Das Mikroskop (1987)

 

 

Witzig und böse

Der Film ist eine Alltagsgroteske par excellence: Man nimmt daran teil, daß das Gewohnte zusammenbricht. Daß das Vertraute fremd wird und das Natürliche monströs. Tennisschuhe fliegen auf die Straße. Kletterpartien gehen schief. Worte passen nicht mehr zum Reden. Flugzeuge stürzen ab. Sogar das einfache Erfrischungsbad wird zum Desaster. Die Welt fällt auseinander, "Ohne daß mehr ein Horizont bliebe, in dem auch das Zerstörerische seinen Sinn gewänne.”

Ein Mann und eine Frau und ihre großen, kleinen Geschichten; die Liebe als Traum und Alptraum: das ist Rudolf Thomes Thema, von Anfang an. Nun will er endlich das Äußerste angehen; eine Trilogie über die "Formen der Liebe" (nach dem "Mikroskop” folgt demnächst als Teil II: "Der Philosoph"). Ihn interessiert, was zwei Menschen wagen, wenn sie sich ineinander verlieren. Wenn ihre Liebe zum Gefühl wird, das die Erde zum Himmel macht.

Thomes Geschichte beginnt so vertraut wie fremd - mit einem Mann (Vladimir Weigl) und einer Frau (Adriana Altaras) und einer langen Autofahrt in ruhigen, neugierigen Bildern. Man weiß, wie es geht, wenn zwei sich trennen. Kein Wort, aber viele Gesten. Der erste Stopp räumt jeden Zweifel aus. Wie die Koffer und Taschen, die Schuhe und Paddel ausgepackt werden, das klärt die Lage. Danach: lange Telephongespräche. jetzt ist es wirklich aus. "Aber was ist denn dieses Mal der Grund?"

Bis an den Rand des Lächerlichen treibt Thome manchmal seine Figuren. Franz etwa, wenn er ungerührt seine stoische Selbstgewißheit ausstellt; oder wenn er mit einer Einladung für eine neue Frau prahlt, am Sonntag, da koche der Chef persönlich. Oder Maria, wenn sie voller Trotz erklärt, sie habe ein Recht darauf, jederzeit zum Essen zu kommen, auch an Stelle seiner neuen Geliebten. In diesen Momenten gelingt Thome das Unglaubliche: daß in das Lächerliche das Rührende sich mischt.

Die männlichen Schrullen, oft erscheinen sie wie ausgewachsene Idiotien. Franz zum Beispiel geht den Dingen gerne auf den Grund: Bevor er eigene Erfahrungen wagt, kauft er erst mal ein Buch. Er will alles schon kennen, bevor er es kennenlernt. Als er eines Tages sein Interesse für Fische entdeckt, baut er seine Wohnung sofort mit Aquarien voll, als wolle er sich mit diesem fremden Leben retten vor dem Verfall. Frage: Was denn diese Männchen machten, während die Weibchen brüteten? Antwort: Die sähen sich um, sie seien polygam. Nach einem kurzen, regungslosen Staunen: "Die nehm' ich!"

Von einer neuen Frau, Tina (Malgoscha Gebel), erhofft Franz schließlich Neues. Doch zuvor steht seine alte Liebe wieder vor der Tür. Sie beweist ihm das Naheliegende: Wie altes Begehren wieder neu wird, wenn es Überraschendes bietet - oder fordert.

Bei Thome regeln immer die Frauen die entscheidenden Dinge. Einmal nimmt die eine Franz die Brille von der Nase, damit er besser sehen kann. Ein anderes Mal umgeht die andere seine neuen Pläne, um das gemeinsame Glück doch noch zu erstreiten.

Während die Männer sich unentwegt zieren, haben die Frauen sich längst entschieden. Wenn sie darüber reden, miteinander, wird es komisch. Wenn sie einfach handeln, miteinander, nebeneinander, gegeneinander, wird es grotesk. Noch während man darüber lacht, aus vollem Halse, merkt man plötzlich, etwas entsetzt, wie sehr man über sich selber lacht. Wie ertappt fühlt man sich als Zuschauer, wenn die Finessen nur die dummen Sprüche sind, die man selber gebraucht.

Als Franz schließlich andere Fragen hat, über Frauen und Fische hinaus, besorgt er sich ein Mikroskop. Vor der Liebe und ihren Geheimnissen entdeckt er so die Existenz der Einzeller. Das enthüllt ihm endlich die Lust am wilden Treiben - und bringt ihn zurück zu den Frauen.

"Eine mächtige Waffe, um die Menschen zu veranlassen, in wachem Zustand zu träumen", nannte jean Cocteau das Kino einmal. Er dachte dabei an "jene kollektive Hypnose . . ., durch die auch die indischen Fakire wirken." Thomes Filme besitzen diese magische Wirkung, hervorgerufen durch eine wundersame Mischung aus Banalem und Wahrem, Alltäglichem und Schönem, diese Kino-Poesie, "mit der Tinte des Lichts artikuliert". Das Licht, vor dem Thomes Protagonisten handeln, spricht auch von der momentanen Stimmung hierzulande, von der Atmosphäre, die das Verhalten der einzelnen zueinander prägt und formt.

Stärker als in seinen letzten, sehr viel teureren Filmen hat Thome sich hier wieder auf Improvisationen eingelassen. Vor den ersten Proben gab es noch keinerlei Dialog. Diese Arbeitsweise verstärkt, worauf Thomes Kino seit je seine Akzente legte: auf Bilder und Bilderfolgen, die sich nicht abschotten gegen das Zufällige, gegen den frischen Wind, den keine Geschichte und keine Dramaturgie mehr zu ersticken vermag.

"Das Mikroskop" ist auch ein Film über Berlin und die neuen Berliner. Was einst so unkonventionell sich anließ, ein neues Leben, ein neues Denken, ein neuer Chic, hat heute längst seine spießigen Nebenwirkungen. Daß Thome so resolut wie ausgelassen darauf hinweist, macht das ganze so authentisch. So witzig wie bösartig. Vielleicht aber muß man auch diese Stadt kennen, für einige Zeit hier gelebt haben, um den ganzen Hintersinn dieses Films zu spüren.

"Wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich.”

Ein kurzer Nachtrag, aus aktuellem Anlaß. Rudolf Thome hat wiederholt erklärt, wie wenig ihn seine Bilder interessierten; dafür sei Martin Schäfer zuständig, mit dem er seit 1970, seit "Supergirl", zusammenarbeite und mit dem er sich, ohne daß sie darüber reden müßten, auf eine fast instinktive Art verstehe. Thome und Schäfer sind beide fasziniert von den offenen Momenten der filmischen Arbeit, von der "Bereitschaft, auf etwas Neues, Überraschendes einzugehen", wie Schäfer es einmal formulierte, "eben auch in dem Augenblick, wenn man sich auf eine Szene vorbereitet hat, die sich dann aber doch ganz anders entwickelt, als es vorgesehen war."

Oft gelang ihnen so etwas Wunderbares. Selbst dort, wo ihre Bilder nur einfache Beobachtungen wiedergeben, bleiben sie von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Eine der schönsten Liebesgeschichten und einige der berührendsten Landschaftsaufnahmen des Neuen Deutschen Films sind das Resultat. Kein Blick, der liebevoller auf den Geliebten fiele als in "Berlin Chamissoplatz". Kein Grün, das stärker leuchtete als das Gras der FlußlandSchaft in "Tarot".

Letzte Woche ist Martin Schäfer, gerade 44 Jahre alt, einem Herzversagen erlegen. Für das Deutsche Kino ist er nicht zu ersetzen. Für Thomes Filme sowieso nicht.

Norbert Grob in Die Zeit 22.4.88