Iris Berben und Eddie Constantine
Zwei oder drei Dinge sollte jeder wissen, bevor er SUPERGIRL das
erste Mal sieht: Daß Iris Berben, die behauptet, von einem anderen
Planeten zu kommen, den ganzen Film über Comics liest, mit Vorliebe
'MARVEL TALES - Spider Man'. Daß der Film um Adaptionen von Fiktivem
kreist: Nicht nur die Figuren erzählen ihren Freunden Geschichten,
die ihr Leben verklären. Auch der erfolgreiche Roman des Helden
soll verändert werden - zu einem Film. Und wissen sollte jeder,
daß Marquard Bohm die Berben warnt, als sie sich allzu sehr mit
Filmleuten einzulassen scheint: "Das sind Vampire. Die saugen
einen doch nur aus."
Zwei oder drei andere Dinge, die jeder vom Kino weiß, sind wichtig,
um zu verstehen, daß es in SUPERGIRL nur darum geht, was allein
ein Film auszudrücken vermag. Wie jemand blickt. Wie jemand geht.
Wie jemand Whisky trinkt. Wie klar der Starnberger See ist. Wie
amerikanische Autos gleiten. Wie jemand den Revolver hält. Wie
jemand sich auszieht. Und wie jemand im Bett liegt und sich räkelt.
Daraus bildet sich der Stoff, der die Faszination von Thomes Filmen
ausmacht. Frauen und Männer und Dinge ziehen einen in den Bann,
weil sie auf eine unverwechselbare Art mit ihren Körpern Geschichten
erzählen, die literarisch nicht faßbar sind. Steine im Wasser
kann jeder benennen, beschreiben: Präsentieren in ihrer Schönheit,
in ihren Geheimnissen kann sie nur der Film. Thome weiß das gut;
er weiß, was physische Präsenz ist: von Gegenständen, Darstellern,
Moden, Interieurs. Das, was eigentlich nicht der Rede, also: des
Bildes, der Szene wert ist, steht plötzlich im Mittelpunkt. Und
dabei entpuppt es sich als abenteuerliche, als aufregende Attraktion.
Beispielsweise das Gehen. Ein Fuß wird vor den anderen gesetzt.
Doch der Rhythmus und der Stil dieser Bewegung offenbart zugleich
den inneren Zustand. Der Körper beginnt zu reden - und das nicht
nur mit Gesten, sondern auch mit Haltungen, mit Gewohnheiten,
die Verfassungen und Stimmungen anzeigen. Gehen ist filmisches
Abenteuer.
SUPERGIRL beginnt mit dem starren Blick auf ein weites Feld. Gräser,
Sträucher, Bäume - und der Wind, der die Blätter, die Halme, die
Äste zum Schwingen bringt. Eine Frau nähert sich: Iris Berben.
Sie trägt einen orangefarbenen Overall. Sie geht mechanisch, so,
als sei sie in Trance. Ihr Körper wirkt steif, ungelenk. Ihre
Arme sind starr nach unten und leicht nach hinten gerichtet. Es
scheint so, als vollziehe sie die Bewegungen, als übe sie gerade:
in einem neuen Körper. Eine Fremde in sich selbst: Das ist die
Rede ihres Ganges. "Die ausdruckvollste, eine spezifische Geste
des Films" nennt Béla Balázs den Gang der Protagonisten. "Der
Gang der Helden kommt einem Geständnis gleich und fast immer einem
Monolog, der die Art und Weise, wie er auf das soeben Gesehene
reagiert, vollkommener und aufrichtiger ausdrückt, als hätten
wir ihn selbst auf dem Schauplatz der Tat gezeigt."
Gehen ist filmisches Abenteuer. Thome variiert das in SUPERGIRL
öfters. In der berührendsten Szene des Films geht Marquard Bohm
über eine Pariser Straße, um sich ein paar Zeitungen zu kaufen.
Die Berben hatte ihm kurz zuvor enthüllt, daß sie von einem anderen
Planeten komme, und er hatte mir geantwortet, sie habe wohl zu
viele Comics gelesen. An einer Ecke kauft er "Le Figaro, "L'Aurore
und "Le Monde. Eine Zeitung nimmt er in die Hand, die anderen
klemmt er unter den Arm. Er geht weiter die Straße entlang. Dabei
versucht er, die Zeitungen zu lesen, eine nach der anderen. Er
kämpft gegen den Wind, der ihm entgegenbläst, und gegen das Papier,
das in seinen Händen zusammenknüllt. Sein Gang verändert sich:
Anfangs ist er forsch, dann zögernder, schließlich wird er zu
einen Spiel, daß Ausdruck und Variation in einem ist. Das ist
nie Literatur. Vielleicht ist es Tanz, vielleicht Musik, vielleicht
Poesie: In jedem Fall ist es Kino. "Es gibt einen Gang, der keine
zielbewußte Bewegung ausdrückt," schreibt Béla Balázs. "Wir erleben
ihn dann, wenn der Mensch nicht irgendwohin geht, also nicht einem
bestimmten Ziel zustrebt. Dann sind seine Füße nicht Werkzeuge
der Fortbewegung, sondern unbewußte Mittel des Ausdrucks, die
einen bestimmten Zustand verraten."
SUPERGIRL verbirgt in keiner Szene, daß es um Kino geht, Als Iris
Berben das Feld überquert hat, kommt sie auf eine Straße. Sie
hält ein Auto an, einen Sportwagen, in dem Nikolaus Dutsch sitzt.
Sie fragt, wohin er fahre. Und er antwortet: "Wohin Sie wollen.
Aber zunächst nach München." Im Kino sind die Autos schöner, die
Figuren kommen schneller zur Sache, und die Dialoge sind pointierter.
Die Berben geht mit dem Mann nach Hause, schläft bei ihm und begleitet
ihn zu Freunden. So trifft sie Marquard Bohm. Der verläßt noch
in derselben Nacht seine Frau und reist mit ihr in die Sonne:
von München nach Madrid. Auf dieser Reise verweigert sie jede
Auskunft über sich, Bohm sagt dazu: "Ich liebe geheimnisvolle
Frauen. Sie sind mein Untergang."
Die Reise: Fahrten im grauen Chevrolet; eine Fähre über den Bodensee;
Hotelzimmer; kurze Spaziergänge in fremden Städten: in Zürich,
in Sète. Als sie das Mittelmeer erreichen, geht sie einfach ins
Wasser, wie sie ansonsten übers Land geht. Bohm bewahrt sie vor
der Gefahr. Sie ist ein wenig irritiert. Sie trägt dabei einen
schwarzen Hosenanzug und eine weiße Bluse, während er unter seinem
weißen Anzug ein dunkles Hemd trägt. Beide sind aufeinander eingestellt.
Sie kontrastieren einander.
SUPERGIRL ist einer jener seltenen Filme, die sich zeit nehmen
fürs Banale, für das scheinbar Unwichtige, Nebensächliche. Er
bringt Elemente ins Spiel, die nicht in erster Linie auf Verstehen,
auf 'Lesen' zielen, sondern auf Erleben und Erfahren, auf die
Ebenen, die unbewußt weiterwirken. Der Film provoziert Gedanken
und Gefühle, die das Sichtbare erweitern.
Beispielsweise die Farben: SUPERGIRL ist ein Film zwischen Weiß,
Rot und Schwarz. Weiß ist der Himmel über dem Feld, als Iris Berben
erstmals erscheint. Der Anzug, den Marquard Bohm den ganzen Film
über trägt, ist weiß. Und weiß ist auch der Umschlag seines erfolgreichen
Romans "Cynthia". Die Schrift auf diesem Umschlag ist rot. Das
Hotelzimmer in Zürich, in dem Bohm und die Berben schlafen, ist
weiß und rot. Rot sind die Filmtitel; rot ist das VW-Cabriolet,
mit dem Bohm einmal von seinem Haus am Starnberger See nach München
fährt; und rot ist das Blumenmuster von Bettdecke und Tapete in
Bohms Gästezimmer, in dem die Berben übernachtet. Variationen
von Rot sind viele Kleider der Berben - von orange über rostbraun
bis violett. Rot, kombiniert mit schwarz, ist das Wohnzimmer von
Nikolaus Dutsch - schwarz die Sitzmöbel, rot das Holz: der Tisch,
die Fensterrahmen. Schwarz ist nicht nur Berbens Hosenanzug am
Mittelmeer. Schwarz sind auch die Haare des Mannes, den sie als
Mitbewohner ihres Planeten vom System Alpha Centauri bezeichnet.
Und schwarz ist der Cadillac, mit dem der amerikanische Filmregisseur
seine Mädchen vom Flughafen abholen läßt und von dem die Berben
sich verfolgt fühlt.
Farben sind Farben, einerseits.
Andererseits tauchen Farben jedes filmische Geschehen in eine
noch andere Welt. Empfindungen werden sichtbar, die mit Worten
nicht auszudrücken sind. Balázs sagt, die Farben verleihen den
Filmbildern "Tiefe und Perspektive". In SUPERGIRL ist darüber
hinaus zu erfahren, wie sehr sie auch die Atmosphäre der Bilder
verändern. Die Atmosphäre und auch den Modus ihrer Rede. Die Farben
stimmen ein aufs Synthetische. Zugleich machen sie deutlich, daß
das Synthetische nur eine andere Form von Wirklichkeit ist: eine
gedachte, zusammengesetzte, eine imaginäre. SUPERGIRL führt vor,
wie fließend die Grenzen sind zwischen dem Wirklichen und dem
Phantastischen. Und besonders, wie in Kino beides immer ununterscheidbar
nebeneinander existiert.
Eine Frau, die von einem fremden Planeten kommt und sich verhält,
wie Frauen sich verhalten. Ein Schriftsteller, der ununterbrochen
trinkt, Whisky oder Wodka, und tausendseitige Romane schreibt.
Und ein Amerikaner in Madrid, der die Welt mit Filmen überzieht
und sein Leben wie ein Kinostück lebt."Hey Mädchen", sagt er zur
Berben, "aus Dir mache ich einen Star". Was ist da wirklich? Und
was phantastisch? Wie in allen schönen Kinofilmen ist auch in
SUPERGIRL die Frage danach, was wirklich ist und was nicht, was
wahrscheinlich ist und was nicht, eher unwichtig. Die Geschichte
und die Einzelheiten, die sie formen und schmücken, müssen nur
plausibel sein: in sich und für sich. "Kennst Du Snoopy?" fragt
Iris Berben einmal den Bohm. Und er antwortet: "Ich kenne nur
Mickey Mouse." Ihr Kommentar dazu: "Snoopy ist wie Du: Er glaubt
an seine Träume."
SUPERGIRL: Ein Film wie ein Traum. Am Ende, als Bohm vollkommen
betrunken nach Hause kommt, die Berben in allen Zimmern sucht,
aber nirgendwo findet, steht er lange am Fenster. Er blickt in
den Himmel; schließlich übernimmt die Kamera seinen Blick: Wolken
sieht man. und einen Teil des Himmels. Sonst nichts.
Norbert Grob in Kinemathek Nr. 66
Marquard Bohm, Iris Berben und Jess Hahn
Darsteller:
Supergirl=Francesca Farnese | Iris Berben |
Evers | Marquard Bohm |
Charly Seibert | Niklaus Dutsch |
Elsa Morandi | Karina Ehret/Karin Thome |
Polonsky | Jess Hahn |
Mann vor dem Schaufenster | Rainer Werner Fassbinder |
Mann vom anderen Stern | Affonso Beato |
Barmann | Hans Weth |
Mädchen an der Bar | Monique Marschall |
Assistent von Polonsky | Carlos Bustamante |
Jackie | Isolde Jovine |
amerikanischer Regisseur | Klaus Lemke |
Detektiv Phil | Peter Moland |
Senator Quimby | Billy Kearns |
Partygast bei Polonsky | Eddie Constantine |
Stab:
Produktion und Regie | Rudolf Thome |
Drehbuch | Max Zihlmann |
Kamera | Affonso Beato |
Kamera-Assistenz | Carlos Bustamante |
Regieassistent | Li Bonk |
Licht | Martin Schäfer |
Primärton | Hark Bohm |
Produktionsleitung | Hans Weth |
Schnitt | Jane Sperr |
Musik | Mainhorse Airline/Patrick Moraz |
Herstellungsleitung | Karin Thome |
Mischung | Willi Schwadorf |
Standfoto | Wolf Huber |
Drehzeit: 7. Oktober - 22. November 1970
Drehorte: München, Starnberger See, Bodensee, Zürich, Sète, Madrid,
Paris
Länge: 2727 m - 100 min - Format: 35 mm
Produktion: Rudolf Thome Filmproduktion
Uraufführung: 14. Mai 1971, Leopold (München)
Festivals: keine
TV-Ausstrahlung:
16.3.1971 ARD
3. 4. 1972 ARD