Wenn das Schicksal in die Träume bricht
Rudolf Thomes durchtriebenes Meisterwerk "Tarot"
Warum ist Rudolf Thome eigentlich nicht längst als einer unserer
wichtigsten Filmemacher anerkannt? Wieso ist er, der sich seit
fast 20 Jahren für seine Filme ruiniert, sie mit unglaublichem
Durchhaltevermögen unseren Finanzierungsinstitutionen abtrotzt
und sich doch trotz aller Rückschläge nie verkaufte, nie so gewürdigt
worden, wie er es verdiente? Thome ist der große Pechvogel des
Neuen Deutschen Films: Auf seltsame Weise verfehlte er immer das
Glück der Stunde, war er der Zeitstimmung stets jenen einen Schritt
voraus, der dann gar nicht wahrgenommen wurde.
Das ist vielleicht das Merkwürdige, Unerklärliche: Nichts ist
bei Thome spektakulär, und doch ist er einer der kühnsten Neuerer,
ein unermüdlicher Experimentator; einer, der in der abstrakten
Form das pralle Leben sucht und in der vermischten Wirklichkeit
die Reinheit der Struktur. In vielfacher Hinsicht gleicht Thome
dem "französischen" Jean Renoir, also dem seinerzeit umstrittenen,
kommerziell wenig erfolgreichen, ästhetisch aber weit vorausweisenden
Meister des Vorkriegsrealismus, dessen enorme Erfindungskraft
erst viel später wahrgenommen wurde. Und selbst da noch, so registrierte
der französische Kritiker André Bazin, bedurfte es einer bestimmten
Bereitschaft des Zuschauers, damit Renoirs Filme sich ihm ganz
erschlossen. Komplicenschaft nannte es Bazin.
Die wirkliche Komplicenschaft freilich fängt viel früher an, bei
Thome wie bei Renoir. Thome verbündet sich mit allem, was seiner
Idee zum jeweiligen Film nützt. Zunächst mit dem Schauplatz und
der Jahreszeit, dann mit den Schauspielern. Nach dem "Winterfilm"
System ohne Schatten, spielt Tarot sehr akzentuiert - obwohl die Handlung über Monate hinweggeht
- im Sommer, auf dem Lande, im Chiemgau, in einem, einzelnen Bauernhaus,
an einem Fluß, nahe einem kleinen See. Wassergemurmel ist den
ganzen Film über zu hören; das Flirren der Luft bei den Außenaufnahmen
zu sehen. Ist es da eine Übertreibung zu sagen, man könne die
Bilder auch riechen: den trockenen Holzgeruch der alten Zimmer,
den feuchten Duft der Erde und der Wiesen? Es ist die Wahrheit
des Details, die solche Wunder vollbringt. Thome inszeniert nicht
für die Leinwand, nicht für die Wirkung, die von ihr zurückstrahlt.
Er achtet auf die Stimmigkeit vor der Kamera, die sich dann auf
die Schauspieler, auf das ganze Team überträgt. Nur so entsteht
dieses rar gewordene Gefühl für Authentizität.
Wie Komplicen gerieren sich auch die Schauspieler, die eigentlich
gar nicht im herkömmlichen Sinne "spielen", sondern vielmehr sich
selber in einer bestimmten Rolle darstellen. Das heißt, sie schlüpfen
nicht in die Haut einer andern Person, sondern bewahren ihre Eigenheiten,
agieren ganz selbstverständlich als eigene Persönlichkeit, die
nur in eine besondere Situation geraten ist. Das bringt jenes
schwer zu beschreibende Gefühl von Scham mit sich, das den berufsmäßigen
Exhibitionisten sonst abgeht. Scham bremst das hemmungslose Outrieren,
sie bewirkt jene Intimität, die notwendig ist, damit sich Stimmungen,
Gefühle, Befindlichkeiten übertragen. Bei Thome wird das Unsichtbare
zur Materie.
Die Darsteller kennen sich ja auch lange genug, und ein bißchen
kokettieren sie auch mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit, die
zu einem nicht geringen Teil die Vergangenheit des Neuen Deutschen
Films ist. Besonders Hanns Zischler und Rüdiger Vogler tragen
ihr Image als Kings of the road mit sich herum, das sie sich vor
nun auch schon elf Jahren in Wenders' Im Lauf der Zeit erwarben. Jetzt sind sie ein bißchen älter geworden, erfahrener;
die Gefühlsausbrüche kommen bedächtiger, gebremst; na ja, und
die Geheimratsecken sind noch etwas größer geworden. Wie selbstverständlich
übermitteln die beiden, was aus der Generation der sogenannten
Achtundsechziger geworden ist, ohne daß dies vordergründig zur
Geschichte gehörte, obwohl es doch ein wesentlicher Teil von ihr
ist.
Oberflächlich läßt Thome nämlich - wieder einmal übrigens nach
Tagebuch (1975) - Goethes "Wahlverwandtschaften" spielen, für ihn das Buch
der Bücher, mit dem der Alte aus Weimar unser "Chemisches Zeitalter"
einläutete. Vier Personen (vier Elemente), die sich wechselseitig
anziehen und abstoßen, je nach den äußeren Bedingungen. Thome
und sein Drehbuchautor Max Zihlmann (mit dem zusammen er seine
ersten Filme schrieb) setzen die Geschichte als bekannt voraus;
ganz zwanglos, fast lässig wird sie skizziert: ein Ehepaar, Charlotte
(Vera Tschechowa) und Eduard (Hanns Zischler), hat sich auf dem
Lande eingerichtet, Eduards arbeitsloser Freund Otto (Rüdiger
Vogeler) kommt dazu und schließlich auch Charlottes Nichte Ottilie
(Katharina Böhm). Das Quartett ist vollständig, der Reigen kann
beginnen.
Und was sind nun die äußeren Bedingungen, die das Spiel in Schwung
halten, die Reaktionsprozesse in Gang setzen? Da ist zunächst
der Drang nach Veränderung, nach Freiheit. Charlotte die Schauspielerin,
versucht sich als Schriftstellerin. Mit Eduard zusammen hat sie
die Stadt verlassen,.probt nun ein halbherzig alternatives Leben
auf dem Land, was aber eher einem Treibenlassen gleicht. Eduard
fällt diese erzwungene Zweisamkeit schwer; er, der Filmregisseur,
sucht verzweifelt nach einem Stoff; die Arbeit wÜrde ihn wenigstens
zeitweise hier wegbringen. Deshalb holt er sich auch Otto, wie
um sich selber anzutreiben. Als Ottilie auftaucht, empfindet er
das junge Mädchen wie das langersehnte Wunschziel für seine vagabundierenden
Gefühle. Natürlich ist er in der Midlife-Krise. Und obwohl Charlotte
ein Kind von ihm bekommt, verkrallt er sich in die Vorstellung,
mit Ottilie zusammenzuleben. Am liebsten würde er Charlotte mit
Otto verkuppeln, nur um sein schlechtes Gewissen loszuwerden.
Aber die Freiheit, der Drang zum Laisser-faire, stößt überall
auf Grenzen: auf unsichtbare, konventionelle, auch ganz existentielle.
An prominenter Stelle, ziemlich genau in der Mitte, erklärte Charlotte
der Nichte das Tarotspiel, mit dem, sich angeblich das Schicksal
voraussagen läßt. Das also ist der Gegenpol zum mehr oder minder
egoistischen, offen oder verhalten geäußerten Freiheitsdrang-
das Schicksal, das quasi unabhängig von unseren Wünschen und Möglichkeiten
die Karten mischt, das Ziel des Lebens bestimmt. Und bald geht
es dann auch Schlag auf Schlag, wie weggewischt sind die Launen
des Sommers, die die Stimmung dieses wunderschönen Films bisher
so herrlich gelöst getragen haben. Das Schicksal schlägt zu -
und fast hat es den Anschein, als hätte das zurückhaltende, etwas
schamhafte Spiel der Darsteller eben darin seinen Grund: daß die
Konsequenzen des Spiels am Ende so grauenhaft sind, daß darum
das Bewußtsein der unaufhaltsamen Tragödie wie eine Bremse für
die Eigensucht wirken muß. Trotzdem ist das Schicksal nicht aufzuhalten.
Zunächst stirbt das Kind, dann Eduard. Das Haus am Fluß leert
sich. Langsam umkreist es die Kamera, wehmütig, wie zum endgültigen
Abschied. Ein Traum ist zerronnen. Das Leben geht weiter.
Thome - und das hebt ihn heraus aus der Masse der heutigen Geschichtenerzähler
- inszeniert keine Handlung. Das, was er zeigt, ist um keinen
Deut wichtiger als das, was dahinter verborgen ist. Dennoch sind
die Bilder von einer unglaublichen Schönheit, an der das vielleicht
Verblüffendste ihre Selbstverständlichkeit ist. Sie darf sich
selbst genau sein, ohne sich schämen zu müssen. Thome kommt da
zum gleichen Ergebnis wie Wenders mit Paris, Texas.
Und wie Wenders macht auch Thome deutlich, woran das liegt. Endlich
hat eine Generation, die die Schuld, historische Schuld vor allem,
immer nur bei den Vätern sah, von denen sie sich lossagte, ihre
eigene Fähigkeit zur Schuld akzeptiert; hat sie gelernt, Verletzungen
hinzunehmen, ohne deswegen gleich am Zustand der ganzen Welt zu
verzweifeln. Die einst die Gesellschaft umkrempeln wollten, haben
sich nicht einmal selber geändert. Sie werden denen ähnlich, denen
sie um keinen Preis gleichen wollten. Das ist ihr Schicksal, und
dagegen hilft kein Aufbegehren. Jetzt gilt es also, die eigenen
Fehler zu lieben, ohne sie zu sanktionieren. Wie bei Renoir geht
auch bei Thome die Erkenntnis durch die Liebe, denn erst die wahre
Liebe ist klarsichtig genug, die Haut der Welt zu durchdringen
und das Innere, Verborgene, Wahre zu schauen.
Peter Buchka in Süddeutsche Zeitung 11.9.86
Im Laufe des Lichts
Rudolf Thomes Film "Tarot" nach Goethes "Wahlverwandtschaften":
ein Meisterwerk
FRANKFURT AM MAIN. Catherine wendet sich an Jules: "Ich möchte
heute abend Die Wahlverwandtschaften lesen. Kannst Du sie mir
leihen?" Jules aber hat das verlangte Buch gerade seinem Freund
Jim geliehen. Der verspricht, es Catherine am nächsten Morgen
zu bringen. Diese literarische Verstrickung ist eine filmische,
wie sie Truffaut in seinem "Jules und Jim" entrollte. Nun wird
der Faden, den Jeanne Moreau und Oscar Werner einst spannen, von
Thome aufgegriffen.
Schon in seinem Film "Tagebuch" (1975) war er fasziniert von Goethes
"Wahlverwandtschaften" ausgegangen, zu denen er jetzt tollkühn
zurückfindet. Die Selbstverständlichkeit, ein Stück unterschiedlich
auszulegen, scheint Theaterregisseuren vorbehalten. Im Film, dem
die Neuheit als Marktwert eingerieben wird, bedeutet die Verschiedenheit
des Gleichen schon ein Wagnis. Thome hat dem mit einem Meisterwerk
entsprochen, das sich, ginge es in unseren Kinos mit rechten Dingen
zu, mit legitimem Erfolg zum "Männer"-Film gesellen müßte. Aber
da herrscht ein anderer Magnetismus als die Liebe zum Licht.
Vera Tschechowa geht versonnen durch den Wald zum See, in dem
Hanns Zischler schwimmt. Jeder folgt seiner Bahn, die sich nur
innerhalb der Beschirmung im üppigen Landhaus des Paares Eduard
und Charlotte kreuzt. Sie ist Schauspielerin, er Filmregisseur
und, wie die aufgespannten Filmplakate besagen, ein Verehrer von
Ozu und Sternberg, also nicht astrein. Die alten Liebenden wagen
einen neuen Anfang ihrer aufgegebenen Geschichte, sind aber nur,
durch ihren Agenten Mittler ermutigt, in den dünnen Schein der
Harmonie verliebt.
Charlotte schreibt einen Roman, Eduard sucht einen Stoff. Otto
hilft. Ottilie schiebt sich dazwischen. Aber zur Katze im Bett
ist Eduard liebevoller als zur Freundin, die er mit der forschen
Frage: "Störe ich?" stört und sich selber mit dem gebrummten Mahler-Lied:
"Wenn mein Schatz Hochzeit hält, hab ich meinen Trauertag" abwiegelt.
Das Klima des Rückzugs könnte nicht kreativer sein. Der Sommer
strahlt, das Paar sucht schüchtern Schutz in der Idylle ländlicher
Heiterkeit, die ihm das Haus am Fluß so überströmend bietet. Aber
jedes Wort, jeder Vorschlag des Mannes an seine künftige Frau
ist eine schwach kaschierte Regieanweisung. Man müßte die Fensterladen
streichen, bevor das Wetter umschlägt, wird erwogen. Gestrichen
wird nicht. Diese Künstler reden, sie bilden nicht.
Bald treten die anderen Protagonisten auf den Plan. Otto (Goethes
Hauptmann) ist Drehbuchautor, Ottilie eine außerordentlich schöne,
doch nicht sonderlich talentierte Gitarristin. Rüdiger Vogler
tritt hier seit dem Wenders-Film "Im Lauf der Zeit zum ersten
Mal wieder mit dem damaligen Kompagnon der Straße: Zischler auf.
Katharina Böhm als Ottilie ist eine Entdeckung, die schwer schöner
zu photographieren ist als von Martin Schäfers Kamera in"Tarot".
Die Besetzung ist ein Glücksfall. Ihr beim Spiel der fortschreitenden
Anziehung und Abstoßung zuzusehen, ist wie ein Quartett aus "Cosi
fan tutte" anzuhören. Nicht die Vogelstimmen sind das Paradies,
das nur im Off betretbar wäre; das tierische Gezwitscher der vier
Menschenstimmen über die Gaukelei der Liebe aber gibt eine Ahnung,
daß dieser so entrückte Garten der Rosen und Lampione bald verlassen
werden wird. Wenn diese Geschöpfe am Ende der eigenen Kleingläubigkeit
anheimfallen, von der kurz entschlossenen Dramaturgie abgeräumt
werden, dann hat es nicht an der mangelnden Liebe zur Möglichkeit
dieser Figuren gelegen.
Im Gegenteil: Die Kamera geht mit den Affinitäten und Konstellationen
des Begehrens behutsamer um als die Handelnden untereinander.
Die aktuellen Berufe, man ist im Filmgeschäft, ließen eine rüdere
Behandlung der Probleme erwarten. Sicher fehlt es Thome nicht
an Mokanz. So schickt er Eduard, der sich partout bewähren will,
nicht wie Goethe seinen Baron - auch ein privilegierter Mann
in den Krieg, sondern nach Kamerun: in einer Vorabendserie des
Fernsehens einzuspringen.
Mit einem schreienden Buschhemd, das eher Mailand als Afrika markiert,
kehrt Zischler unwirsch zurück. Offensichtlich war Afrika der
falsche Schauplatz für ihn, denn da hatte unserem Eduard keiner
der in sein Leid Verstrickten zugesehen. Aber nie bricht die Regie,
die verzweifelte Kulturarbeiter ohne weiteres wie in einem Robert-van-Ackeren-Film
kaltschnäuzigem Neon aussetzen könnte, den Stab über sie. Sie
bleiben in der Verfehlung gebannt von einem Licht, das sie nicht
los läßt.
Eingangs sind es die ockerfarbenen Töne des Hauses, die vier Wahlverwandte
überfluten und zärtlich karessieren. Später in freier Natur malt
das Agfacolor, das man nie so intensiv leuchten sah, Tableaux
für Liebende, gleichgültig, ob sie sich in Erdbeerfeldern niederhocken
oder durch die Maisfelder flanieren. Schließlich wird das so starke
Gelb matter. Die Wasserfarben überwiegen ab der Schlüsselszene
des Tarotspiels. Ottilies Gesicht verdunkelt sich ins Rätselhafte.
Spuren aus einem früheren Leben dieses Twens, der wie eine schwedische
Lichtkönigin aussieht, zeichnen sich an ihr ab. Tschechowa sagt
ihr eine finstere Zukunft voraus und eingespiegelte Reflexe huschen
über das ganz selbstverständlich undurchdringliche Gesicht von
Böhm.
Konterkariert wird die Entrückung durch die kleinen fabelhaften
Ticks der Männer. Noch immer reibt sich Vogler erstaunt und verlegen
die Augen, zieht Zischler verteufelt gut die Augenbraue hoch,
bevor er eine Bosheit ins Gespräch wirft. Die Männer entwickeln
einen trockenen Charme. Der eine singt, der andere nicht. Höchstens
sind sie gewöhnlich. Denn unausgesetzt dringen sie in die Räume
der Frauen ein. Sie können keine in Frieden lassen. Das unterstreicht
ein ironischer Schnitt, der die Verirrungen der Wünsche in der
Hochzeitsnacht kundtut: Jeder denkt an die, jede denkt an den,
mit dem man gerade nicht zusammenschläft.
So läuft das Licht, das Thome auf dies Parallelogramm unproduktiv
gebundener Kräfte wirft, aus einem zauberhaften Gelb in die diffuse
Dämmerung. Die Frauen tragen einen stillen und gerechten Sieg
davon. Sie spielen bloß, das heißt in Gelassenheit den Totentanz,
den diese Männer in den Verfügungsgriff,zu kriegen suchen. Nicht
die laute Mechanik der Gefühle, der vertuschten Indifferenz wie
in Rohmer-Filmen ist der Nerv der Dinge; eher ist es "Tarot" um
eine leise wirkende Chemie, die Inwendigkeit der Gefühle zu tun.
Die Abrechnung mit dem Filmgeschäft steht im Hintergrund. Im Vordergrund
steht die Aufrechnung eines Gefühls für das Licht illuminierter
Trauer, das "Tarot wie kein zweiter Film aus diesem Land seit
langer Zeit entwickelt hat.
Karsten Witte in Frankfurter Rundschau, 11.9.86
Tarot
Früher hätten sie an einem Tag ein ganzes Drehbuch entwickelt,
jammert der Regisseur Eduard, als er versucht, zusammen mit seinem
Freund Otto etwas zu schreiben, und ihnen nichts einfällt. Früher
hat Rudolf Thome Filme nach den Büchern von Max Zihlmann gedreht.
Früher war vielleicht wirklich alles nicht so kompliziert: Von
1968 bis 1972 haben sie vier Filme gemacht, Filme mit lässigen
jungen Männern und selbstbewußten schönen Frauen. DETEKTIVE. ROTE
SONNE. SUPERGIRL. FREMDE STADT. Dann war Rudolf Thome hoch verschuldet,
und Max Zihlmann war es leid, daß aus seinen präzisen Büchern
Filme wurden, die nicht so perfekt waren wie die von Howard Hawks.
Thome ging nach Berlin und drehte andere Filme, die nicht mehr
so schnell aufeinander folgten. Einmal schrieb er über das Kino,
von dem er träumte: Der Puls muß schneller schlagen. Und wenn
man aus dem Kino kommt, muß man eleganter und selbstsicherer durch
die Straßen gehen als vorher." TAROT, zu dem wieder Max Zihlmann
das Drehbuch geschrieben hat, ist so ein Film. Man sollte danach
eleganter und selbstsicherer durch die Straßen gehen.
Als Rudolf Thome und Max Zihlmann anfingen, Filme zu drehen, damals
in München, Mitte der sechziger Jahre, noch zusammen mit Eckhart
Schmidt und Klaus Lemke, da wollten sie einfache, alltägliche
Geschichten erzählen und hielten nichts von Sozialkritik, Tiefsinn
und Metaphysik. Nun stützen sie sich bei TAROT auf Goethes Roman
"Die Wahlverwandtschaften", dem nachgesagt wird, er handle vom
Sittengesetz und der Moral des Ehestandes. Aber erstaunlicherweise
zieht dabei keiner den kürzeren. Im Gegenteil: allein als Literaturverfilmung
betrachtet, ist TAROT eine brillante Version der "Wahlverwandtschaften",
und obwohl bei der Verlegung des Stoffes in die Gegenwart die
Einzelheiten auf moderne Verhältnisse zu übersetzen waren, findet
sich in Handlungsführung, Aufbau und Erzählhaltung eine frappierende
Treue zum Original. Möglich ist das nur, weil Thome und Zihlmann
Goethe ganz wörtlich nehmen und in dessen an gewaltigen Schicksalsschlägen
nicht eben armer Erzählung die einfache, alltägliche Geschichte
entdecken. Was Achim von Arnim zum Roman bemerkte, ließe sich
auch von dem Film sagen: "daß wieder ein Teil untergehender Zeit
für die Zukunft in treuer, ausführlicher Darstellung aufgespeichert
ist."
Statt der Landedelleute des frühen 19. Jahrhunderts hier also
die etwas angeschlagene Bohème der achtziger Jahre, der 40jährige
Filmregisseur Eduard (Hanns Zischler) und die Schauspielerin Charlotte
(Vera Tschechowa), die den Sommer in einem schön hergerichteten
alten Landhaus verbringen. Statt der Beschäftigung mit Magnetismus
und Telepathie jetzt: Yoga, Astrologie, Wiedergeburt, Tarot. Aber
ebenso zielstrebig wie der Roman legt es der Film darauf an, seine
in ländlicher Idylle lebenden Personen in eine Konstellation hineinzuführen,
die wie ein chemisches Experiment beobachtet werden kann, eine
Versuchsanordnung. Zu dem Paar, dem die Zweisamkeit etwas ungenügend
wird, stoßen zwei andere Personen: Otto (Rüdiger Vogler), der
Freund Eduards, und Ottilie (Katharina Böhm), die Nichte Charlottes.
Daß Eduard auf Otto trifft, als sie sich im Kino Eric Rohmers
VOLLMONDNÄCHTE ansehen, ist natürlich nicht ohne Hintersinn, auch
Rohmers moralische Geschichten" haben immer ein Moment des Planspiels
- in den Filmen Thomes, zuletzt SYSTEM OHNE SCHATTEN, ist es oft
gleichsam als gegenläufiges Motiv zu deren Offenheit angedeutet.
Daß sich dann zwei neue Paare bilden - Eduard und Ottilie, Otto
und Charlotte -, wäre zuviel gesagt: Man sieht sie nur einiges
gemeinsam unternehmen, bei Spaziergängen, beim Erdbeerpflücken
und beim Schwimmen, viel mehr passiert zunächst nicht. Erst als,
ziemlich genau in der Mitte des Films und nach der titelgebenden
Tarotsitzung, Eduard und Charlotte heiraten und vor dem Standesamt
die Glückwünsche der anderen entgegennehmen, hat man den Verdacht,
daß doch die Falschen die langen Küsse tauschen, daß die Gefühle
nicht mit der äußeren, legalisierten Ordnung der Paare übereinstimmen.
Bei dem folgenden Fest dann Verstimmung, aber kein ernsthaftes
Problem, weil Eduard davon spricht, daß Ottilie in seinem neuen
Film spielen soll. In der Nacht schläft Eduard mit Charlotte,
doch vorher hatte er versucht, zu Ottilie zu gehen. Drauf folgt
verkatertes, morgendliches Aufräumen. Ganz plötzlich erhält des
Geschehen eine andere Qualität, unvermittelt werden die Konsequenzen
der sommerlich entspannten Begegnung erkennbar. Eduard ist bei
Ottilie: plötzlich Umarmungen und Liebesgeständnisse, die Rede
ist von Dummheit der Heirat, von Scheidung und von der Liebe Charlottes
zum anderen, zu Otto. Die Szene versetzt einen Schock: als Ausläufer
eines Gefühlssturms, dessen Entstehung uns entgangen war, dessen
Heftigkeit gleichwohl zu spüren ist.
Hier muß man ungefähr verstehen, wie der Film vorgeht: Er hat
eine Lücke gelassen, die der Zuschauer mit seiner Phantasie und
seinen Gefühlen ausfüllen kann. In dem erstaunlichen zweiten Teil
des Films gibt es viele solcher Lücken, in immer kühneren Sprüngen
wird die Geschichte zu Ende erzählt. Das geschieht so souverän,
daß der Film seine Glaubwürdigkeit und Kraft behält, wenn er dann
keine der in der Romanvorlage enthaltenen, für uns ja recht unzeitgemäß
massiven Katastrophen ausläßt. So findet Charlottes Kind - es
gleicht Otto und hat Ottilies Augen - den Tod, Ottilie kommt bei
einem Unfall ums Leben, als sie ein anderes Kind retten will,
Eduard stirbt in einem Hotelzimmer. Die beiden "Vernünftigen,
Otto und Charlotte, bleiben übrig.
Rudolf Thome 1975, als er sich bei TAGEBUCH schon einmal - sehr
viel freier - Goethes"Wahlverwandtschaften" zur Vorlage für einen
Film nahm: "Einerseits ist Goethe unglaublich enthusiastisch auf
der Seite von Eduard und beschreibt dessen Liebesgeschichte, auf
der anderen Seite schildert er diese Beziehung zwischen den vier
Personen mit einer ungeheueren Distanz." Bei TAROT werden diese
beiden Motive sehr deutlich. Thome kann einer guten Liebesgeschichte
nicht widerstehen, und Goethes erzählerisches Understatement entspricht
genau der Haltung, die man in allen Thome-Filmen wiederfindet:
eine Distanz, die man nicht als Kälte mißverstehen sollte, weil
sie von dem Respekt den gezeigten Personen gegenüber herrührt,
eine Distanz voll humanen Engagements.
Gelassenes, ausführliches Verweilen einerseits, abenteuerliche
Verkürzungen, Pausen, Auslassungen andererseits. Thome zeigt die
Welt in Ausschnitten, das kann man schon in seinen frühen Kurzfilmen
sehen (ganz deutlich bei STELLA von 1966, auch ein Stoff von Goethe).
Thome zeigt Gedanken, Gefühle, Unsichtbares - indem er sich auf
das Sichtbare konzentriert. Durch Ausschnitte in der Zeit, durch
Zeit, die unterbrochen ist, wird nicht so sehr Zeit dargestellt
als das, was sich in der Zeit abspielt: Leben. Wie die Konzentration
auf die Oberfläche Offenheit schafft für das, was nicht an die
Oberfläche tritt, macht die Beschränkung auf Ausschnitte in der
Zeit offen für das, was nicht erzählte Zeit ist. Im zweiten Teil
von TAROT muß der Zuschauer die kurzen, unglaublich dichten Szenen
für sich verlängern, sonst geht der Film an ihm vorbei. Den knappen,
nur scheinbar beiläufigen Aussprachen folgen lange, bewußt "leer
gelassene Einstellungen: Eduard schwimmt im See, Ottilie spielt
ein Stück auf der Gitarre, Charlotte (und nicht Ottilie) hat Eduard
vom Flugplatz abgeholt, sie sind im Auto auf der Landstraße, "Warum
ist Ottilie nicht mitgekommen?" - "Sie wollte nicht", die Scheibenwischer
des Autos. Die vielleicht gewagteste Ellipse: Ottilie stellt eine
von Eduards und Ottos nichtssagenden Postkarten aus Lanzarote
neben andere, die schon in einer Reihe stehen, dann eine Ansicht
des Landhauses, Babygeschrei, Eduards und Charlottes Kind ist
geboren.
Vor der Tür zur Küche des Hauses hängt ein Plakat GOSSES DE TOKYO,
von einem Film des Japaners Yasujiro Ozu, dessen große Kunst sich
meist in ganz einfachen Familiengeschichten verwirklichte, in
denen kleinste Ereignisse zu bewegen vermögen. Einer von Ozus
Filmen - BANSHUN (Später Frühling) - hört damit auf, daß man nur
sieht, wie der allein gelassene, einsame Vater einen Apfel schält.
Wie Ozu zeigt Thome vieles nur indirekt, in ruhig beobachteten
kleinen Ereignissen. Die Erschütterungen, die seine Personen treffen,
äußern sich noch darin, wie sie mit Tee- oder Kaffeetassen hantieren:
man muß nur hinsehen.
In der wunderbar gespielten Schlußszene weichen Thome und Zihlmann
dann doch von Goethe ab. Blendet Goethe sozusagen über den Gräbern
von Eduard und Ottilie ab und läßt nur die Hoffnung, daß "sie
dereinst wieder zusammen erwachen", so endet TAROT im Diesseits,
mit einer Szene zwischen Charlotte und Otto. Sie sitzen in der
Küche, Charlotte schneidet Gemüse. Ihre innere Bewegung kommt
nur als leichtes Zögern, als Unsicherheit beim Ansetzen des Messers
zum Ausdruck, als Otto vorschlägt, daß sie zusammen eine Wohnung
suchen könnten.
Karlheinz Oplustil in epd Film 9/86
Kino: Rudolf Thomes" Tarot"
Der Fluß fließt
Ein Film nach Motiven aus Goethes "Wahlverwandtschaften"
Sie kam auf mich zu mit einem Ausdruck im Gesicht, wie ich nie
zuvor einen gesehen hatte (Versonnenheit, Trauer, Melancholie,
Zärtlichkeit, alles das gleichzeitig und gleichzeitig jedes einzelne
ganz für sich). Um mich zu retten, hielt ich mich an Äußerliches
(Jeans, ein weißes T-Shirt, bequeme Schuhe).
Es war auf einem Waldweg, sie trug einen Strauß Feldblumen in
der Hand, hielt ihn vor der Brust, und ab und zu strich sie mit
den Fingerspitzen leicht über die Blüten. Zu den Geräuschen des
Waldes (dem Zwitschern der Vögel, dem Plätschern des nahen Sees)
träumte ich mir eine Musik, die vom Himmel kam oder tief aus einem
friedlichen Herzen. Ich wollte sie immer nur ansehen, sehen, wie
das wechselnde Licht unter den Bäumen ihr Gesicht veränderte,
immer nur um eine Kleinigkeit, aber jede Kleinigkeit war eine
neue Welt.
Dann war sie an mir vorbeigegangen, ohne mich zu bemerken, ich
drehte mich nach ihr um und sah, wie sie den Blumenstrauß hinter
den Scheibenwischer eines roten Renaults klemmte, der zwischen
den Bäumen am Ufer des kleinen Sees stand.
Wenn so ein Film anfinge, dachte ich da, wenn es jemandem gelingen
könnte, mich all das fühlen zu lassen, was ich gerade beim Sehen
gefühlt habe, dann möchte ich schon mein Leben ändern.
In dem Film, der mein Traum wäre, müßten die ersten Worte, die
man zu hören bekäme, "Schau mal! heißen. Der sie sagte, müßte
Eduard heißen. Eduard, ein, sagen wir, wohlhabender Filmregisseur
im besten Mannesalter, hat die schönsten Stunden eines Sommernachmittags
mit Schwimmen in einem kleinen Waldsee zugebracht, der ganz in
der Nähe seines Hauses liegt. Als er aus dem Wasser steigt, findet
er hinter dem Scheibenwischer seines roten Renaults, den er zwischen
den Bäumen am Ufer geparkt hat, einen Strauß frischer Feldblumen.
Er nimmt ihn mit nach Hause, zeigt ihn Charlotte, und auf die
Frage, ob er Blumen gepflückt habe, würde er behaupten, die seien
von einer heimlichen Verehrerin. Daß es die Nanni gewesen sei,
glaube er nicht.
Man müßte hören, was gesprochen wird, und sehen, was gesagt wird,
und nie dürfte man wissen, ob Eduard weiß, von wem die Blumen
sind, und nie dürfte man wissen, ob Charlotte Eduard seine Ahnungslosigkeit
glaubt. Es müßte eine Szene sein, die, je öfter man den Film anschaute,
desto geheimnisvoller würde!
Alles müßte in den Bildern sein, jede Einzelheit und eine ganze
Welt, nichts dürfte erklärt werden, aber alles wäre zu sehen,
beim dritten Mal noch mehr als beim zweiten Mal und beim vierten
Mal noch mehr. Man müßte immer genau hinsehen müssen, ob stimmt,
was man hört, manchmal wären die Wörter heimtückischer als die,
die sie gebrauchen, und manchmal wären sie einfältiger als das,
was sie sagen.
Auf die Dinge käme es an, auf jedes einzelne und auf ihren Zusammenhang
und auf das, was zwischen ihnen zu sehen ist; jedes kleine Zögern
wäre genauso wichtig wie alle großen Worte; was nicht gesagt würde,
müßte dennoch zu hören sein; man würde fast immer mehr hören als
das, was man sieht, und man würde immer mehr sehen als auf den
ersten Blick. Manchmal würden die Augen ganz eng werden vor Bewunderung
jeder Kleinigkeit und manchmal ganz weit vor Sehnsucht nach dem
Ganzen. Manchmal müßte er die Zeit anhalten, weil uns sonst schwindelig
würde, und manchmal müßte er sie beschleunigen, damit uns schwindelig
wird vor Glück oder Traurigkeit.
Mein Traumfilm würde eine ganz einfache Geschichte erzählen.
Eduard und Charlotte leben seit einiger Zeit auf dem Land, sie
haben sich ein schönes Haus fast ein kleines Schloß, gekauft.
Das Haus liegt an einem Fluß, und in der Nähe, im Wald, ist ein
kleiner See.
Vor vielen Jahren haben sie sich schon einmal geliebt und sich
dann getrennt, und jetzt machen sie einen zweiten Versuch, ihr
gemeinsamer Freund Mittler, ein Produzent, habe sie wieder zusammengebracht,
behauptet dieser später einmal, nicht ohne Stolz.
Eduard ist Filmregisseur, Charlotte Schauspielerin. Eduard kann
sich über die Ruhe nicht richtig freuen, weil ihm kein Filmstoff
einfällt und er, wie er behauptet, verrückt werden wird, wenn
er nächstes Jahr keinen Film drehe. Charlotte hat es da besser.
Ihr werden ständig neue Rollen angeboten, die sie aber alle ablehnt,
um in Ruhe den Roman fertigzuschreiben, den sie begonnen hat.
Als Eduard eines Tages in die Stadt fährt, trifft er in einem
Kino, wo er sich "Vollmondnächte von Eric Rohmer ansieht, seinen
alten Freund Otto. Die beiden sitzen im Kino nebeneinander, ein
Platz zwischen ihnen ist frei, und Otto schüttelt den Kopf vor
Freude und Verlegenheit. Eduard nickt nur, vielleicht aus den
selben Gründen.
Zu Haus erzählt Eduard Charlotte, daß er seinen alten Freund Otto
getroffen hat. Zwar habe der vor einiger Zeit eine kleine Erbschaft
gemacht, davon habe er leben können, aber mit dem Schreiben sei
er nicht recht weitergekommen. Außerdem sei er ziemlich vereinsamt,
gehe kaum noch aus, nur manchmal treffe er alte Bekannte auf der
Straße. Kurz und gut: er habe ihn eingeladen, ein paar Wochen
bei ihnen auf dem Land zu verbringen, und außerdem falle ihnen
zusammen vielleicht doch noch ein Filmstoff ein.
Charlotte hätte wenigstens vorher gefragt werden wollen, und sie
weiß schon, wie das sein wird: die beiden Männer würden immer
zusammen sein und schreiben und sie könne sehen, wo sie bleibe.
Eduard meint, dann könne er Otto ja wieder ausladen, aber er meint
es nicht wirklich, und dann ist Otto auch schon da. Sie freuen
sich alle, einander zu sehen, und Otto muß laut lachen, als er
sieht, wie die beiden anderen in einen kleinen Streit darüber
geraten, in welcher Richtung vom Tisch aus, an dem sie abends
vorm Haus sitzen, München liegt. Otto soll der erste sein, der
es erfährt: Eduard und Charlotte haben beschlossen, zu heiraten.
Eduard und Otto fangen an zu arbeiten. Es fällt ihnen nichts Richtiges
ein, oder nicht das Richtige. Otto steht am Fenster und schaut
auf den Fluß, und da fällt ihm der Titel ein: Der Fluß fließt.
Weil es ihm ganz ernst damit ist, und man müßte sehen, wie ernst
es ihm ist, und wie schön so ein Titel wäre, wiederholt er ihn
noch einmal, ganz leise für sich: "Der Fluß fließt. Aber Eduard
ist unzufrieden: früher hätten sie an einem Tag ein ganzes Drehbuch
entwickelt, und er fragte sich, wie das die anderen denn machten,
und Otto meint, sie seien alle nicht so kritisch wie sie. Charlotte
bekommt einen Brief von ihrer Nichte Ottilie, und der Inhalt des
Briefes ist so, daß sie beschließen, das junge Mädchen zu sich
einzuladen, damit sie sich erholen könne.
Während Charlotte in die Stadt gefahren ist, um ihre Agentin zu
besuchen, vertreiben die beiden Männer sich die Zeit. Sie liegen
faul in einem Boot, Otto angelt, und sie erklären der kleinen
Nanni maulfaul und genervt die Kunst. Nanni fragt, was das denn
sei, was Charlotte schreibe - ein Roman? Ein Roman sei wie das
Leben, nur getippt: sagt Rüdiger Vogler. Charlotte kommt zurück,
begleitet von Mittler, und als beide an den Tisch kommen und sie
einander begrüßen, sieht Charlotte, daß Otto ihren Roman gelesen
hat. Sie ist empört, und Otto sagt, Eduard habe ihm das Manuskript
gegeben. Das könne der doch nicht machen, meint Charlotte, und
Otto sagt, der Roman habe ihm sehr gut gefallen. Mittler will
ihn gleich mitnehmen, und auf Charlottes Einwand, er sei ja noch
gar nicht richtig fertig, sagt er, daß heute niemand mehr einen
Roman zu Ende schriebe, bevor er einen Verleger dafür gefunden
habe.
Später am Abend, nach einer Pokerrunde, an deren Ende Mittler
das ganze Geld, das auf dem Tisch liegt, einsteckt, erzählt Otto
eine Episode aus dem Roman, die ihm besonders gefallen habe. Er
erzählt mit stiller Begeisterung und sanftem Nachdruck, und Eduard
ruft überrascht und freudig: "Das ist mein Film!" Charlotte fragt
ihn: "Ich denke, du hast den Roman gelesen!, und Eduard hat gar
nicht mitbekommen, was sich da gerade ereignet hat.
Überhaupt dürfte in diesem Film nichts passieren, sondern alles
müßte einfach geschehen. Alles müßte seinen gewöhnlichen Gang
gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele
steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre.
Mit der Ankunft Ottilies müßte die Geschichte weitergehen. Eduard
holt sie vom Bahnhof ab, und zusammen fahren sie, Musik hörend
und über eine andere Musik redend, als die sie gerade hören, nach
Hause. Ottilie hat blonde Haare, Charlotte hat schwarze Haare.
Der kleine Renault ist rot, der große Mercedes ist weiß, der Ford,
aus dem Rüdiger Vogler steigt, wenn die Geschichte dann schon
bald zu Ende ist, ist so rot wie das Jackett, das er dann tragen
wird.
Charlotte und Eduard heiraten. Das müßte man nicht unbedingt sehen.
Viel schöner wäre es, wenn die Szene so anfinge: ein weißer Mercedes
kommt ins Bild und Mittler steigt heraus, er kommt zu spät, Eduard
und Charlotte, Otto und Ottilie kommen gerade aus dem Standesamt.
Mittler könnte jetzt ein paar Photos machen, und dann könnte das
Hochzeitsfest beginnen. Auf dem Fest erzählt Mittler Charlotte,
was er von anderen gehört hat: Eduard erzähle jedem, daß Ottilie
und nicht sie, Charlotte, die Hauptrolle in seinem neuen Film
spielen werde. Ottilie sagt, sie sei von dieser Entscheidung genauso
überrascht worden wie Charlotte, und sie sei gar nicht gefragt
worden. Später erklärt Eduard, in jedem Film gäbe es Hauptrollen,
und es gäbe DIE Hauptrolle, und Otto wirft ihm vor, er habe sich
bisher in jedes Girl verliebt und ihr immer gleich die Hauptrolle
gegeben. Eduard sagt, seinen Filmen sei das aber immer bekommen,
aber Otto fragt ein bißchen resigniert: "Und meinen Büchern?"
Das Fest ist zu Ende, Eduard liegt angezogen auf einem Sofa, dann
wacht er auf, geht nach oben, wo die Schlafzimmer sind, und findet
Ottilies Tür verschlossen. Otto liegt wach im Zimmer nebenan,
liest in dem Buch, das er sich mitgebracht hat, es ist "Verlorene
Illusionen" von Balzac, und dann geht Eduard in Charlottes Zimmer
und legt sich zu ihr ins Bett und schläft mit ihr, und man müßte
sehen, daß in ihren Zimmern Otto und Ottilie wach liegen, man
müßte ihre Gesichter sehen, das dürfte nicht aussehen wie ein
Zwischenschnitt und das dürfte nicht aussehen wie eine Illustration
von Gedanken, es müßte eine Einheit haben und eine Ambivalenz,
die Einheit der Zeit und die Ambivalenz der Gefühle, man müßte
die Traurigkeit spüren und die Sehnsucht, die Szene müßte in der
Wirklichkeit spielen und in der Vorstellung, sie müßte real sein
und geträumt, und sie würde einem das Herz aus dem Leib reißen.
Am nächsten Morgen treffen sich alle zwischen den Trümmern des
Festes, hunderte von Flaschen, leeren und halbvollen Gläsern,
Papptellern Schüsseln und Lampions. Otto verspricht sich und fragt
Eduard zuerst "Wie war's? und erst dann "Wie geht's?, und wer
sich da und ob sich da überhaupt einer versprochen hat, das könnte
man gar nicht wissen.
Eduard bekommt ein Angebot, eine zweiteilige Serie fürs Vorabendprogramm
zu machen, in Kamerun. Bevor er am nächsten Tag abreist, besucht
er in der letzten Nacht Ottilie in ihrem Zimmer. Das ist diesmal
nicht abgeschlossen, und kaum sitzt er auf ihrem Bett, wirft sie
ihm die Arme um den Hals, und Eduard, der sie auch liebt, sagt,
seine Ehe mit Charlotte sei von Angfang an ein Irrtum gewesen,
beide wüßten das, und Charlotte sei mit einer Scheidung einverstanden.
Ottilie will aber nicht mit ihm schlafen. Dann reist er ab, und
Otto schreibt, Charlotte geht oft spazieren, Ottilie spielt Gitarre,
und Eduard kommt wieder zurück.
Charlotte ist schwanger, sie will das Kind bekommen, und Ottilie,
die Eduard immer noch liebt, will nicht mit ihm zusammenleben.
Jetzt müßte alles ganz schnell gehen in dem Film, von dem ich
träume. Es müßte einem die Sinne rauben und den Atem nehmen, alles
müßte über einem so zusammenschlagen, wie es über den Menschen
im Film zusammenschlägt, das Schicksal ein Sturm und jede Kleinigkeit
ein Schicksalsschlag.
Dann säße man am Ende da, müßte tief Atem holen, traurig und glücklich,
man würde noch lange das Haus sehen, das an einem Fluß' liegt,
es würde immer kleiner werden, bald läge es tief unter uns, sogar
jetzt, in der letzten Minute, in den letzten Sekunden würde man
noch Neues entdecken - so ein Film, das wäre ein Traum. Regie:
Rudolf Thome. Buch: Max Zihlmann. Eduard: Hanns Zischler. Otto:
Rüdiger Vogler. Charlotte: Vera Tschechowa. Ottilie: Katharina
Böhm. Kamera: Martin Schäfer.
Norbert Jochum in Die Zeit 12.9.86
Das Schicksal kreuzweise gelegter Tarotkarten
Es bedarf einiger Kühnheit, um die "Wahlverwandtschaften von
Goethe zu adaptieren. Rudolf Thome hat sie besessen. Hinsichtlich
des Zusammenspiels der Gefühle ist dieser Film unvergleichlich.
Es ist bereits das zweite Mal, daß Rudolf Thome in den zwanzig
Jahren seiner Filmlaufbahn sich an "Die Wahlverwandtschaften11
heranwagt. Das erste Mal, im Jahre 1975, der Film hieß TAGEBUCH
und war in Schwarzweiß gedreht, fungierten der Autor und Cynthia
Beatt als Darsteller. Was hat ihn veranlaßt, ein Remake in Farbe
zu drehen, es TAROT zu nennen und den Film im intellektuellen
Milieu deutscher Nachwuchsfilmer anzusiedeln?
Ausgehend vom Wechselspiel der Gefühle zwischen vier höchst unterschiedlichen
Personen versuchte Thome die Saga einer Generation, sein geistiges
Selbstporträt in fiktionaler Form zu schreiben, und zwar in gleicher
Weise wie in BESCHREIBUNG EINER INSEL, einer ethno-pince-sans-rire-Erzählung,
in der er ganz gelassen und Schritt für Schritt mit wissenschaftlich-coolem
aplomb die verblüffende Entdeckung der 'guten Wilden' als Tatsache
konstatierte. Dieses Mal ging er nicht mit seinem an Moullet gemahnenden
Humor zu Werk, sondern bewaffnete sich mit einer Kamera, die mit
einer Trockenheit wie bei Rohmer die kleinen Schwächen und Lächerlichkeiten
und die großen Ambitionen seiner sprunghaften Filmfamilie messerscharf
sezierte.
Sie besteht aus vier Personen. Goethe stellte die Sache so dar:
"Denken Sie sich einen gewissen A intim vereint mit einer gewissen
B, welche sich gleichwohl durch allerlei Umstände und Machenschaften
von ihm getrennt wüßte; denken Sie sich dann eine Person C, die
sich zu D in eben dieser Weise verhält; bringen Sie nun beide
Paare zusammen: A wird sich auf D stürzen und C auf B, ohne daß
man zu sagen vermöchte, wer den anderen zuerst verlassen, wer
mit dem anderen sich zuerst vereint hat." Sex ist gemeint, oder
nicht? Es fehlte nicht viel, und es entstünde daraus eine zotige
Sittenkomödie. Aber fragt man sich dann nicht, was da von TAROT
noch übrig bleibt, wenn das Ganze so mathematisch, so trivial
angelegt ist?
Beginnen wir mit der Geschichte: in einer blühenden Landschaft
badet ein nackter Mann, ein Filmemacher. Im Haus wartet seine
Yoga ausübende Frau/Freundin/Geliebte auf ihn, eine arbeitslose
Schauspielerin und angehende Schriftstellerin. Der Mann unterbricht
die Yogaübungen der Frau, um sie zu überreden, sich einer ihrer
Romanfiguren, mit der sie nichts anzufangen weiß, zu entledigen.
Sie weist sein Ansinnen zurück. "Das ist kein Bahnhofsroman.
Entschuldigt sich: "Verzeih, ich bin nervös. Er, voll bourgeoiser
Beredsamkeit, kann sich einer schlagfertigen Antwort nicht enthalten
und sagt: "Eine Krise, das ist immer gut." Dann sucht er seinen
alten Freund und Ko-Drehbuchautor in einem Vorführraum auf. Auf
der Leinwand kommt es gerade zu einer erregten Szene zwischen
Fabrice Lucchini und Pascale Ogier. Es handelt sich offensichtlich
um Rohmers Film VOLLMONDNÄCHTE.
Es sind nicht mehr als drei Personen, doch die Weichen für die
Geschichte sind bereits gestellt: der Filmemacher lädt seinen
alten Freund ein, bei ihnen zu wohnen, um an einem Film zu arbeiten;
die Frau legt ihm die (Tarot)-Karten, eines schönen Tages liest
der Freund das Manuskript der Frau, das ihm sehr gefällt, insbesondere
ein Abschnitt, in dem erzählt wird, wie ein Mann aus dem Krieg
heimkehrt und zu Hause drei Frauen vorfindet (die in Wirklichkeit
eine sind). Die Erleuchtung: der Filmemacher hat die Idee gefunden,
die alles in Gang bringt (oder ins Schleudern). "Und wenn das
nun mein Drehbuch würde? Aber ja, das ist genial. Ganz klar, wir
schreiben es zusammen, und Du bist die Frau, die darin spielt."
Eine hübsche Romanze entspinnt sich zwischen der Romanschreiberin
und dem Drehbuchautor, eine Romanze voller Anmut und Keuschheit.
Dann kreuzt ein anbetungswürdiges junges Mädchen auf (schmerzhafter
Katholizismus, Augenerotik, der gleiche Heldinnentypus wie in
den derzeitigen Autorenfilmen, irgendwo zwischen Ann-Gisèle Glass
und Juliette Binoche), welches den Filmemacher seelisch zusammenbrechen
läßt. Zwischen ihnen erwächst eine Liebe, brutal und unmöglich,
denn sie ist wie seine Tochter. Diese beiden lieben einander in
Wirklichkeit schon immer, und sie können sich ihrer Liebe nicht
erwehren; das Quartett ist endlich komplett, um sich mit dieser
neuen Würze jugendlichen Inzests der Konterbande der Liebe wie
blutrünstige Freibeuter hinzugeben, die sie ja auch sind. Intellektuelle,
gewiß, aber nach außen hin Gefühlskranke.
Ich werde Ihnen nicht alles erzählen. Der Film jedenfalls entwickelt
immer größere Musilsche Qualitäten, ist irrsinnig verschmitzt,
bukolisch und abscheulich. Charlotte (die Frau), voller Verletzlichkeit
und Sensibilität, gespielt von der wunderbaren Schauspielerin
Vera Tschechowa (sie dreht seit 1957 in Deutschland), ist eine
Art elektrische Emmanuelle Riva, durchlaufen von.Theater-Schauern.
Eduard (der Filmemacher) wird verkörpert von Hanns Zischler, der
mit seinem kahlen Schädel bereits bei Wenders (IM LAUFE DER ZEIT)
und Akerman (LE RENDEZVOUS DANNA) auf sich aufmerksam gemacht
hatte: er ist zweideutig und gemein, aber niemals lächerlich.
Das junge Mädchen, das den Sturm sät, die reizende Katharina Böhm,
verströmt die Todessehnsucht des 19. Jahrhunderts. Otto schließlich,
der Drehbuchschreiber, wird dargestellt von Rüdiger Vogler, der
dem jungen Hume Cronyn immer mehr gleicht und direkt aus einem
Hitchcock-Thriller zu kommen scheint: Suspense, Selbstkasteiung,
Tod, der in der Luft liegt.
Wenn TAROT so bewegend, so ergreifend ist, dann vor allem wegen
seiner Überlegungen und Gedanken. Sein intelligentes Szenario
beleuchtet und resümiert das Kino der Gegenwart (von Beinix bis
Ferreri und Scorsese): schweift von den wenigen Personen durch
simple Gedankenassoziationen ab und gerät in eine Traumwirklichkeit.
Thome wagt den Schritt, indem er embryonale Fiktionen quadratisch
aneinanderfügt und sie wie Module einsetzt. Man muß dann nichts
weiter tun, als diese angedeuteten Mini-Beziehungen gemäß der
Stimmung und Dynamik der Gefühle zu verbinden (die erste, die
dies verstanden hat, ist vielleicht Marise-Claude Treilhou, deren
SIMONE BARBES exemplarisch ist für eine Filmgeneration in der
Krise.
Das Schönste an TAROT ist, daß er theoretisch ist, ohne es zu
sein. Er hält seine szenischen Antikrisen-Module mit solcher Großzügigkeit
im Gleichgewicht, daß man am Ende bewegt und betroffen wie nach
zehn Filmen auf die Straße tritt. Er macht aus der Unmöglichkeit,
eine einzige Geschichte (einfach und konventionell) zu erzählen,
eine magische Metamorphose von tausend abwechselnd eiskalten und
feurigen Mini-Melodramen, von denen sich zu erholen man eine Ewigkeit
braucht.
Louis Skorecki, Libération, Paris, 14.5.1986
Darsteller:
Charlotte | Vera Tschechowa |
Otto | Rüdiger Vogler |
Eduard | Hanns Zischler |
Ottilie | Katharina Böhm |
Mittler | William Berger |
Nanni | Kerstin Eiblmaier |
Baby | Martin Kern |
Arzt | Peter Moland |
Theaterregisseur | George Tabori |
Schauspieler | Wilhelm Menne |
Verwalter Erdbeerfeld | Franz Eitzinger |
Pfarrer | Dr. Klupak |
Autofahrer | Vadim Glowna |
Miriam | Jeannine Fox |
Stab:
Regie | Rudolf Thome |
Buch | Max Zihlmann |
Kamera | Martin Schäfer |
Kamera-Assistenz | Martin Gressmann |
Regie-Assistenz | Petra Seeger |
Kostüm | Gioa Raspé |
Maske | Susanne Schröder |
Beleuchter | Honorat Stangl |
Ralf Lotzin | |
Bühne | Michael Wetterling |
Ton | Margit Eschenbach |
Ton-Assistenz | Gerda Grossmann |
Produktionsleitung | Gudrun Ruzicková |
Produktions-Assistenz | Dagmar Heuer |
Schnitt | Dörte Völz Mammarella |
Schnitt-Assistenz | Susanne Peuscher |
Mischung | Dieter Schwarz |
Ausstattung | Anamarie Michnevich |
Standfotos | Wolfgang Huber |
Script | Alexander von Bottlenberg |
Produktionsfahrer | Ingo Frank |
Aufnahmeleitung | Eva Brusnicky |
Musik | Oliver Zenz |
Redaktion | Willi Segler |
Drehzeit: 7. Juni - 25. Juli 1985
Drehorte: Truchtlaching, Poing, München
Länge: 3273 m - 120 min - Format: 35 mm (1:1,66) Farbe Agfacolor
Prädikat: Wertvoll, FSK-Freigabe: ab 6 J.
Produktion: MOANA-Film GmbH, Anthea Filmgesellschaft mbH und ZDF
gefördert mit Mitteln der FFA und der Bayerischen Filmförderung
Kinostart: 11. September 1986
Festivals: Cannes (Quinzaine), Montreal, Los Angeles Festival