TAGEBUCH
Vergegenständlichungen auf der Suche nach der verlorenen Identität; Rudolf Thome (35), seit zwei Jahren Wahlberliner, macht Filme wie Tagebücher, um zu leben, zu überleben; listig oft, bedürfnislos auch, aber nie arm, wenngleich miserable Produktionsbedingungen sich zunehmend in technischen Defiziten (Ton, Materialqualität) störend niederschlagen.
"...Und was will man von Unglück reden? Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann beliebt er, sich unglücklich zu finden. Lasse man den Augenblick vorübergehen und man wird sich glücklich preisen, daß ein so lange Bestandenes noch besteht. Sich zu trennen gibt's gar keinen hinlänglichen Grund
Goethes Lob der Ehe aus den "Wahlverwandtschaften", von Thome rezitiert; ein langgezogener 360 Grad-Panorama-Schwenk begleitet den Text über ein Berlin der Mauern, Höfe, Plätze, Ruinen und rauchenden Schlote: öde, häßlich, schmutzig, fremd. Hart stoßen sich die Widersprüche im verengten Raum. Stellungen sind zu beziehen oder aufzugeben. Bekenntnis wird gefordert. Nicht nur in Kilometern mißt sich die Distanz München-Berlin, auch davon handeln Thomes letzte Filme. Noch zweimal, an Scheidewegen, wird es solche Schwenks geben; es sind die einzigen autonomen Sequenzen des Films, dessen Kamerablick sonst statisch bleibt, motiviert nur von den Akteuren und ihren sparsamen Bewegungen. Wahl versus Naturverwandtschaften: Eine feste chemische Verbindung löst sich durch das Auftreten eines neuen Elements, welches sich mit einem der freigewordenen zu neuer Bindung findet. Goethe überträgt diesen einfachen chemischen Prozeß auf menschliche Beziehungen. "Mir sind leider Fälle genug bekannt, wo eine innige, unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentliche Zugesellung eines dritten aufgehoben und eins der erst so schön verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward. Es sind die Chemiker viel galanter, sagte Eduard, sie gesellen ein viertes hinzu, damit keines leer ausgehe." Thome übernimmt Goethes Grundkonstellation: Eduard (R. Thome, ein exzellenter Komödiant!) ist mit Charlotte (Angelika Kettelhack) verheiratet; beide Anfang dreißig, ohne Kinder. Er jobt, um Geld für seine Photos, für einen Bildband über Berlin zu verdienen. Sie arbeitet in einer politischen Buchhandlung und schreibt gelegentlich Artikel. Gleichgültigkeit scheint der größte gemeinsame Nenner dieser Beziehung zu sein. Das Unbehagen will er durch Scheidung verscheuchen; sie, die vorgibt, ihn zu lieben, findet das blödsinnig, solange kein besserer Partner in Sicht sei. In Kreuzberg hat Eduard eine Fabriketage günstig mieten können; beim Umzug hilft sein Freund Otto (Holger Henze), der aus München für unbestimmte Zeit angereist ist. Zu ihrer Unterstützung holt sich Charlotte Ottilie (Cynthia Beatt), mit der sie vor Jahren durch die halbe Welt gereist ist, aus London nach Berlin. Allmählich arrangiert man sich, neue Bindungen kristallisieren sich heraus: Otto fährt mit Charlotte nach Portugal, Eduard und Ottilie gewinnen sich lieb und bleiben zusammen.
MADE IN GERMANY UND USA, das war irgendwo die Geschichte von PIERROT LE FOU in Schwarz-weiß und Originalton; reden, reflektieren, aus der Liebe Zeichen machen (wie Ferdinand bei Godard) und zu lieben vergessen. TAGEBUCH, seinem Vorgänger in der szenischen und thematischen Anlage verwandt, wenngleich ausgefeilter (intensivere Probenarbeit, größerer Materialverbrauch) und disziplinierter, führt deutlicher noch die Umkehrung des traditionellen Sprach-Bild-Verhältnisses vor Ohren und Augen. Sprache dient nicht mehr eigentlich der sinnstiftenden Kommunikation, sie ist ihres Zeichencharakters entbunden und ähnelt den murmelnden Drehgeräuschen tibetanischer Gebetsmühlen. Wie die Musik im Film (auf die Thome konsequenterweise verzichten kann) werden die improvisierten, endlosen Tiraden zu rein emotionalen Gleitschienen; die ablösbaren "Inhalte" liegen jetzt in den Blicken und zwischen ihnen. Der Gestus besiegt das Wort, den Wortmüll der fortwährend abgeladen wird; Sätze wie Schutt aus Sinn, der verbraucht ist: second hand-Formeln wie die Kleider, Möbel und Gebrauchsgegenstände, die vom Berliner Sperrmüll geholt werden. Ein Trümmerfilm ist TAGEBUCH. Reizvokabeln, die noch vor einem Jahr Engagement geweckt hätten oder die Sehnsucht danach, lassen heute nur noch Müdigkeit zurück: Szene 1975. Die Partnerschaft scheitert nicht an materiellen Widrigkeiten, an Betrug und Eifersucht ... es gibt letztlich keine wortsprachlich analysierbaren Motive, aus denen sich intentionales, zielgerichtetes Handeln ableiten ließe, das politisch wäre in einem Sinn, den Thome längst hinter sich gelassen zu haben scheint. Dennoch läßt TAGEBUCH nicht Ratlosigkeit zurück; er tastet auf der dünnen Eisschicht, die die Kälte von MADE IN GERMANY ... zurückließ, durchaus heiter und gelassen einem wärmeren Land entgegen. Einen Berlin-Atlas will Eduard herstellen, in dem jede Straße durch ein Bild von ihr bezeichnet ist. Welch bescheidenes Unterfangen, gemessen an der Geographie unserer Gefühle, der Thome mit jedem Film eine neue Karte hinzufügt.
Andreas Meyer aus: medium 8/1975
Thome zeigt ein unvertrautes Berlin, öde, häßlich, winterlich kalt. Überall die Trümmer einer vergangenen Welt, düstere Ruinen und weite Plätze dazwischen, die der Besiedelung harren. Schlote, Höfe, Fassaden und in der Ferne die genormten, uniformen Neubaukolonien. Wälle mit Fenstern. Dem Einreißen der Wände in der neuen Wohnung entsprechen die Spaziergänge entlang der Mauer. Thomes Menschen bewegen sich im Grenzland, messen es aus, schreiten es ab, um sich selber neu zu definieren. So ist "TAGEBUCH" auch ein Film über Berlin - ein Berlin, das einheitlich ist nur in den Wolken, über die Ottilie einen Film machen will. Überhaupt ist das Photographieren eine wichtige Tätigkeit in "TAGEBUCH": Dinge festhalten, nichts wegwerfen, bevor man es nicht auf seine Funktionsfähigkeit, Weiterverwendbarkeit überprüft hat. Thome rechnet mit den Beständen. Das macht seinen Film konservativ im Wortsinn. Undenkbar wären in seinen früheren Schwabing-Filmen etwa die drei wunderschönen extrem langen Panoramaschwenks gewesen. Hier stehen sie an Scheidewegen der Entwicklung, vermitteln Ruhe, gelassene Übersicht. Im Blick von oben scheinen sich alle Widersprüche in Wohlgefallen aufzulösen. So springt und tastet sich "TAGEBUCH" voran, wie sein Protagonist. Ohne Programm, planlos und doch auf unerklärliche Weise einem Ziel entgegen, das wiederum nur ein Haltepunkt sein wird. Heiter fast, voller Wärme und Humor ist dieser Film wie ein Hoffnungsschimmer. Im Maße der Rückkehr von Vitalität schwindet Sprache. Wenn sich Ottilie und Eduard am Ende immer näher kommen, erzählen die Augenblicke, die Stille, die zärtlichen Gesten und Handlungen von ihrer Zuneigung."
Andreas Meyer, Süddeutsche Zeitung, 3. November 1975
Thome hat mit "TAGEBUCH" einen sehr spröden, aber präzisen Film über das Zusammenleben und Auseinandergehen, das Verstehen und Aneinandervorbeireden einer jungen Generation auf der Suche nach sich selbst, frei gestaltet nach Goethes "Wahlverwandtschaften", geschaffen. Ein Film in der Art von "LA MAMAN ET LA PUTAIN" ist es, nur viel direkter, konkreter, weniger literarisch in den Dialogen und hier liegt der hauptsächliche Gegensatz zu Eustaches Film viel hoffnungsvoller am Ende."
Urs Jaeggi, Zoom-Filmberater, Zürich
Die Darsteller sind nicht Vollzugsbeamte eines Regisseurwillens, vielmehr dient die vorgegebene Rahmengeschichte zur Artikulation auch ihrer eigenen aktuellen Probleme. Thome spielt diesmal selbst eine Hauptrolle (neben Angelika Kettelhack, Cynthia Beatt und Holger Henze). Vor allem dadurch ist ihm gegenüber seinem letzten Film ein wesentlicher Fortschritt gelungen. Mit verblüffender Offenheit läßt er das Porträt des schlacksigen, aber selbstmitleidigen Mannes entstehen, der mit der erwachenden Selbstständigkeit der Frau nicht zurechtkommt und sie zu unterlaufen oder gar zu unterdrücken versucht. Der Film ist ein zumeist dichtes Bild einer jungen Generation von linksliberalen bürgerlichen Randfiguren. Thomes Improvisationsstil fördert mehr an aktuellen Nöten zutage, als fast alle ausgefeilten Drehbücher. Ich finde ihn als "Ehefilm" wichtiger als Bergmanns spekulative "Szenen einer Ehe".
Blatt, München