden. Auch der Eierschalentanzstil macht uns gar keine Schwierigkeiten, er besteht darin, die Füße irgendwo hinzusetzen, wo noch keine anderen Füße Platz genommen haben, na und das eben im Rhythmus der Musik.

An unserem Tisch sitzen ein paar Leute, die sich gar nicht wohlfühlen und das auch noch dauernd mit Blicken und Worten äußern. Dr. Eulenberg, der Chef, erträgt seine fortschreitende Auflösung mit gleichbleibender Fassung und viel Coca Cola. Seine beiden Assistenten und ihre Damen sollten sich ein Beispiel daran nehmen und nicht soviel jammern und meckern! Geht doch, wenn's euch nicht gefällt!

Uns rührt es geradezu heimatlich, als wir unter den vielen gestohlenen und als Wandschmuck verwendeten Schildern auch eins vom Radauer Wasserfall entdecken.

Um 10 Uhr bittet der Lautsprecher, die Ausweise abzuholen - taktvolles Signal für die noch nicht achtzehnjährigen.

Eigentlich wollen wir uns noch in der "Badewanne" erfrischen, aber es ist doch schon sehr spät geworden, die U-Bahn fährt nur noch bis zum Wittenbergplatz und wir sind froh, als wir noch eine Straßenbahn zur Königin-Elisabeth-Str. finden.

Der Nachtportier macht uns die Haustür auf.

7.9.1956

Ganz fauler Tag heute. Wir dösen, lesen (oder tun wenigstens so) und sind zu müde und zu faul, irgendetwas zu unternehmen. Aber das darf man doch nicht - nichts tun! - nicht einmal im Urlaub. Also spazieren wir zum Charlottenburger Schloß. Aber auch hier haben wir Pech, die Renovierungsarbeiten sind noch voll im Gange (ob sie es bis zu den Festwochen schaffen?) und wir können uns nichts ansehen. Nun, wir sehen immerhin das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten von Andreas Schlüter, das vor dem Schloß steht und laut Prospekt "das bedeutendste Werk der deutschen Barockskulptur" ist. Wir schließen uns der Meinung des Prospekts an.

Dann bummeln wir langsam zurück. Die Bettler in Berlin haben noch Ideen! Ja, der Konkurrenzkampf! Da sitzt doch tatsächlich einer mit einer Dezimalwaage, Erwachsene 10 Pf., Kinder 5 Pf. Nur weil wir fürchten, daß unser Gewicht den restlichen Urlaub belasten könnte, wagen wir das Wiegen nicht.

Auf dem Autohof steht ein Postwagen, sieht aus wie Pauls Töfftöff. Na Erika, ob...? Da kommt er auch schon aus dem Haus, als Briefträger in eigener Sache hatte er einen Zettel durch die Tür gesteckt. Erika freut sich jedenfalls, daß Paul heute abend Zeit hat für sie.

Rudi und ich holen Willi ab. Wir gehen auf dem Ku-Damm spazieren, beinahe bis zum Ende, d. h. nur bis dahin, wo seine allzuglänzende Fassade zu Ende ist. Doch diese Fassade ist faszinierend, immer, bei Tag und besonders bei Nacht. Licht lockt Leute. Sehleute? Aber das soll unsere Sorge nicht sein.

Warum hat Willi Hemmungen, sich ein klassisches Stück anzusehen, das er nicht gelesen hat? Unsere Einwände - je weniger vorbelastet, desto besser und moderne Stücke hat man ja auch selten vorher gelesen - können ihn nicht umstimmen und es gelingt uns nicht, ihn zum Besuch des "Don Carlos" im Schiller-Theater zu überreden.

Im Renaissance-Theater in der Hardenbergstraße, einem kleinen Privattheater, sehen wir das "Schloß im Mond" von Anouilh. Spritzig, geistreich, leicht, heiter, elegant, typisch französisch. Voller Moral und mit Happy End, beides ausgeteilt von einer prächtigen alten Dame im Rollstuhl. Weil ich aber kein Theaterkritiker bin, will ich nicht erwähnen, wie gut Harry Meyen seine Doppelrolle gespielt hat und wie erfrischend naiv Lis Verhöven war.

Wir beschließen den Abend in Heinz Neumanns Weinstube, mit einem Glas Mosel. Außer uns sind ein einsam trinkender Student (?) und einige Ausländer die einzigen Gäste. Ihre Nationalität beschäftigt uns solange, bis sie sich mit uns zu beschäftigen scheinen. Und am Ende stellt sich dann heraus, daß sie auch Deutsch (Berliner Deutsch) sprechen (können).

Wir bummeln schließlich so langsam nach Hause und unterhalten uns noch so lange auf dem Hof, daß wir erst um ½ 2 oben sind. Erika schlummert tief. Willi, Willi, können Sie das überhaupt verantworten und gibt es keinen Ärger zu Hause oder im Betrieb, wenn sie morgen (bzw. heute) leicht verschlafen durch den Tag wandeln? Ach so, morgen ist ja Sonnabend der dienstfreie, na, denn macht et ja nischt.

8.9.1956

Das haben wir wieder einmal fein gemacht. Punkt 7 Uhr wachgeworden! Bei dem Nachtleben doch wirklich eine Leistung. (Liegt es vielleicht daran, daß wir drei + Willi heute den ganzen Tag zusammensein werden?)

Wir gehen also zum Messedamm und ich dort in einen Laden. Ich verlange ein Glas Milch, gleich zum Trinken. "Glas Weiße ham wa nich." "?" "Glas Weiße ham wa nich." "Ich möchte gern ein Glas Milch." - "Nee, Frollein, glasweise ham wa nich, nur in Flaschen." Da ist mir dann doch klargeworden, daß meine geistigen Kräfte entweder für Berlin nicht ausreichen oder durch das Nachtleben zeitweise gelähmt sind. Gegenmittel: eine Coca Cola und durchaus eiskalt.

Wir sind, das ist beachtlich, pünktlich an der Haltestelle. Die Straßenbahn kommt, kein Willi drin. Fragende Blicke. Meint der Schaffner: "Er kommt mit der nächsten." Ein Amateurgedankenleser und Wahrsager, der sogar recht behielt. Wir wandern an der Havel entlang - schön. Das ist auch Berlin. Die Sonne scheint strahlend, unsere Laune ist entsprechend. Der Wald ist tadellos "aufgeräumt", von wegen "Papierkorb Berlins"! Hat Herr Kimbel maßlos übertrieben oder war hier gerade Wochenend-Großreinemachen? Man erzählt sich "Jugenderinnerungen", der Schüler Hansel hat einige besonders tolle Erlebnisse gehabt. Erika und ich laufen, nach einem vorwitzigen Fußbad, barfuß, es ist wie damals am Steinhuder Meer (als es so "tröpfelte"!). Auf dem Bürgerablegeplatz, der die wandermüden Gesellen magisch anzog, gelingt es mir, das erste Foto... naja. Ob es... ?

Wiiiir haaa - ben Hungerhungerhunger, haben... Eine kleine Zwischenbilanz (Halbzeit) ergibt, daß wir uns noch etwas leisten können. Willi geht nach Hause und wir? Zu Aschinger und auf "janz jroß". Zuerst die berühmte Erbsensuppe, einmal, um sie endlich zu probieren und dann als solide Grundlage. Für den Durst gleich zwei "Sprudel vom Faß". Sieht aus wie Bier und schmeckt undefinierbar, außerdem nach Apfelsaft und Kohlensäure und sehr gut. Dann kommt ein großer Eierkuchen mit Kompott und als Nachtisch ein Eisbecher mit Früchten. Nein, sind wir verschwenderisch. Die Serviererin fragt uns, ob wir Studenten sind. Als wir "ja" sagen, hatte sie es sich gleich gedacht. Haben wir da nun einen guten oder einen schlechten Eindruck gemacht?!?

Der BZ-Mann stört unseren Eisbecher und versucht sein Glück: "Die neue BZ für zehn Pfennich, für Minderbemittelte zwei Sechser." Da war er aber enttäuscht, als er hören mußte: "Nee, wir sind neureich, wir kaufen nicht sowas Billiges."

"Zieht euch waaarm an, Kälte..." Am Abend, schon sehr früh, fahren wir mit Willi zur Waldbühne. Der arme Schaffner, wir bringen ihn völlig durcheinander! Die Bahnen sind schon ziemlich voll, "man" strömt zu "Schlager und Humor", einer Veranstaltung, deren Reingewinn diesmal den Hochwassergeschädigten in Westdeutschland zugedacht ist. Die Waldbühne - schon toll. 25 000 Plätze, heute ist sie nicht ganz voll. Aber die "Halbstarken" machen auch so genug Krach. Sie wollen "The mess is here" von Lionel Hampton hören, das steht ganz und gar nicht auf dem Programm, und sie schreien ausdauernd "Messe, Messe", von Kindertrompeten und ähnlichen Instrumenten akustisch-barbarisch unterstützt. Die mehr oder weniger humorvollen Zurechtweisungen, von unten in diesem Fall, nützen gar nichts, es wird wieder Krach gemacht. Manchmal gefällt den holden Knaben auch etwas, kann ja vorkommen, und dann schreien sie "Jaaaa", ohne Rücksicht darauf, ob noch gesungen wird oder nicht.

Sonst war es - naja. Gut war Addi Münster, dann eine Frau, die, glaube ich, Paula hieß, R.T. Odemann, der freche und Willi Reichert, der den "Popen" sang. Das war wohl überhaupt das Beste. Paulchen Kuhn war auch da und enttäuschte uns sehr, weil er "Auf meinem Konto steht das Komma zu weit links" nicht sang.

Zwischendurch das Streichholzfeuerwerk. Wie Willi einmal schrieb: wer es nicht gesehen hat, kann es sich kaum vorstellen. 15 000 Streichhölzer im gleichen Augenblick angezündet - eine einzigartige Festbeleuchtung. Aber nur kurz - bis zu den ersten "Auaas". "Der Kuckuck und der Esel...". Wir auch. Männlein und Weiblein sangen um die Wette, mehr laut als schön, und schunkelten. Nur - man sieht es hier wie überall - das Volk kämpfte ohne rechte Begeisterung (wer hatte wohl den Kampfgeist sabotiert?) und so gab es nur ein lausiges Unentschieden. Am Schluß kam ein richtiges Feuerwerk. Es war sehr schön und auch nötig, gelang es doch jetzt, die Halbstarken wenigstens zeitweise zu übertönen.

Die großen vier (ü?) bummelten dann langsam nach Hause, gerieten weder in einen Krawall noch unter irgendwelche Räder, tranken noch - na, was denn - 'ne Weiße und waren, für Berliner Sonnabend-Verhältnisse, recht früh im Bett.

9.9.1956 Sonntag!

Ausschlafen? Gibt es nicht, schließlich hat man ja Urlaub und die Verpflichtung, selbigen höchst wach zu genießen. Wo doch schon die Hälfte der Berliner Tage verstrichen ist, wie wir wehmütig feststellen. Wir gehen heute alle getrennte Wege. Erika fährt nach Steglitz zu Krauses, Rudi nach Spandau zu seinen Verwandten und ich mit Willi zum Wannsee, neben der "Badewanne" die bekannteste Badewanne Berlins.

Wir treffen uns am S-Bahnhof Witzleben und fahren bis Nikolassee. Die Strecke Grunewald-Nikolassee hat es in sich. Es ist die längste S-Bahnstrecke zwischen zwei Stationen und hier beginnt gerade eine neue Tarifklasse. Darum wird auch oft kontrolliert (und kassiert, beim erstenmal 5.-, dann 10.- und dann wird es noch gefährlicher. In unserem Wagen ist ein Mann, der ergreifend falsch singt und dann mit seinem Hut reihum geht (obwohl ja, laut Anschlag, solches in der S-Bahn verboten ist). Ob es zu seinem Sonntagsvergnügen reicht? Eine Fahne hat er ja schon. Wir steigen Nikolassee aus. Die übernächste Station ist schon in der Ostzone, für Westberliner also gesperrt, und wer aus Versehen eine Station zu weit fährt, kommt in große Schwierigkeiten. Man ist empfindlich in Potsdam und fürchtet - Spione. Darum stehen auch draußen, auf nicht S-bahneigenem Gebiet, große Schilder: "Mitreisende, Wannsee ist die letzte westliche Station, weckt schlafende Fahrgäste."

Herrliches Badewetter, die Sonne strahlt (wie immer). Das Strandbad ist merkwürdiger Weise sogar leer, nach Mr. Joe's prächtiger Beschreibung hätte ich mehr CocaColaflaschen (leer) und weniger Sand erwartet. Der frische Abend in der Waldbühne hat meine Halsschmerzen prächtig entwickelt, das kühle Bad wird schon ein weiteres tun. Wenn das die lieben Eltern wüssten... Kinder, dieser Leichtsinn! Immerhin habe ich die Schachtel Wybert mitgenommen, die Dinger schaden und helfen nicht im geringsten.

... doch schön ist's im Strandbad'schen Sand... neue Variation. Aber einmal muß man ins Wasser. Meine Begeisterung ist umso größer, als ich in diesem Sommer (bei Regen: milder Winter dieser Sommer) immerhin schon einmal gebadet habe und mich noch daran erinnern kann, wie angenehm der Körper die Differenz zwischen Luft- und Wassertemperatur findet.

Nach dem Baden bekommt man doch Hunger. Ich hatte natürlich kein Brot mit, unverantwortliche Ignorierung der Ansprüche meines Magens. Die Polizei, Quatsch, Willi, mein Freund (?) und Helfer, fördert einiges aus den Tiefen seiner Tasche ans Licht: Typ Picknick, Marke Eigenbau. Er mußte sich ja nicht mit seiner Mutter zanken, bevor sie ihm das Brot zurechtgemacht hatte. Mir schmeckt's, obwohl mich mittelschwere Schuldgefühle wegen dieses Krachs drücken. Was Willi zwar nicht sagt: es scheint an diskreten Hinweisen nicht gefehlt zu haben, daß der Sohn des Hauses seine Freizeit nicht ganz dem Westen zur Verfügung zu stellen brauche.

Und dann dösen wir weiter im Sand, ich lese ab und zu etwas Arno Schmidt und Thilo Koch in der ersten Nummer der "Texte und Zeichen", vielmehr versuche ich es (Pocahontas ist mir eben sehr fremd), dann erzählt Willi weitere Schwänke aus seinem Leben und ich die Fortsetzung zu dem Floh-Hunde-Witz (Frauen müssen eben immer noch etwas dazu sagen).

Irgendwann fahren wir auch wieder zurück und verbringen den Abend im Stil des Tages, entspannt, denn wir - bummeln und gehn noch 'ne Weiße trinken.

10.9.1956

Man sollte den Montag in die Mitte der Woche verlegen, dann wäre er nicht mehr so blau.

Wir drei sind so faul, daß wir überhaupt zu faul sind.

Zu einem Einkaufsbummel könnte man sich allenfalls noch aufraffen, weil er sich mit dem Mittagessen bei Aschinger verbinden läßt. Also los zur City von Berlin. Einen kleinen Teddy muß ich auch noch haben. Schwer, schwer. Aber wär doch gelacht, wenn ich nicht noch den richtigen Berliner Bären finden sollte (aber nicht den mit der albernen Krone, da brechen bloß die Zacken raus!).

Am Nachmittag gehe ich mit Willi im Englischen Garten spazieren (manche Leute sagen auch Garten Eden, weil dieser schöne Mann hier den ersten Baum neuanpflanzte). Die Gedanken wandern vom Parkhaus zu Mascha Kaleko. Schloß Bellevue wartet auf Heuß. Willi hat das Zeitgefühl (sprich Uhr) zeit- und teilweise verloren, er kommt garantiert zu spät zu seinem Kursus. Nischt wie Ärger mit dem Westen, wa?

Der Don Carlos im Schiller-Theater war ausverkauft, natürlich. Rudi, seine Kusine und ich gehen deshalb ins Theater am Kurfürstendamm und sehen Schnitzlers "Liebelei"! Gut gespielt, ergreifend die ausweglose Tragik des Schlusses, aber - es geht hier um Probleme, die wir heute kaum oder wenigstens nicht in dieser Schärfe kennen. Mir fällt es da immer schwer, ganz mitzugehen, bei den "zeitloseren" Klassikern ist es einfacher.

11.9.1956

Erika ist noch müde, Rudi und ich fahren nach Dahlem zur Gemäldegalerie. Ach ja, auf derselben Strecke liegt auch Onkel-Toms-Hütte, wo Sylvias Berliner wohnt. Er hatte so nett geschrieben und uns eingeladen und Rat und Hilfe versprochen. Aber, lieber Collie, unser Bedarf an Berlinern ist wirklich ausreichend gedeckt und wir wissen beim besten Willen nicht, wie wir es einrichten sollen, auch Sie kennenzulernen. Böse? Na vielleicht kommt auch die Seeräuberjenny einmal nach Berlin.

Wir wandeln stundenlang durch die Säle und haben am Ende doch nur einen kleinen Teil gesehen (sehen wollen). Was es dort auch alles gibt: die deutschen Maler aller Zeiten, Italiener, sehr viel Niederländer, Rembrandt sogar, er ist hiergeblieben trotz Rembrandt-Jahr... Was mich merkwürdigerweise am meisten beeindruckte, war ein Bild Dürers, das Porträt eines Mannes (Hieronymus Holzschuher oder Jakob Muffel?) mit einem Pelzkragen. Mit wieviel Liebe und Mühe hat Dürer diesen Pelz, nein, seine einzelnen Haare gemalt. Man möchte darüber streichen, um zu fühlen, ob - nein, es ist doch Farbe (bezw. Glas?). Und danach gehen wir noch ins Völkerkundemuseum! Keine Angst, lieber Leser: Nicht um sagen zu können: "Auch dort bin ich gewesen." Wir wollten nur einer zauberhaften Frau die Aufmerksamkeit eines kurzen Besuches erweisen, der dreitausendjährigen Nofretete. Jung und schön wie immer, nimmt sie die Huldigungen ihrer Verehrer gelassen hin. Nun, in dem Alter sollte man auch es auch gelernt haben, an Erröten und anderen Verlegenheitserscheinungen nicht mehr zu leiden oder sie zu verbergen. Aber ist Nofretete eigentlich wirklich schön? Oder nur tot?

Heute lernen wir auch ein paar Berliner von der unhöflichen Seite kennen. Einmal völlig normale und "bessere" Leute, die sich bei einer kleinen Drängelei an der U-Bahn sofort beschimpfen: "Sie komische Figur, Sie" - "Sie dürres Gestell, Sie" usw. Dann - an der Sperre den Herrn aus dem Ostsektor, der seinen Ausweis nicht vorgelegt hat. Der Beamte ruft ihn zurück, verlangt den Ausweis. Der Herr blättert in seiner Brieftasche, schlägt den Ausweis flüchtig auf. Der Beamte will danach greifen - reine Reflexhandlung. Da der Ausweis aber noch in der Brieftasche ist, reagiert der Herr aus dem Osten sehr empfindlich, redet vom "Griff nach der Brieftasche, von wegen, Leute aus dem Osten diskriminieren, mit uns können Sie's ja machen" usw. und verlangt die Anschrift der vorgesetzten Dienststelle. Schade, daß es solche Zwischenfälle gibt. Die schwierigen Verhältnisse, die Ost-West-Spannung - kein Wunder, wenn die Leute nervös und reizbar werden.

Aschinger enttäuscht uns, zum erstenmal. Nee, also nee, wenn ich etwas nicht mag, dann kalte Bratkartoffeln!

Am Abend treffe ich mich - mit wem wohl - mit Willi. Die Kinos sind alle ausverkauft, Dreigroschenoper, Hauptmann von Köpenick - nichts zu machen. Wie wär's mit "Inge und ich"? Alte Bekanntschaft aus der Waldbühne! Wir sind zunächst die einzigen Gäste - ein ruhiger Abend, bis "Inge", Gefolge und andere Gäste kommen, Gäste, die wahrscheinlich mehr einbringen und für die man dann auch Musik macht. Der Mixer fixiert unsere Gläser, was uns aber weder beunruhigt noch stört. Weil Willi auf noch tieferen Büroschlaf trainiert, ist es wieder einmal ganz schön spät, als er mich zum Autohof zurückbringt.

12.9.1956

Frau Sundermann hat uns noch einmal eingeladen. Schnell noch alle Sachen gebügelt, das Bügeleisen eingesteckt und dann los. Wat, et jiest? Is aba äußast merkwürdich! Eine letzte Erinnerung an europäische Umgangsformen verhilft uns noch zu einem schönen Asternstrauß. Karl Heinz allerdings haben wir nicht bedacht, der Bengel bekommt soviel geschenkt, daß er sich gar nichts mehr daraus macht. Arme Frau Sundermann, seit 5 Uhr allein beim Birnen einmachen. Aber dann hat sie Zeit für uns, sie bewirtet uns wieder reizend und die Stunden gehen mit Essen, Plaudern, Spielen nur so dahin. Karl-Heinz - naja, er ist eben ein großer kleiner Frechdachs, aber ein süßer!

Als ich wieder im Autohof bin, ruft Willi an: Sein Großvater hat einen Schlaganfall bekommen! Da bin ich nun ganz allein. Rudi ist seit heute früh bei seinen Verwandten, Erika ist mit Paul im "Schloß im Mond". Schließlich versuche ich es auf gut Glück in der Tribüne, bekomme auch noch eine Karte zu "Kleiner Engel ohne Bedeutung". Ein ganz zartes, poetisches aber auch witziges Stück, der Engel erinnert mich in seiner Unschuld und Unwissenheit manchmal an den kleinen Prinzen. Aber dieser Engel ist auch sehr neckisch und spitzbübisch und ein kleines bißchen frech und beinahe eine Eva, beinahe. Da gibt es mancherlei Verwirrung, Kummer und Tränen, doch am Ende geht alles gut aus, Versöhnung, Engel bleibt Engel und die irdische Ordnung ist wieder hergestellt.

Die Schauspieler, das Stück - gut, das Publikum - so ein schlechtes Publikum habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Na, eben FVB und ein bißchen doof. Der Beifall ist sehr spärlich, geradezu kümmerlich. Ich klatsche auch nicht oder nicht gern, wenn ich nicht begeistert bin, hier liegts aber am Publikum, nicht am Stück, dessen Charme einem traurigen Mißverständnis zum Opfer fiel. Ich habe eine solche Wut, die Bemerkungen der Zuschauer in der Pause und am Schluß sagen mir genug. Die armen Schauspieler...

Erika ist noch nicht da, auch traurig. Meine Stimmung ist fast auf den Nullpunkt gesunken. Ich mixe mir einen lyrischen Cocktail aus der Hausapotheke, viel hilft er nicht, und ich schlafe sehr spät ein.

13.9.1956

Wir liegen noch im Bett, da kommt trari trara die Post (sie war bisher recht fleißig!) Ein Päckchen für mich: das Kleid, nun, wo es fast zu spät ist. Sie hatten bei meiner kleinen Schrift die Karte nicht entziffern können und erst eine Woche später meinen Wunsch entdeckt. Von Mutti liegt eine Karte bei, mit einer leisen Mahnung: Kind laß das Nachtleben, ist doch nicht nötig sowas.

Wir fahren noch einmal zur Stalinallee (um sie auch bei Tage gesehen zu haben), mit der S-Bahn, "Ring über Ostkreuz", bis zur Haltestelle Stalinallee. Hier, am südlichen Ende, sieht sie auch sehr schlimm aus, nur alte Häuser, die reichlich vernachlässigt sind und kleine armselige Geschäfte. Wir bummeln die ganze Stalinallee entlang und fotografieren sehr viel.

Kaufen können wir hier auch nichts. Irgendjemand erzählt uns, daß es am Potsdamer Platz einen Laden gibt, wo man ohne Ausweis einkaufen kann. Also hin, den Laden müssen wir uns doch mal ansehen. Am Dreisektoren-Eck sieht es besonders traurig aus. "Kahlgebrannt war die Stätte", die Trümmer sind kaum aufgeräumt, die Menschen, die unansehnlichen Läden - alles erinnert an 1945. Der bewußte Laden ist gar nicht so leicht zu finden. Wir suchen und suchen und lassen uns schließlich von einem Vopo helfen. Das Geschäft macht erst um drei Uhr wieder auf und draußen steht eine lange Schlange. Wir wollen doch warten, aber erst nach einer kleinen Stärkung im wenige Schritte entfernten Westen. Leider gibt es, wie wir nachher feststellen, in diesem Laden nur Fotoartikel, Foto- und Radioapparate, Geschirr und nebenan noch Wäsche. Rudi kauft zwei Filme, ich auch, einen für Erika und einen für mich.

Potsdamer Platz

Im U-Bahnhof Potsdamer Platz haben wir ein eigenartiges Gespräch mit einem Ostberliner Zeitungsredakteur. Wir haben uns gerade Zeitungen gekauft und er hat gemerkt, daß wir aus dem Westen kommen. Er spricht uns an, und es hagelt geradezu von Kritik am Westen, wir kamen kaum zu Worte. Seltsamerweise hatte es der Mann nicht mit den westlichen Kriegstreibern, nicht mit der "Adenauerclique" und nicht mit dem angefaulten Kapitalismus. Er meckert über die zu hohen Preise, die mangelnde Verkehrsdisziplin, die schlechten Eisenbahn- und Straßenverbindungen und ähnliches und weist hin auf die vorbildliche Lösung solcher Probleme in der DDR. Unsere sehr sanften Widersprüche - schließlich befanden wir uns im Ostsektor - hörte er überhaupt nicht. Ein seltsamer Mann, was will er eigentlich von uns?

Gleisdreieck: Man holt uns aus der U-Bahn heraus. Ü? Was soll'n das? Wir sind so völlig verdutzt, daß wir uns nicht mal die Ausweise der Beamten ansehen, und als wir durch eine Tür "Vorsicht, Stufe" gehen, wissen wir immer noch nicht, was eigentlich los ist. Erst als man uns ziemlich heftig auffordert, Platz zu nehmen ("Wozu sind denn sonst die Stühle da?", meint der Beamte) und unsere Taschen zu entleeren, geht uns das Licht auf: Zollkontrolle. Ja, so etwas gibt's auch in Berlin! Die Beamten sind sehr unhöflich, umständlich und wollen auch absolut nicht glauben, daß mein Ausweis wirklich mir gehört ("Muß aber ein schlechter Fotograf gewesen sein!"). Die Adresse zweifeln sie selbstverständlich auch an, woher sollen sie Orte wie ****** schon kennen. Wegen der Filme gibt es Ärger, das ist Devisenhinterziehung, Schädigung der westdeutschen Wirtschaft und einiges mehr. Erika hat Glück, sie hat ihren Film schon eingelegt, er wird ihr nicht abgenommen, obwohl er auf unserer Quittung steht und die Beamten danach fragen. Rudi hat seine Quittung nicht mehr, die Zöllner meckern ihn an und nehmen ihn mit nach unten (wo sie ihn hämisch fragen: "Na welche von den beiden ist denn Ihre Freundin?" Soll er uns vielleicht auch verzollen?) Als Rudi zurückkommt, hat er nur eine Quittung über die beschlagnahmten Filme (Einspruchsrecht erst nach Ablauf einer Frist von drei Tagen), wir werden sie also nicht wiedersehen. Na, hätten wir das gewußt, wir hätten sie schadenfroh aufgerollt! Frage an Papa Staat: Was machst du mit den beschlagnahmten Sachen, verteilst du sie an die Armen? Wie wir später hören, machen es die Westberliner schlauer, wenn sie schon mal im Osten kaufen: sie fahren mit der S-Bahn.

Heute ist eben der 13., Kinder, ärgert euch doch nicht! Was viel wichtiger ist: ob Willi heute anruft? Und ob er kommen kann? Hurra, er kann. Wir wollen im Ostsektor ins Theater gehen, ja. Schade, das Berliner Ensemble ist auf Tournee und zur Zeit in London. Aber wir können beide etwas Aufheiterung vertragen und gehen deshalb in die Kammerspiele zum "Konzert" von Hermann Bahr. Bestes deutsches Theater! Keinerlei nachträglich hineingebrachte Tendenz. Wir lachen sehr und sehr oft, über das Stück und auch über die Bemerkungen der Zuschauer, die manchmal nicht ganz mitkommen. Sind wir denn in einer Sondervorstellung für Schwerhörige? Oder ist so ein Stück zu ungewöhnlich? Ein Stück, das nur ein Lustspiel ist und nichts weiter, allerdings ein sehr geistreiches. Der "Weisse", wie wir ihn nennen, Dr. Jura also, hat es uns besonders angetan. Seine Ehrlichkeit und Offenheit ist einfach entwaffnend (Aber auch so ein kluger Mann kann sich irren!). Köstlich waren auch die anderen, die hysterischen Weibsen, der Musikprofessor, seine kluge (im Anfang zu kühl wirkende) Frau und die kleine Delphine Jura.

Auf dem Heimweg spötteln und witzeln wir recht albern, das kommt davon. Willi verpaßt wieder die letzte Bahn, weil wir wie immer eine dreiviertel Stunde vor der Tür stehen. Irgendeinen Grund müssen wir ja dafür haben, also räumen wir seine Brieftasche auf und diskutieren ernsthaft darüber, wer von uns aus welchen Gründen beide Eintrittskarten behalten darf. Am Ende gelingt es mir doch, ein triftiges Argument zu finden, so triftig, daß er es erst am anderen Morgen widerlegen konnte. Willi, Sie haben eben doch nicht immer recht!

14.9.1956

Uuuuaaah! Hach, ist das schön, einmal richtig lange zu schlafen. Jetzt, wo die schönen Tage zu Ende gehen, geling es mir sogar, den kritischen Zeitpunkt von ½ 6 zu verschlafen, und das ist bei dem Autolärm da unten schon ein Kunststück.

Ich statte KAWE einen recht ausgedehnten Besuch ab. Ist das ein umständlicher Laden! Zu einer "Besichtigung" habe ich gar keine Lust, schließlich sind die Barsortimente alle ähnlich. Ich stöbere so herum, entdecke allerlei, bis ich endlich (na endlich) meine Einkäufe bezahlen darf.

Unser Frühstück war knapp gewesen, deshalb bestelle ich bei Aschinger reichlich: Kaltschale, Bratwurst mit Rotkraut, den beliebten Sprudel. Ich bezahle gleich und esse dann in aller Gemütlichkeit. Plötzlich sehe ich, wie ein junges Mädchen sehr schnell ihren Teller zur Seite schiebt, ihre restlichen Schrippen einsteckt und zur Tür eilt. Sieht aber sehr verdächtig aus! ( : Ich. Wette gewonnen)

Um eins muß ich wieder im Autohof sein, Willi will anrufen. Schön: wir treffen uns um sieben.

Frau Guttmann hat aber einen Schreck bekommen! Kam doch die Reinemachfrau heute vormittag wieder herunter und sagte: "Bei den Damen kann ich noch nicht saubermachen, da liegt noch jemand im Bett!" - " Na nu, die sind doch beide weg gegangen!" "Kommen Sie doch mal mit hoch, Sie wer'n ja sehn!" Tja, und da lag dann Othello. Sie hat lange nicht so gelacht, sagt sie und hat uns für die Bären auf jedes Bett ein Probestück der Seife Fa gelegt (weil doch morgen Sonnabend ist).

Rudi und ich fahren noch einmal in den Ostsektor, zur Humboldt-Buchhandlung. Bei allem guten Willen - der erste Eindruck ist nicht zu revidieren. Rudi findet schließlich das Buch, das er kaufen wollte und wir fahren mit der U-Bahn über Potsdamer Platz-Gleisdreieck zurück. Auffällig unauffällig halte ich zwei (leere) ostdeutsche Filmschachteln in der Hand und bleibe in meine Zeitung vertieft, als wieder ein Zollbeamter in den Wagen kommt. Wie mich das ärgert, daß er einige Leute, aber nicht mich herausholt! Ich wollte seinen Ausweis kritisch betrachten, seelenruhig den Tascheninhalt kontrollieren lassen, mir die "Filme" abnehmen lassen und anderen die Feststellung überlassen, das die Schachteln nur eingewickelte leere Spulen enthalten. Sense.

Willi möchte "Pocahontas" zurückhaben. So verdanke ich es diesem literarisch beinahe desinteressierten jungen Mann, daß ich in meinem Urlaub wenigstens diese kleine Portion an Literatur zu mir nehme. Den David Copperfield habe ich nur angefangen, den Kafka hat mir Erika stibitzt, außer einigen Zeitungen habe ich mir sonst nichts an (schriftlicher) geistiger Nahrung zugeführt. Ja, so ist das, man macht mal Pause, hier mit wenig Coca Cola, wenn, dann lieber mit Weiße mit Schuß.

Ich gebe Willi also die "Pocahontas" zurück und muß ihm gleich noch einmal die Fortsetzung der Floh-Hund-Geschichte erzählen, er hatte sie schon wieder vergessen. Er bringt das Heft hinein; als er wieder kommt, kommt sein Vater mit heraus und lacht mir zu. Ich wundere mich gar nicht sehr, denn wir hatten einmal ein seltsames Telefongespräch miteinander, als ich ihn für Willi hielt. Soll er ruhig lachen! Aber das ist es ja gar nicht, er lacht noch über den Floh-Hunde-Witz! Das finde ich ausgesprochen nett: daß es noch Menschen gibt, die über meine Witze lachen können.

Wir beide gehen noch ein bißchen spazieren, Ku-Damm und so, ist abends immer schön, und gehen zur Hardenbergstraße zurück, in die Filmbühne. Man zeigt "Die gläsernen Schuhe", das Aschenbrödel-Märchen in einer beinahe modernen Fassung. Ein Farbfilm mit Leslie Caron (die ein entzückendes häßliches Mädchen war) und dem Pariser Ballett. Warum sind Märchenfilme für Erwachsene kitschig? Liegt es an mir oder am Film? Er ist in jeder Weise gut "gemacht", aber eben doch - Kitsch. Wir armen Erwachsenen.

Ein Betrunkener konfrontiert uns wieder mit der rauhen Wirklichkeit. Er stellt sich aber als harmlos heraus und dann beglückt fest, daß wir friedliche Bürger sind, weshalb er seinen gefährlichen Hausschlüssel wieder einsteckt.

Na sowas! Als ich endlich oben bin, ist Erika noch nicht da. Ist doch äußerst merkwürdig! Paul ist doch sonst so solide und Erika ist meistens vor mir im Bett gewesen. Ich lese noch ein Weilchen, nachts lesen - ein herrlicher Luxus, den ich mir nur im Urlaub leisten kann. Um halb zwei ist das Mädchen immer noch nicht da, aber ich möchte meinen Entschluß, nun doch einzuschlafen, nicht aufschieben.

15.9.1956

Sieben Uhr. Ein Blick nach rechts: Das Bett ist immer noch leer. Aber sehr verdächtig! Und sie kommt und kommt nicht. Was soll man da bloß machen? Ob Paul wohl schon im Dienst ist? Auf jeden Fall schreibe ich ihm einen Brief und gehe zu seinem Postamt. So, er hat Spätdienst. Na, da kann ich eben nur abwarten, denn Telefon hat er ja nicht.

Rudi muß nun auch gehen, er kann nicht länger warten. Seine Arbeit fängt am Montag sehr früh an, deshalb muß er heute schon fahren. Also bin ich allein. Essen ist immer gut. Ich kaufe mir eine Portion Obst und versuche, mir damit die Zeit und den Kummer zu vertreiben. Aber es hilft nichts. Ich packe meinen Koffer, frage Othello, was er dazu meint und warte weiter. Jetzt lese ich den Kafka, auf einmal. Wenn dem Mädchen doch bloß nichts passiert ist! Was ist trostloser als Ungewißheit und ein Hotelzimmer mit gepackten Koffern.

Ich mache das nicht mehr mit! Erika kommt nicht, soll ich den ganzen Tag hier warten? Frau Guttmann nimmt es nicht so tragisch, nee, so schnell verschwindet ein Mädchen nicht, auch nicht in Berlin. Wir unterhalten uns über den Zoll, sie hat da auch einige Sachen erlebt. Komische Gesetze gibt es! Einmal hat sie sich ein langes Verfahren zugezogen, nur weil sie ihre eigene angebrochene Zigarettenpackung auf der Theke liegen hatte, sie hatte sich gerade eine Zigarette angesteckt, als der Zollbeamte hereinkam. Dinge gibt's! Bei den Behörden in Berlin wiehert der Amtsschimmel wie überall in Deutschland und der Welt; Frau Guttmann erzählt noch einige Geschichten und ich höre mit Schrecken und Staunen, wie leicht man sich strafbar machen kann.

In der Galerie des 20. Jahrhunderts bin ich der einzige Besucher, wie schön. Da kann ich nach Herzenslust zwischen Feininger, Paul Klee, Marc Chagall und jenem scheußlichen Maler hin und herspazieren, der Dali-ähnliche Alpträume produziert hat. Die Dame an der Kasse verfolgt meine Bewegungen hinter der Frankfurter Allgemeinen. Mir gefällt's hier: schön wenig. Die Auswahl wirkt vielleicht etwas zufällig, aber es sind sehr schöne Stücke darunter. Worüber ich mich besonders freue: über den Buchleser von Barlach, natürlich. Seine fast dumpfe Konzentration überzeugt und beschämt den flüchtigen Leser (: mich).

Aus solcher Stille wieder hinaus in den mittäglichen Trubel. Abschied vom Kurfürstendamm. Die Sonne strahlt, aber schon milder, Autos flitzen, Menschen strömen, es ist Sonnabend und Mittag und Berlin. Ich werde immer trauriger, weil ich weiß, daß dies ein Abschied für lange Zeit ist. Ich bummle auch noch mal durch die Kaufhäuser auf der Tauentzien, beim Defaka ist es leer wie meistens, beim KadeWe rammelvoll und ich kann mich noch schlechter als sonst entschließen, was ich Vati und Mutti mitbringen soll.

13.00

Liebe Irmgard!

Ich gehe jetzt etwas spazieren und nehme Abschied von Berlin! Ich fahre aber erst morgen ab mit Dir. Bin von Krauses noch 1 Tag eingeladen auch zum Schlafen, weil ich ja kein Geld mehr hab. Haben gestern etwas gefeiert, deswegen wurde es zu spät zum "Nachhausefahren". Hoffentlich hast du dir keine Sorgen gemacht. Heute abend um 8 - ¼ nach 8 bin ich am Kaiserdamm. Das Buch von Franz Kafka nehme ich mit zum lesen. Falls wir uns vor morgen nicht mehr treffen schreib mir bitte die Zeit auf wann du fährst und wo wir uns treffen können.

Tschüss Liebes, genieße noch die letzten Stunden, sei nicht allzu traurig

Deine böse Erika

Als ich wieder zum Autohof zurückkomme, finde ich Erika auf dem Hof, Kafka-lesend! Na also. Sie ist bei Krauses geblieben, Familienfeier, und es wurde zu spät zum Heimfahren. Einen Abschiedsbrief hat sie mir auch schon geschrieben. Ihren Plan, heute schon und per Anhalter zu fahren, hat sie aufgegeben, schließlich kommt es jetzt auf einen Tag mehr auch nicht mehr an. Ich freue mich so, daß wir zusammenfahren, da ist der Abschied doch ein kleines bißchen leichter.

Abschied, Abschied, Abschied. Wie trostlos. Kann man denn an gar nichts anderes denken? Wir gehen zum Funkturmgelände, die Industrieausstellung ist heute (?) eröffnet worden. Fahnen wehen, eine Glocke läutet, ein großer Berliner Bär mit Krönchen auf dem Kopf läuft hin und her und läßt sich fotografieren. Wochenschaureporter sind da und filmen, macht sich gut: der Betrieb, die schwingende Glocke, der Bär, der Funkturm, die Fahnen - wenn das nicht Berlin sein soll! O Berolina, warum bin ich so bitter?

Wollen wir uns nicht gegenseitig etwas vorheulen? Es hat so selten geregnet. Wir lesen. Können Zeitungen trösten? Endlich halten wir es nicht mehr aus, wir müssen unter Menschen, unter normale. Wir geben Erikas Koffer auf (sie schläft noch einmal bei Krauses) und gehen zu Aschinger. Aber ich mag gar nichts essen, irgend etwas steht mir bis - hier. Ein Abschied für 19 Stunden, auf Wiedersehen, Erika und viel Spaß.

Soll man allein spazierengehen? Heute macht es mir gar keinen Spaß und ich bin froh, als Willi um acht kommt. "Sie müssen mich aufheitern, ich bin seelisch auf dem Nullpunkt." Dann eben Oktoberfest. Und irgendwie paßt es zu unserer Stimmung: Der Lärm, das Gedränge, die Buden mit ihren glitzernden "Herrlichkeiten", die Ausrufer mit ihren tollen Versprechungen. Wir bekommen Hunger und essen Würstchen, zu Willis Kummer mit zu wenig Senf. Na, ich verzichte darauf, ich mache mir nicht viel aus "scharfen Sachen". Feuerwerk, nebenan sentimentale Musik, wir sitzen noch immer in diesem "Wurstgarten" und beinah wären auch wir sentimental geworden. Es lag am Senf, am zu wenigen, anders ist es ja gar nicht zu erklären. Nachher ziehen wir noch Nieten! Ein Glück, wir hatten eine Heidenangst, einen Eimer zu gewinnen wie so viele Leute, was sollen wir damit in "Orphee"? Wir fahren auch noch mit der Achterbahn (ich zum erstenmal, woher nehme ich bloß soviel Mut?) und mit dem Riesenrad und mit dem Hurricane. Die Konstruktion dieses Weltraumfahrzeugs ist etwas undurchsichtig, jedenfalls sitzen wir nicht richtig drin, der Besitzer schimpft und hält sein Karussell noch mal an. Sowas muß einem doch gesagt werden!

Und dann wird mir schlecht. So schlecht, daß ich in der Schlange vor dem Kino fast umfalle. Während des ganzen Films kämpfe ich mit dem Brechreiz. Das hätte gerade noch gefehlt! Was mache ich bloß? "Nimm Vivil und hol tief Luft". Wenn ich hätte...

Wir sitzen in der 4. Reihe, ein Wunder, daß wir überhaupt Karten bekommen haben. Der Film läuft nun schon 5 Jahre in den Nachtvorstellungen dieses Kinos und immer ausverkauft! Jetzt setzt sich vor uns auch noch ein ganz Langer. O, er zieht seine Jacke aus, vielleicht macht ihn das ein bißchen kleiner.

Der Film? Eben ein Cocteau-Film, der zweite, den ich sehe und wohl der stärkste Film, den ich überhaupt sah. "Hautnah. Nein, dieser Film geht unter die Haut, dringt in die feinsten Verästelungen des Denk- und Nervensystems, erregt, beunruhigt und - kann gar nicht "verstanden" werden. Ein Film, der den Zuschauer noch lange in geheimnisvollem Bann hält", so steht es in den Mitteilungen eines hannoverschen Filmclubs. Stimmt.

Als wir hinausgehen, sind wir "fertig", so hat uns der Film mitgenommen. Ja, wir glauben sogar, unsere Freunde warnen zu müssen vor soviel unbegreifbarem Grauen. Und trotzdem - und gerade - solange es solche Filme gibt, sie müssen nicht immer unbestimmt grauenvoll sein, sie können auch unbestimmt schön sein, Filme, die andere Ansprüche stellen als eine noch so knifflige Kriminalstory oder sonstwie verwickelte Geschichte, solange ist Europa noch nicht völlig amerikanisiert. Cocteau ist ein genialer Dilettant, ohne jeden Perfektionismus.

Wir gehen sehr still nach Hause, nicht nur, weil es der letzte Abend ist. Ja, eigentlich ist es schon der letzte Tag, der Sonntag hat seit wenigen Stunden begonnen. Und morgen, übermorgen, immer wird es heißen "Schön war die Zeit, schön war die Zeit" und vielleicht wird man im Geist eine von Pauls "1000 Kullerkullerkullertränen" im Knopfloch zerdrücken, ü? Wie schön, man hat mir niemanden mit ins Zimmer gelegt, ich kann allein schlafen, obwohl Berlin festspielüberfüllt ist. Na denn gute Nacht, Othello-Mike, es ist das letzte Mal.

16.9.1956

Gar kein Wunder, gut geschlafen habe ich nicht. Ich bin schon sehr früh wach, trödele aber und muß mich dann plötzlich sehr beeilen. Der Weg zum Kaiserdamm erinnert mich wieder an den Nachmittag, an dem ich von Sundermanns hierherkam, allein. Heute bin ich wieder allein, habe es ebenso eilig und der Koffer ist noch ein kleines bißchen schwerer als damals, ich trage nicht nur Erinnerungen zusätzlich bei mir. Heute gelingt es mir aber, den Koffer durchzumogeln, damals klappte es nicht sofort, aber in 14 Tagen lernt man allerlei. Daß ich ausgerechnet am letzten Tag zu spät kommen muß! Es ist schon 10 Uhr und die U-Bahn ist erst am Opernhaus.

Willi wartet schon - in seinem "Arbeitslosenanzug" - und wir bringen Koffer und Beutel zum Bahnhof. Ja, ein Spaziergang durch den Tiergarten ist das beste. Andere Leute dürfen das Sonntagsspaziergang nennen. Ich bin sicher ziemlich albern, wie immer, wenn ich so traurig bin und es nicht zeigen darf und will. Wir gehen auch zum Hansaviertel, aber noch ist nicht viel zu sehen, nur die neue KFG-Kirche ist fast fertig. Ein merkwürdiger Bau, man sollte ihn noch einmal sehen, wenn das ganze Hansa Viertel steht, jetzt wirkt die Kirche seltsam isoliert und deplaciert. Diesmal "darf" ich auch einige Aufnahmen von Willi machen. "Was Sie wollen, nur auf die Löwen setze ich mich heute nicht". Der Fotograf bangt, wie immer bei unwiederholbaren Aufnahmen. Unwiederholbar? Willi will mich auch fotografieren. Meinetwegen, auf daß der Film voll werde! Aber einmal ist er bestimmt zu weit weg gewesen, meinen kurzsichtigen Augen schien dieser Abstand doch sehr bedenklich! Maestro, wir werden ja sehen. (Und es war natürlich nichts. Wie recht sie hatte!)

Bei Aschinger leiste ich mich für mein beinahe letztes Geld eine für bescheidene Verhältnisse geradezu luxuriöse Menüfolge. Als Strafe für solche Verschwendung gibt es am Fahrkartenschalter eine böse Überraschung: die Fahrkarte von Berlin nach Hannover kostet 25.-, also eine Mark mehr als die Karte Hannover - Berlin (Rückfahrkarten gibt es für diese Strecke nicht). Das ist doch wirklich.... man weiß gar nicht, was man sagen soll mit leeren Portemonnaie! Die Gepäckaufbewahrung kostet auch mehr als erwartet - ja wie soll ich denn von Hannover nach ****** kommen? Einzige Rettung wäre die Geschäftskasse, Schlüssel habe ich bei mir. Aber das ist zu umständlich.

Der Zeiger unserer Treffpunktuhr rückt unerbittlich vorwärts! Berlin, ich muß Dich lassen... Erika und Paul kommen, so fröhlich scheinen sie auch nicht zu sein. Die Fotoreporter gehen an die Arbeit und knipsen Familienfotos. Während die beiden den Koffer und Erikas Fahrkarte holen, kommt auch Willi. Ich gebe ihm die Hausapotheke und pumpe ihn dafür an. Schwindel, Irmgard, eine Bettelei ist es! Was soll man anders machen, wenn selbst Erika mit ihrem Geld am Ende ist. Arm am Beutel, krank am Herzen.... wie alle beide, nee sowas.

Erika fotografiert mich und Willi, jetzt fehlt nur noch das "große" Familienbild, schließlich muß dokumentarisch festgehalten werden, daß sich Paul und Willi heute das zweitemal in ihrem Leben sehen. Ich halte also einen gutaussehenden Mann an, dem einige fotografische Geschicklichkeit zuzutrauen ist. Es gelingt ihm auch tatsächlich, in einem Augenblick abzudrücken in dem ihm die Sicht nicht völlig durch Vorüberströmende verdunkelt wird.

Aber die Filme müssen voll werden. Das Risiko einer Beschlagnahme ist uns jetzt zu groß. Wir knipsen auf dem dunklen Bahnsteig weiter, ganz egal, ob und was daraus wird. Der Zug kommt, leider. Ich könnte fast losheulen, Erika vielleicht auch. Quatsch. Willi? "Der Insulaner verliert die Ruhe nicht, der Insulaner liebt kein Getue nicht..." Na, denn auf Wiedersehen...

In langweiliger Fahrt verlassen wir die Insel Berlin, durchkreuzen das Rote Meer und landen auf dem (F)Westland. Ein scheußlicher Zug. Nur wenige (und die auch noch schlecht-) gepolsterte Wagen. Alle Abteile stinken nach Desinfektionsmitteln. Wir haben Hunger und Durst. Erika hat etwas Brot, im Speisewagen leisten wir uns etwas zu trinken. Wir lesen, aber es macht keinen Spaß, wir unterhalten uns und finden nur unpassende Themen, wir sehen aus dem Fenster, aber hinter Magdeburg wird es bald dunkel. In Marienborn holen wir für die letzten volksdemokratischen Gröschelchen einen Sprudel. Kurz vor neun sind wir mit wenig Verspätung in Hannover. Was nun? Erika ruft zu Hause an. Erste Frage, mütterlich besorgt: "Hast du dich verlobt?" Die verneinende Antwort wird dankbar und gerührt mit dem Angebot, uns abzuholen, erwidert. Wir freuen uns natürlich sehr, unser Geld reichte nämlich doch nicht mehr für die Straßenbahn und kann nun in der Milchbar seine Hungertodsgegenwirkung beweisen.

Und das ist nun das Ende. Punkt. Denn was noch folgen könnte, war so wie immer. Man freut sich halt auch, wieder zu Hause zu sein.

Zu sagen wäre vielleicht noch, daß bald nach den Festspielwochen der Bundestag wieder einmal in Berlin tagte und die "Zeit" einen sehr dringenden Aufruf "Berlin Hauptstadt - jetzt oder nie" auf ihre erste Seite setzte. Eine Woche später stellten einige CDU-Abgeordnete einen "diesbezüglichen" Initiativantrag im Bundestag und seither nützen alle Zeitungen und Illustrierten die Berlin-Konjunktur recht schön aus. Naja, schadt ja nicht. Aber se soll'n man nich zu ville reden und schreiben. Wenn zu ville auf'm Papier steht, dann steht et nachher bloß auf'm Papier und det wer doch schade, nich?


Nachwort

Dieser Text ist vermutlich der einzige längere Text den meine Mutter geschaffen hat. Sie hätte sicher als Journalistin oder Schriftstellerin arbeiten können, arbeitete dann aber in einem anderen "sprachlichen" Gebiet. Sie war literarisch und politisch sehr gebildet, und über 50 Jahre "Zeit"-Leserin. "Erika" heiratete einen Mann der nicht im Bericht vorkommt, und ist noch immer glücklich verheiratet mit ihm; ich habe kürzlich beide besucht. Meine Mutter führte mit "Willi" noch jahrelang einen skurrilen Briefverkehr den ich so sonst nur aus SubGenius Texten kenne, in 1979 hörte der Kontakt mit ihm auf, er war "unbekannt verzogen". Meinen Vater lernte erst Jahre nach der Reise kennen. Was aus den Bären geworden ist, weiss ich nicht; sie wurden wohl vor meiner Geburt weggegeben. Spätere Briefe an Verwandte hatten nicht mehr die hier vorhandene "Leichtigkeit", es ging meistens um Probleme mit Bürokratie oder Gesundheit.

Die "Unordnung" auf den Fotos war laut "Erika" gestellt, meine Mutter war sowieso als sehr ordentlich bekannt. "Rudi" war keinesfalls eine Zufallsbekanntschaft aus dem Zug, sondern war erwartet, er war der Bruder einer Freundin. "Paul" war eine Zufallsbekanntschaft aus einer früheren Reise. "Willi" war ein Bekannter meiner Mutter aus einer Kontaktanzeige, sie siezte ihn immer.

Einige der erwähnten Einrichtungen habe ich auch selbst noch gekannt. Bei "Aschinger" war ich auch selbst, allerdings war das nicht der Gleiche wie in dem Reisebericht, sondern eher ein Touristenmagnet mit hohen Preisen und selbstgebrautem Bier. Studenten gehen lieber in die Dicke Wirtin.

Zwar ist diese Veröffentlichung gegen ihren damaligen Willen ("dieses Buch ist nicht für Leser"), aber Kafka wurde schliesslich auch gegen seinen Willen veröffentlicht, und meine Mutter hat Kafka gelesen ("Amerika" - es ist auf einem der Fotos zu sehen, und heute bei mir im Regal). Ich selbst habe in dem Album zunächst nur die Fotos geschaut, und das Album danach lange liegen gelassen, hauptsächlich weil ich Handschriften nur noch ungerne lese. An einem Tag mit viel Zeit habe ich mir das Album mitnegnommen, und den Inhalt dann ununterbrochen in 5 Stunden durchgelesen.

Danke an Birgit Ernst (über MyHammer) fürs zuverlässige Eintippen!