Witzig und böse
Der Film ist eine Alltagsgroteske par excellence: Man nimmt daran
teil, daß das Gewohnte zusammenbricht. Daß das Vertraute fremd
wird und das Natürliche monströs. Tennisschuhe fliegen auf die
Straße. Kletterpartien gehen schief. Worte passen nicht mehr zum
Reden. Flugzeuge stürzen ab. Sogar das einfache Erfrischungsbad
wird zum Desaster. Die Welt fällt auseinander, "Ohne daß mehr
ein Horizont bliebe, in dem auch das Zerstörerische seinen Sinn
gewänne.
Ein Mann und eine Frau und ihre großen, kleinen Geschichten; die
Liebe als Traum und Alptraum: das ist Rudolf Thomes Thema, von
Anfang an. Nun will er endlich das Äußerste angehen; eine Trilogie
über die "Formen der Liebe" (nach dem "Mikroskop folgt demnächst
als Teil II: "Der Philosoph"). Ihn interessiert, was zwei Menschen
wagen, wenn sie sich ineinander verlieren. Wenn ihre Liebe zum
Gefühl wird, das die Erde zum Himmel macht.
Thomes Geschichte beginnt so vertraut wie fremd - mit einem Mann
(Vladimir Weigl) und einer Frau (Adriana Altaras) und einer langen
Autofahrt in ruhigen, neugierigen Bildern. Man weiß, wie es geht,
wenn zwei sich trennen. Kein Wort, aber viele Gesten. Der erste
Stopp räumt jeden Zweifel aus. Wie die Koffer und Taschen, die
Schuhe und Paddel ausgepackt werden, das klärt die Lage. Danach:
lange Telephongespräche. jetzt ist es wirklich aus. "Aber was
ist denn dieses Mal der Grund?"
Bis an den Rand des Lächerlichen treibt Thome manchmal seine Figuren.
Franz etwa, wenn er ungerührt seine stoische Selbstgewißheit ausstellt;
oder wenn er mit einer Einladung für eine neue Frau prahlt, am
Sonntag, da koche der Chef persönlich. Oder Maria, wenn sie voller
Trotz erklärt, sie habe ein Recht darauf, jederzeit zum Essen
zu kommen, auch an Stelle seiner neuen Geliebten. In diesen Momenten
gelingt Thome das Unglaubliche: daß in das Lächerliche das Rührende
sich mischt.
Die männlichen Schrullen, oft erscheinen sie wie ausgewachsene
Idiotien. Franz zum Beispiel geht den Dingen gerne auf den Grund:
Bevor er eigene Erfahrungen wagt, kauft er erst mal ein Buch.
Er will alles schon kennen, bevor er es kennenlernt. Als er eines
Tages sein Interesse für Fische entdeckt, baut er seine Wohnung
sofort mit Aquarien voll, als wolle er sich mit diesem fremden
Leben retten vor dem Verfall. Frage: Was denn diese Männchen machten,
während die Weibchen brüteten? Antwort: Die sähen sich um, sie
seien polygam. Nach einem kurzen, regungslosen Staunen: "Die nehm'
ich!"
Von einer neuen Frau, Tina (Malgoscha Gebel), erhofft Franz schließlich
Neues. Doch zuvor steht seine alte Liebe wieder vor der Tür. Sie
beweist ihm das Naheliegende: Wie altes Begehren wieder neu wird,
wenn es Überraschendes bietet - oder fordert.
Bei Thome regeln immer die Frauen die entscheidenden Dinge. Einmal
nimmt die eine Franz die Brille von der Nase, damit er besser
sehen kann. Ein anderes Mal umgeht die andere seine neuen Pläne,
um das gemeinsame Glück doch noch zu erstreiten.
Während die Männer sich unentwegt zieren, haben die Frauen sich
längst entschieden. Wenn sie darüber reden, miteinander, wird
es komisch. Wenn sie einfach handeln, miteinander, nebeneinander,
gegeneinander, wird es grotesk. Noch während man darüber lacht,
aus vollem Halse, merkt man plötzlich, etwas entsetzt, wie sehr
man über sich selber lacht. Wie ertappt fühlt man sich als Zuschauer,
wenn die Finessen nur die dummen Sprüche sind, die man selber
gebraucht.
Als Franz schließlich andere Fragen hat, über Frauen und Fische
hinaus, besorgt er sich ein Mikroskop. Vor der Liebe und ihren
Geheimnissen entdeckt er so die Existenz der Einzeller. Das enthüllt
ihm endlich die Lust am wilden Treiben - und bringt ihn zurück
zu den Frauen.
"Eine mächtige Waffe, um die Menschen zu veranlassen, in wachem
Zustand zu träumen", nannte jean Cocteau das Kino einmal. Er dachte
dabei an "jene kollektive Hypnose . . ., durch die auch die indischen
Fakire wirken." Thomes Filme besitzen diese magische Wirkung,
hervorgerufen durch eine wundersame Mischung aus Banalem und Wahrem,
Alltäglichem und Schönem, diese Kino-Poesie, "mit der Tinte des
Lichts artikuliert". Das Licht, vor dem Thomes Protagonisten handeln,
spricht auch von der momentanen Stimmung hierzulande, von der
Atmosphäre, die das Verhalten der einzelnen zueinander prägt und
formt.
Stärker als in seinen letzten, sehr viel teureren Filmen hat Thome
sich hier wieder auf Improvisationen eingelassen. Vor den ersten
Proben gab es noch keinerlei Dialog. Diese Arbeitsweise verstärkt,
worauf Thomes Kino seit je seine Akzente legte: auf Bilder und
Bilderfolgen, die sich nicht abschotten gegen das Zufällige, gegen
den frischen Wind, den keine Geschichte und keine Dramaturgie
mehr zu ersticken vermag.
"Das Mikroskop" ist auch ein Film über Berlin und die neuen Berliner.
Was einst so unkonventionell sich anließ, ein neues Leben, ein
neues Denken, ein neuer Chic, hat heute längst seine spießigen
Nebenwirkungen. Daß Thome so resolut wie ausgelassen darauf hinweist,
macht das ganze so authentisch. So witzig wie bösartig. Vielleicht
aber muß man auch diese Stadt kennen, für einige Zeit hier gelebt
haben, um den ganzen Hintersinn dieses Films zu spüren.
"Wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch
in Dich.
Ein kurzer Nachtrag, aus aktuellem Anlaß. Rudolf Thome hat wiederholt
erklärt, wie wenig ihn seine Bilder interessierten; dafür sei
Martin Schäfer zuständig, mit dem er seit 1970, seit "Supergirl",
zusammenarbeite und mit dem er sich, ohne daß sie darüber reden
müßten, auf eine fast instinktive Art verstehe. Thome und Schäfer
sind beide fasziniert von den offenen Momenten der filmischen
Arbeit, von der "Bereitschaft, auf etwas Neues, Überraschendes
einzugehen", wie Schäfer es einmal formulierte, "eben auch in
dem Augenblick, wenn man sich auf eine Szene vorbereitet hat,
die sich dann aber doch ganz anders entwickelt, als es vorgesehen
war."
Oft gelang ihnen so etwas Wunderbares. Selbst dort, wo ihre Bilder
nur einfache Beobachtungen wiedergeben, bleiben sie von einer
geheimnisvollen Aura umgeben. Eine der schönsten Liebesgeschichten
und einige der berührendsten Landschaftsaufnahmen des Neuen Deutschen
Films sind das Resultat. Kein Blick, der liebevoller auf den Geliebten
fiele als in "Berlin Chamissoplatz". Kein Grün, das stärker leuchtete
als das Gras der FlußlandSchaft in "Tarot".
Letzte Woche ist Martin Schäfer, gerade 44 Jahre alt, einem Herzversagen
erlegen. Für das Deutsche Kino ist er nicht zu ersetzen. Für Thomes
Filme sowieso nicht.
Norbert Grob in Die Zeit 22.4.88