Supergirl (1970)

Iris Berben und Eddie Constantine

 

Zwei oder drei Dinge sollte jeder wissen, bevor er SUPERGIRL das erste Mal sieht: Daß Iris Berben, die behauptet, von einem anderen Planeten zu kommen, den ganzen Film über Comics liest, mit Vorliebe 'MARVEL TALES - Spider Man'. Daß der Film um Adaptionen von Fiktivem kreist: Nicht nur die Figuren erzählen ihren Freunden Geschichten, die ihr Leben verklären. Auch der erfolgreiche Roman des Helden soll verändert werden - zu einem Film. Und wissen sollte jeder, daß Marquard Bohm die Berben warnt, als sie sich allzu sehr mit Filmleuten einzulassen scheint: "Das sind Vampire. Die saugen einen doch nur aus."

Zwei oder drei andere Dinge, die jeder vom Kino weiß, sind wichtig, um zu verstehen, daß es in SUPERGIRL nur darum geht, was allein ein Film auszudrücken vermag. Wie jemand blickt. Wie jemand geht. Wie jemand Whisky trinkt. Wie klar der Starnberger See ist. Wie amerikanische Autos gleiten. Wie jemand den Revolver hält. Wie jemand sich auszieht. Und wie jemand im Bett liegt und sich räkelt. Daraus bildet sich der Stoff, der die Faszination von Thomes Filmen ausmacht. Frauen und Männer und Dinge ziehen einen in den Bann, weil sie auf eine unverwechselbare Art mit ihren Körpern Geschichten erzählen, die literarisch nicht faßbar sind. Steine im Wasser kann jeder benennen, beschreiben: Präsentieren in ihrer Schönheit, in ihren Geheimnissen kann sie nur der Film. Thome weiß das gut; er weiß, was physische Präsenz ist: von Gegenständen, Darstellern, Moden, Interieurs. Das, was eigentlich nicht der Rede, also: des Bildes, der Szene wert ist, steht plötzlich im Mittelpunkt. Und dabei entpuppt es sich als abenteuerliche, als aufregende Attraktion.

Beispielsweise das Gehen. Ein Fuß wird vor den anderen gesetzt. Doch der Rhythmus und der Stil dieser Bewegung offenbart zugleich den inneren Zustand. Der Körper beginnt zu reden - und das nicht nur mit Gesten, sondern auch mit Haltungen, mit Gewohnheiten, die Verfassungen und Stimmungen anzeigen. Gehen ist filmisches Abenteuer.

SUPERGIRL beginnt mit dem starren Blick auf ein weites Feld. Gräser, Sträucher, Bäume - und der Wind, der die Blätter, die Halme, die Äste zum Schwingen bringt. Eine Frau nähert sich: Iris Berben. Sie trägt einen orangefarbenen Overall. Sie geht mechanisch, so, als sei sie in Trance. Ihr Körper wirkt steif, ungelenk. Ihre Arme sind starr nach unten und leicht nach hinten gerichtet. Es scheint so, als vollziehe sie die Bewegungen, als übe sie gerade: in einem neuen Körper. Eine Fremde in sich selbst: Das ist die Rede ihres Ganges. "Die ausdruckvollste, eine spezifische Geste des Films" nennt Béla Balázs den Gang der Protagonisten. "Der Gang der Helden kommt einem Geständnis gleich und fast immer einem Monolog, der die Art und Weise, wie er auf das soeben Gesehene reagiert, vollkommener und aufrichtiger ausdrückt, als hätten wir ihn selbst auf dem Schauplatz der Tat gezeigt."

Gehen ist filmisches Abenteuer. Thome variiert das in SUPERGIRL öfters. In der berührendsten Szene des Films geht Marquard Bohm über eine Pariser Straße, um sich ein paar Zeitungen zu kaufen. Die Berben hatte ihm kurz zuvor enthüllt, daß sie von einem anderen Planeten komme, und er hatte mir geantwortet, sie habe wohl zu viele Comics gelesen. An einer Ecke kauft er "Le Figaro”, "L'Aurore” und "Le Monde”. Eine Zeitung nimmt er in die Hand, die anderen klemmt er unter den Arm. Er geht weiter die Straße entlang. Dabei versucht er, die Zeitungen zu lesen, eine nach der anderen. Er kämpft gegen den Wind, der ihm entgegenbläst, und gegen das Papier, das in seinen Händen zusammenknüllt. Sein Gang verändert sich: Anfangs ist er forsch, dann zögernder, schließlich wird er zu einen Spiel, daß Ausdruck und Variation in einem ist. Das ist nie Literatur. Vielleicht ist es Tanz, vielleicht Musik, vielleicht Poesie: In jedem Fall ist es Kino. "Es gibt einen Gang, der keine zielbewußte Bewegung ausdrückt," schreibt Béla Balázs. "Wir erleben ihn dann, wenn der Mensch nicht irgendwohin geht, also nicht einem bestimmten Ziel zustrebt. Dann sind seine Füße nicht Werkzeuge der Fortbewegung, sondern unbewußte Mittel des Ausdrucks, die einen bestimmten Zustand verraten."

SUPERGIRL verbirgt in keiner Szene, daß es um Kino geht, Als Iris Berben das Feld überquert hat, kommt sie auf eine Straße. Sie hält ein Auto an, einen Sportwagen, in dem Nikolaus Dutsch sitzt. Sie fragt, wohin er fahre. Und er antwortet: "Wohin Sie wollen. Aber zunächst nach München." Im Kino sind die Autos schöner, die Figuren kommen schneller zur Sache, und die Dialoge sind pointierter.

Die Berben geht mit dem Mann nach Hause, schläft bei ihm und begleitet ihn zu Freunden. So trifft sie Marquard Bohm. Der verläßt noch in derselben Nacht seine Frau und reist mit ihr in die Sonne: von München nach Madrid. Auf dieser Reise verweigert sie jede Auskunft über sich, Bohm sagt dazu: "Ich liebe geheimnisvolle Frauen. Sie sind mein Untergang."

Die Reise: Fahrten im grauen Chevrolet; eine Fähre über den Bodensee; Hotelzimmer; kurze Spaziergänge in fremden Städten: in Zürich, in Sète. Als sie das Mittelmeer erreichen, geht sie einfach ins Wasser, wie sie ansonsten übers Land geht. Bohm bewahrt sie vor der Gefahr. Sie ist ein wenig irritiert. Sie trägt dabei einen schwarzen Hosenanzug und eine weiße Bluse, während er unter seinem weißen Anzug ein dunkles Hemd trägt. Beide sind aufeinander eingestellt. Sie kontrastieren einander.

SUPERGIRL ist einer jener seltenen Filme, die sich zeit nehmen fürs Banale, für das scheinbar Unwichtige, Nebensächliche. Er bringt Elemente ins Spiel, die nicht in erster Linie auf Verstehen, auf 'Lesen' zielen, sondern auf Erleben und Erfahren, auf die Ebenen, die unbewußt weiterwirken. Der Film provoziert Gedanken und Gefühle, die das Sichtbare erweitern.

Beispielsweise die Farben: SUPERGIRL ist ein Film zwischen Weiß, Rot und Schwarz. Weiß ist der Himmel über dem Feld, als Iris Berben erstmals erscheint. Der Anzug, den Marquard Bohm den ganzen Film über trägt, ist weiß. Und weiß ist auch der Umschlag seines erfolgreichen Romans "Cynthia". Die Schrift auf diesem Umschlag ist rot. Das Hotelzimmer in Zürich, in dem Bohm und die Berben schlafen, ist weiß und rot. Rot sind die Filmtitel; rot ist das VW-Cabriolet, mit dem Bohm einmal von seinem Haus am Starnberger See nach München fährt; und rot ist das Blumenmuster von Bettdecke und Tapete in Bohms Gästezimmer, in dem die Berben übernachtet. Variationen von Rot sind viele Kleider der Berben - von orange über rostbraun bis violett. Rot, kombiniert mit schwarz, ist das Wohnzimmer von Nikolaus Dutsch - schwarz die Sitzmöbel, rot das Holz: der Tisch, die Fensterrahmen. Schwarz ist nicht nur Berbens Hosenanzug am Mittelmeer. Schwarz sind auch die Haare des Mannes, den sie als Mitbewohner ihres Planeten vom System Alpha Centauri bezeichnet. Und schwarz ist der Cadillac, mit dem der amerikanische Filmregisseur seine Mädchen vom Flughafen abholen läßt und von dem die Berben sich verfolgt fühlt.

Farben sind Farben, einerseits.

Andererseits tauchen Farben jedes filmische Geschehen in eine noch andere Welt. Empfindungen werden sichtbar, die mit Worten nicht auszudrücken sind. Balázs sagt, die Farben verleihen den Filmbildern "Tiefe und Perspektive". In SUPERGIRL ist darüber hinaus zu erfahren, wie sehr sie auch die Atmosphäre der Bilder verändern. Die Atmosphäre und auch den Modus ihrer Rede. Die Farben stimmen ein aufs Synthetische. Zugleich machen sie deutlich, daß das Synthetische nur eine andere Form von Wirklichkeit ist: eine gedachte, zusammengesetzte, eine imaginäre. SUPERGIRL führt vor, wie fließend die Grenzen sind zwischen dem Wirklichen und dem Phantastischen. Und besonders, wie in Kino beides immer ununterscheidbar nebeneinander existiert.

Eine Frau, die von einem fremden Planeten kommt und sich verhält, wie Frauen sich verhalten. Ein Schriftsteller, der ununterbrochen trinkt, Whisky oder Wodka, und tausendseitige Romane schreibt. Und ein Amerikaner in Madrid, der die Welt mit Filmen überzieht und sein Leben wie ein Kinostück lebt."Hey Mädchen", sagt er zur Berben, "aus Dir mache ich einen Star". Was ist da wirklich? Und was phantastisch? Wie in allen schönen Kinofilmen ist auch in SUPERGIRL die Frage danach, was wirklich ist und was nicht, was wahrscheinlich ist und was nicht, eher unwichtig. Die Geschichte und die Einzelheiten, die sie formen und schmücken, müssen nur plausibel sein: in sich und für sich. "Kennst Du Snoopy?" fragt Iris Berben einmal den Bohm. Und er antwortet: "Ich kenne nur Mickey Mouse." Ihr Kommentar dazu: "Snoopy ist wie Du: Er glaubt an seine Träume."

SUPERGIRL: Ein Film wie ein Traum. Am Ende, als Bohm vollkommen betrunken nach Hause kommt, die Berben in allen Zimmern sucht, aber nirgendwo findet, steht er lange am Fenster. Er blickt in den Himmel; schließlich übernimmt die Kamera seinen Blick: Wolken sieht man. und einen Teil des Himmels. Sonst nichts.

Norbert Grob in Kinemathek Nr. 66

Marquard Bohm, Iris Berben und Jess Hahn

Darsteller:

Supergirl=Francesca Farnese Iris Berben
Evers Marquard Bohm
Charly Seibert Niklaus Dutsch
Elsa Morandi Karina Ehret/Karin Thome
Polonsky Jess Hahn
Mann vor dem Schaufenster Rainer Werner Fassbinder
Mann vom anderen Stern Affonso Beato
Barmann Hans Weth
Mädchen an der Bar Monique Marschall
Assistent von Polonsky Carlos Bustamante
Jackie Isolde Jovine
amerikanischer Regisseur Klaus Lemke
Detektiv Phil Peter Moland
Senator Quimby Billy Kearns
Partygast bei Polonsky Eddie Constantine

Stab:

Produktion und Regie Rudolf Thome
Drehbuch Max Zihlmann
Kamera Affonso Beato
Kamera-Assistenz Carlos Bustamante
Regieassistent Li Bonk
Licht Martin Schäfer
Primärton Hark Bohm
Produktionsleitung Hans Weth
Schnitt Jane Sperr
Musik Mainhorse Airline/Patrick Moraz
Herstellungsleitung Karin Thome
Mischung Willi Schwadorf
Standfoto Wolf Huber

Drehzeit: 7. Oktober - 22. November 1970
Drehorte: München, Starnberger See, Bodensee, Zürich, Sète, Madrid, Paris

Länge: 2727 m - 100 min - Format: 35 mm

Produktion: Rudolf Thome Filmproduktion

Uraufführung: 14. Mai 1971, Leopold (München)

Festivals: keine

TV-Ausstrahlung:
16.3.1971 ARD
3. 4. 1972 ARD