Eine Liebe in Deutschland
Die Radikalität der Gefühle
Wir haben versucht, die Welt als "die Gesellschaft" zu begreifen
(und das ist auch ganz richtig); aber wir sind, in dem wir diesen
Begriff zu leben versuchten, unter den Einfluß der Melancholie
geraten, welche der gesellschaftliche Prozeß, indem er "Gesellschaft"
als Allgemeines durchsetzt, bei ihren Trägern hervorbringt. Um
noch Leben zu empfinden, müssen wir uns träumerisch in die Bilder
auflösen, welche der technische Apparat des Kinos von der Welt
erzeugt, Bilder jenseits von Bedeutung, in deren Milieu auch die
Trümmer der Tradition aufhören mögen, uns schmerzlich daran zu
erinnern, daß sie Trümmer sind.
Michael Rutschky "Erfahrungshunger"
Damals, als die Mädchen noch kurze Röcke trugen und die Jungen
lange Haare, reichte die Kino-Sehnsucht bis nach Kalifornien.
In Schwabing hatten sie Hollywood entdeckt, um 1966, wie vor ihnen
die Franzosen. Für die kleinen Godards von der Leopoldstraße,
die Filmkritiken schrieben und ihre ersten Kurzfilme drehten,
bedeutete das Kino: ein Leben. Mit dieser Formel begrüßte Alf
Brustellin den ersten langen Film seines Freundes Rudolf Thome.
Der hieß DETEKTIVE und hatte eine so komplizierte Fabel, daß man
die Liebe des Regisseurs zu Howard Hawks, Humphrey Bogart und
THE BIG SLEEP leicht begreifen konnte. Es ging um Liebe und Verrat,
Geld und Tod. Die Kamera (CinemaScope, Schwarzweiß) führte einer
namens Niklaus Schilling. Eine der acht Hauptrollen spielte Chrissie
Mahlberg, von der man mehr hörte, als sie Uschi Obermeier geworden
war und mit der Kommune I umging.
Es schien sicher, daß aus Rudolf Thome, der 1962 als Student nach
München gekommen war und gleich begonnen hatte, Filmkritiken für
die "Süddeutsche Zeitung" zu schreiben, ein Großer werden würde.
Schon sein zweiter Film ROTE SONNE (1969), löste fast maßloses
Lob aus, und das von einem Autor, der später, als er Peter Handke
seinen Freund nennen durfte und selber eine beträchtliche Berühmtheit
erlangte, alle Kritiker-Superlative sehr ausdrücklich verachtete.
Wim Wenders schrieb über ROTE SONNE: "Dies ist der erste deutsche
SPIELfilm. Mit diesem Film beginnt tatsächlich ein neues Genre
ROTE SONNE ist ein Film, von dem man kaum glauben mag, daß er
in Deutschland gedreht worden ist. Und solche Dialoge hat man
in Kino bislang auch nur in Filmen von Howard Hawks gehört. Ein
richtiger SPIELfilm,..
ROTE SONNE, ein Film mit starken Farben, gedreht in München und
am Starnberger See, geschrieben von Max Zihlmann, handelt von
vier Mädchen, die ihre Liebhaber spätestens am fünften Tag der
Bekanntschaft töten. Uschi Obermeier, in die sich Thome während
der Dreharbeiten heftig verliebt hatte und deren lange Beine er
ausführlich vorkommen läßt, faßt aber ein starkes Gefühl für Marquard
Bohm (der in den drei ersten Thome-Filmen der Star ist). Am Ende
erschießen sie sich gegenseitig. Ein Liebestod, ein Kinotod.
Wim Wenders arbeitet heute in Hollywood. Rudolf Thome lebt in
Westberlin, Bezirk Kreuzberg, Fidicinstraße, dritter Hinterhof
links, Parterre. Von dort führt kein Weg nach Beverly Hills. Rudolf
Thome ist heute 41 Jahre alt. Er hat gerade seinen achten Spielfilm
gedreht: BERLIN CHAMISSOPLATZ. Er ist noch immer fasziniert von
radikalen Gefühlen, aber anders als damals in Schwabing. Ich wage
einen radikalen Satz: BERLIN CHAMISSOPLATZ ist das erste Meisterwerk
des deutschen Kinos der achtziger Jahre. Bei den Hofer Filmtagen
wurde BERLIN CHAMISSOPLATZ ausgebuht. Die Kritiken waren garstig
bis lauwarm. Einer schrieb von Thomes "möglicherweise schmalem
Talent. Sind denn die Leute blind?
Von Rudolf Thome hatte man eine Weile nicht mehr viel gehört.
Während die anderen Wunderkinder von Schwabing Karriere machten,
von Fassbinder bis Lemke (die beide in Thomes dritten Film SUPERGIRL
spielen), ging es mit ihm schnell und drastisch bergab. Den Zuschauern,
denen ein deutscher Hawks aufgeschwätzt worden war, kamen die
Kritiker-Hymnen bald aufregender vor als die Filme, denen sie
galten. Thomes Kino, das populär sein wollte, war kühl, berechnend,
synthetisch, bei aller Verliebtheit in die Mythen Hollywood s
doch so weit von ihnen entfernt wie die Gefährtin von Rainer Langhans
von Humphrey Bogarts Frau. Es waren schöne, seltsam leblose, fast
aufreizend artifizielle Spiele, für die Thome bald keine Partner
mehr fand. Nach dem vierten Spiel (FREMDE STADT, 1972), das in
einer finanziellen Katastrophe endete, verließ er München.
In Berlin schrieb Thome wieder Filmkritiken, diesmal für den "Tagesspiegel".
Produzenten fand er nicht mehr, aber er brauchte auch keine. Sein
fünfter Film, der zweieinhalb Stunden dauert, kostete nur 10.000
Mark. Das Filmmaterial (16 Millimeter, schwarzweiß, aus der DDR
stammend und schon zwei Jahre über dem Verfallsdatum) kaufte er
für 800 Mark in einem Kleidergeschäft in Neukölln. Der Film hieß
einfach MADE IN GERMANY UND USA. Er beginnt damit, daß Thomes
Frau den Titel mit Kreide auf eine Tafel schreibt. Neben ihr steht
einer und spielt Flöte. Keine Spur mehr von Hawks.
Thome hatte sich selber entdeckt, und das arme, an Improvisation
und Überraschung reiche Kino des Jacques Rivette. Wie jener in
OUT ONE verzichtete Thome auf ein Drehbuch, gab den Schausuielern
nicht mehr vor als eine Spielsituation und ließ sie die endlosen,
fürchterlich banalen, fürchterlich wahren Dialoge selber entwickeln.
MADE IN GERMANY UND USA handelt vom langsamen Sterben einer Beziehung,
vom Psychoterror im "Schlafzimmer Bornholm", von einem Ausbruch
nach New York, von einer Reise durch Amerika. Thomes Frau Karin
und ein anderer Nicht-Schauspieler namens Eberhard Klasse stellen
Szenen einer Ehe dar: nicht zuletzt Thomes eigener Ehe, die die
Dreharbeiten nicht überstand.
So verwandelt sich, ohne Nachsicht, ein Super-Profi mit Hollywood
im Herzen in einen Amateur auf der Suche nach einer neuen Sprache.
Die war noch stockend, fand wenig Beifall, aber Thome litt nicht
unter Gefallsucht. Im "Tagesspiegel" schrieb er wenig freundlich
über Fassbinders WILDWECHSEL. Das war zu der Zeit, als Fassbinder
davon redete, Thome einen Film zu finanzieren: eine moderne Version
der "Wahlverwandtschaften". Später verzichtete Fassbinder darauf.
Der Film kam dennoch zustande. Er hieß TAGEBUCH (1975), Thome
selber spielte eine der Hauptrollen, die Produktionskosten waren
fast so niedrig wie bei MADE IN GERMANY UND USA
"Und was will man von Unglück reden? Ungeduld ist es, die den
Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann beliebt er, sich unglücklich
zu finden": Diese Sätze kommen in einem langen, von Thome gelesenen
Zitat aus den "Wahlverwandtschaften" vor, mit dem TAGEBUCH beginnt.
Es folgt ein langer Panorama-Schwenk über das graue Berlin.
Mit einem konventionellen Kino- oder gar Klassiker-Verständnis
hat TAGEBUCH so wenig zu tun wie MADE IN GERMANY UND USA. Von
Goethes Roman bleiben nur die Konstruktions-Idee und die Namen
der Figuren übrig. In einer Altbauwohnung und in einer umgebauten
Fabriketage kreisen zwei Männer und zwei Frauen ihr Unglück ein,
probieren Beziehungen aus. Der Film ist kaum weniger spontan,
improvisiert und anstrengend als MADE IN GERMANY UND USA.
Mehr denn je erscheint Thomes Interesse ethnologisch: eine Materialsammlung
über das krisenhafte Innenleben deutscher Großstadtmensehen Mitte
der siebzioer Jahre, Desorientierung und Beziehungshunger, 146
Minuten lang. Auch eine Mischung aus Realität und Erfindung, denn
die Ereignisse während der Dreharbeiten, die sich verändernden
Gefühle zwischen den Spielern bestimmten das Resultat so nachdrücklich
wie drei Jahre später in BESCHREIBUNG EINER INSEL: Über drei Stunden
lang die Expedition einer Gruppe von Berliner Amateur-Ethnologen
auf eine Südsee-Insel, der reale und der gespielte Zerfall der
Gruppe, das Elend der Ethnologen in der Fremde, das darin besteht,
daß die eigenen Wohngemeinschafts-Probleme auch auf den Neuen
Hebriden nicht sterben.
In Deutschland fanden Rudolf Thomes Berliner Filme nicht viele
Freunde. Ihre Offenheit, ihr Mangel an Disziplin und Kunstwillen,
ihre Realität formlos aufsaugende Einfachheit (jedenfalls auf
den ersten flüchtigen Blick) paßten nicht in die Landschaft des
zum perfekten "Weltniveau" strebenden deutschen "Filmwunders".
So blieben sie auch lange im Ausland fast unbeachtet. Im November
1980, als BESCHREIBUNG EINER INSEL in Paris anlief, konnte die
Zeitschrift "Cahiers du Cinéma" erstaunt feststellen: "Thome ist
der wichtigste der deutschen Cineasten, die in Frankreich noch
unbekannt sind."
Wenn sie BERLIN CHAMISSOPLATZ schon gekannt hätten, wäre ihre
Verwunderung wohl noch größer gewesen. Denn endlich, nach einer
langen Irrfahrt von Schwabing über Kreuzberg und die Südsee wieder
nach Kreuzberg, vom hermetischen Kino der frühen Jahre zum offenen
Meer der Wirklichkeit, nach einem langen Suchen zwischen extremer
Kalkulation und extremer Offenheit, hat Thome die Versprechen
eingelöst, die seine Filme immer waren. In BERLIN CHAMISSOPLATZ
gibt es alles: die Stilisierungen von DETEKTIVE und ROTE SONNE
wie die Freiheiten von TAGEBUCH und BESCHREIBUNG EINER INSEL.
Eine Melodie aus vielen Melodien.
BERLIN CHAMISSOPLATZ ist eine Liebesfilm. Man zögert schon, diesen
Begriff zu benutzen, denn "Liebesfilme" darf es eigentlich nicht
geben. Aber Thome, ein sanfter Mensch mit einem unordentlichen
Lächeln, wagt das Unmögliche; eine Geschichte zu erzählen, die
ohne eine Spur von falscher Süßlichkeit sich einläßt auf das ungewöhnlichste
(und das größte) aller Abenteuer. In der schönsten Sequenz des
Films BERLIN CHAMISSOPLATZ sitzt der Architekt Martin (dargestellt
von Hanns Zischler) in seiner Wohnung am Flügel und singt und
spielt ein Lied für die Studentin Anna (dargestellt von Sabine
Bach). Lange sieht man nur sie, ihr Gesicht, auf dem sich Empfindungen
spiegeln, die gezeigt, aber nicht beschrieben werden können. In
der nächsten Einstellung sieht man erst nur ihn, bis die Kamera
langsam zurückfährt und sie am äußersten rechten Bildrand in den
Blick bekommt. Distanz und Nähe: Sie geht zum Fenster. da ist
die Entfernung aufgehoben, da erfaßt der zärtliche Blick des Regisseurs
einen Moment von totaler Intimität.
Ein gewisser Blick. Thomes Kamera registriert nicht kühl die Stationen
einer Annäherung, sondern wird selber zum Liebesinstrument. Jede
der langen Bewegungen, die auf Annas Gesicht beginnen und dann,
in der Rückfahrt, einen Raum und eine Nähe enthüllen, drückt ein
Gefühl aus, für das es verbale Entsprechungen nicht gibt. Das
geschieht mit großer Diskretion, ohne aufdringlichen Romantizismus.
Wenn die beiden nach Italien fahren und Martin bei Sonnenaufgang
den Wagen auf einer Anhöhe am Meer parkt, verbergen Thome und
sein phantastischer Kameramann Martin Schäfer die rote Sonne hinter
einem Fensterrahmen. So kommt kein Reklamephoto zustande. In der
nächsten Einstellung stehen Anna und Martin zusammen auf dem Hügel,
schwach illuminiert vom matten Schimmer des Morgens, dessen tatsächliche
Pracht man nur ahnen kann.
Zwanzig Tage aus dem Leben von Anna und Martin, segmentiert durch
zwanzig lange Auf- und Abblenden, begleitet von den improvisierten
Free-Jazz-Klängen der Gruppe "Ohpsst". Die nimmt sich viele Freiheiten,
paraphrasiert gelegentlich die von Hanns Zischler komponierten
Lieder, schweift ab, entwickelt eigene Melodien.
Die Melodie von BERLIN CHAMISSOPLATZ: das sind die Farben und
das Licht. Am Anfang, wenn die Kamera nach einem langen Kran-Schwenk
den Chamissoplatz im durchaus häßlichen Kreuzberg als sozialen
Ort streift (wo Mieter-Initiativen gegen die Abbruch- und SanierungsPolitik
des Senats kämpfen, wo Anna mit einer Video-Ausrüstung die Aktivitäten
begleitet), trägt das Mädchen ein türkisblaues Kleid. In ihrem
Zimmer hat Anna mit blauer Spray-Farbe einen Satz an die Wand
gemalt: "Se reposer comme une fraise". Man erfährt nicht, was
das bedeuten soll.
Martin verbringt eine Nacht im Auto vor Annas Haus. Wenn er einschläft,
sieht man rechts hinter seinem Kopf eine rote Leuchtreklame. Am
Morgen spiegelt sich eine seltsame Form in der Windschutzscheibe
des Waqens. Die zurückfahrende Kamera (die Thome und Schäfer in
einer fast ununterbrochenen, sanften Bewegung halten) zeigt einen
mißtrauischen Polizisten, der den schlafenden Mann beobachtet
und sich die Autonummer notiert. Eine Liebe in Deutschland: das
ist nicht einfach.
In einer anderen Nacht klettert Martin auf ein Dach, streift in
seinem weißen Anzug irrlichternd durch die Schornstein- und Antennen-Landschaft
und sprüht mit roter Farbe an eine Brandmauer: "Anna, ich liebe
dich". Das sieht nicht lächerlich aus, aber auch nicht ganz wirklich.
Das Rot und das Blau, ständig wiederkehrende Signalfarben in den
unterschiedlichsten Schattierungen, dazu der Reichtum von Martin
Schäfers Licht geben dem Film eine somnambule Schönheit. Es bleibt
ein Geheimnis, außerhalb der "Gesellschaft", durch die sich die
Figuren bewegen,
Martin, der Architekt, der zwanzig Jahre älter ist als Anna, der
an dem Sanierungsprogramm für den Chamissoplatz beteiligt ist.
Fällt für drei Wochen aus der Gesellschaft. Er sinkt, ganz sacht,
in einen leichten Traum. Hanns Zischler, den wir aus Wenders'
IM LAUF DER ZEIT kennen, spielt das mit einer unbeirrbaren Ernsthaftigkeit
und Melancholie. Seine Sprache verändert sich (am Anfang ist sie
voll von bürokratischen Floskeln), auch seine Körpersprache: erst
eckig und ungelenk (wenn er in den kalten Wannsee stakst), später
weicher, harmonischer.
Anna (Sabine Bach in ihrer ersten Rolle) ist stärker, ihrer Gefühle
ganz sicher, aber auch der Gefährdung bewußter, die die Außenwelt
bedeutet. Einmal sitzen die beiden im Kino. Es läuft Jacques Rivettes
CELINE UND JULIE FAHREN BOOT, eine lange Reise in die Phantasie,
in die Utopie. Martin schläft ein, Anna weint fast unmerklich.
Sie sieht wohl auf einmal den Bruch zwischen den kleinen Alltäglichkeiten
und den großen Stimmungen. Etwas geht nicht mehr: und sie lebten
glücklich bis ans Ende ihrer Taqe." Am Ende entfernt sich Martin,
er fühlt sich verraten, Anna läuft hinterher.
Die Realität hat die Utopie beschädigt. Aber nicht zerstört. Das
utopische Potential aller Liebesgeschichten bleibt in den Bildern
von Rudolf Thome und Martin Schäfer aufgehoben, im Kino-Licht
und in den Kino-Farben, in der anderen Wirklichkeit, die für einen
Augenblick die Wirklichkeit zersetzt. Es bleibt bestehen in der
Freiheit, mit der Hanns Zischler und Sabine Bach sich ganz ohne
Schauspielerei die Drehbuch-Texte von Thome und Jochen Brunow
aneignen, so konzentriert wie in Filmen von Howard Hawks, so offen
wie in Filmen von Jacques Rivette.
BERLIN CHAMISSOPLATZ ist ein Film von einer zarten Radikalität.
Er wendet sich ab von den Konventionen des Bedeutsamen. Er erzählt
eine Geschichte, die man unzumutbar banal finden kann, aber er
bewahrt in seinen Formen eine allseitige Sehnsucht, über die nur
lächeln kann, wer sich schon aufgegeben hat.
Hans-Christoph Blumenberg in Die Zeit vom 19. 12. 80
Liebe mit vierzig
Rudolf Thomes Spielfilm "Berlin Chamissoplatz"
Liebe ist toll - wenn man selber der Glückliche ist. Liebe ist
doof - wenn man den offenkundigen Schwachsinn, dessen Verliebte
fähig sind, an andern registriert. Für den Liebenden gibt es nichts
Wichtigeres auf der Welt als alles, was auch nur entfernt mit
der geliebten Person zusammenhängt. Für die andern gibt es nichts
Banaleres, Lächerlicheres als die Sorgen, die ein Verliebter sich
macht: für ihn steht die Welt auf dem Kopf. Aber vielleicht schauen
nur die verdrehten Augen des Liebeskranken die reale Möglichkeit
von Utopie, weil sie die auf dem Kopf stehende Realität wieder
auf die Füße stellen.
Sieht man von Thomes eigenen, halbautobiographischen Filmen Made
in Germany und USA und Tagebuch einmal ab, dann hat eigentlich
kein Film seit Godards Pierrot le fou, ja eigentlich keiner seit
den großen Lubitsch-Komödien,die beiden gegensätzlichen Perspektiven
von Liebe so konsequent aufgedeckt und benutzt wie Berlin Chamissoplatz
- und zwar, was vielleicht die größte Leistung ist, ohne sich
lustig zu inachen über seine Figuren und ohne sie allzu ernst
zu nehmen.
Bohrendes Interesse an Menschen
Eine beiläufige Leichtigkeit bestimmt den Film. Bezeichnenderweise
ist es gerade das, was ihn so widerborstig macht wie das Leben
selbst. In seiner Schwabinger Zeit, als es mit dem neuen deutschen
Film gerade begann, jagte Thome noch hinter dem amerikanischen
Kino her, davon sind nur noch ein paar Charakterstriche übriggeblieben;
längst hat er sein Augenmerk auf die belanglosen und doch so entscheidenden
Geschehnisse gerichtet, die unseren Alltag bestimmen. Davon ist
auch Berlin Chamissoplatz geprägt, und das macht nicht zuletzt
dessen porösen, spröden Charme aus.
Natürlich ist das ein Widerspruch. Verliebte,leben doch stets
in extremer Stimmung, verfallen beim geringsten Zwischenfall von
ihren Hochgefühlen in tiefe Niedergeschlagenheit, als sei das
Ende ihrer Welt nahe. Und diesen aufgeputschten Emotionen konfrontiert
Thome nun die Banalität des gewöhnlichen Alltags nicht etwa nur
als realistisches Anhängsel, sondern als gleichberechtigten thematischen
Komplex. Seit Godard hat das niemand mehr gewagt: eine reine,
naive Liebesgeschichte mitten in die alltägliehe Umwelt plumpsen
zu lassen.
Und Umwelt ist hier wörtlich gemeint: Thome war nach seinem Südsee-Film
an den Berliner Chamissoplatz gezogen, in eines jener berüchtigten
Sanierungsgebiete, wo erst einer nach dem anderen "entmietet
wird (wie das schreckliche .Wort für den schrecklichen Vorgang
heißt) und dann die leeren Häuser irgendwelchen unvermietbaren,
sündteuren Bürobauten weichen müssen. Auf solche tristen Vorgänge
einzugehen, war der ursprüngliche, etwas trockene Plan zu diesem
Film. Die Liebesgeschichte kam erst später hinzu. Daß sie zunehmend
mehr zur Hauptsache wird, mag man nun zum einen Teil einer alten
Kinokonvention zuschreiben; zum anderen wichtigeren teil aber
Thomes bohrendem Interesse an Menschen.
Interesse an Menschen ist es auch, was die Liebesgeschichte in
Gang bringt. Thomes ebenso einfacher wie genialer Trick, die Gegensätze
zusammenzubringen, besteht nämlich darin, daß er sie erst einmal
verschärft. Nicht nur steht das Paar, das sich hier finden soll,
zunächst einmal in gegensätzlichen Lagern; die beiden gehören
auch verschiedenen Generationen an, haben also auch ganz unterschiedliche
Lebenserfahrungen und -umstände hinter sich.
Die Studentin Anna, erst 20 Jahre alt, hat sich in einer Mietergruppe
engagiert, die den Abriß der Häuser verhindern will. Für ihre
Aufklärungsarbeit interviewt sie den 40jährigen Architekten Martin,
dessen Büro mit dem Sanierungsauftrag betraut ist. Das Interesse
füreinander ist eher flüchtig. Martin, schon zweimal verheiratet
und als gebranntes Kind jeder neuen Beziehung abhold, will eigentlich
nur wissen, was mit dem Videomaterial passiert. Anna ihrerseits
will von ihm nur ein paar weitere Informationen. So gewöhnlich,
so banal fängt es an.
Aber bald ist solche Stadtteilarbeit nur noch Vorwand. Die Rollen
sind im Leben nicht so strikt verteilt, wie die Ideologie es will.
Man ist gutwillig, man kommt sich näher -auch wenn die anderen
aus der Gruppe oder dem Büro die aufkeimende Liebe für Verrat
oder Narretei halten. Und Torheit der Verliebten ist tatsächlich
im Spiel. Während Anna immerhin mit der Zielstrebigkeit einer
Frau aus einem Hawks-Film ihren Weg geht und mit weiblicher Stärke
ihre politischen und privaten Neigungen wie selbstverständlich
in Einklang bringt, kommt Martin gewaltig ins Schlingern. Aber
da er zu intelligent ist, um nicht zu merken, daß er sich in seinem
Alter halt ein bißchen zum Narren macht, wird sein ständiges Pendeln
zwischen Gefühl und Verstand zunehmend zum Hauptereignis.
Der Film begann mit einer spiralenförmigen Kranfahrt über den
Dächern des Platzes und zog dabei den Zuschauer hinunter in die
Wohnprobleme der Anrainer. Nun aber gewinnt er seinen reizvollen
Schwebezustand zurück. Thome hat dabei für die Rolle des Martin
in Hanns Zischler einen idealen Partner gefunden. Zischler ist
kein Berufsschauspieler, aber er hat eine wunderbar spröde Aura.
Man kennt ihn aus Wenders' Im Lauf der Zeit, und die Erinnerung
an Kamikaze, den er dort spielte, die Gegenwärtigkeit der Studentenzeit
von 68, die er noch immer verbreitet, und schließlich die etwas
sture Eleganz des Mittelfranken, die ihm angeboren ist, prägen
nun die Figur dieses Martin. Jetzt, mit 40 Jahren, ist er also
ein wohlsituierter Architekt, der die Träume von Spontaneität
und einer anderen Gesellschaft noch nicht vergessen hat - er ist
nur ein bißchen realistischer geworden in den letzten Jahren.
Manchmal erwartet man fast, daß Rüdiger Vogler (sein Partner
bei Wenders) zur Tür hereinkommt und zugibt, Volksschullehrer
geworden zu sein
Störend mirken nur die Dialoge
Und zu dieser Figur erfindet Thome, der in ihr wahrscheinlich
ein Alter ego sieht, herrliche Szenen von nachsichtiger ironischer
Distanz. Er läßt Martin behäbig seine Lebensart und seinen Wohlstand
gegen die Zwanzigjährige ausspielen und ihn sofort darauf hinter
den Stand eines Pennälers zurückfallen. Nachts sprüht Martin riesengroß
"Anna. ich liebe dich auf eine Hausmauer. Er traut sich nicht
so recht, mit ihr zu schlafen, und macht den Umweg über ein Champagner-Frühstück.
Annas jugendlicher Lebendigkeit rennt er ständig mit gezierten
Verweisen auf sein Alter hinterher (Badeszene) aber abhängen lassen
möchte er sich eben auch nicht.
Man könnte ins Schwärmen geraten bei vielen Einzelheiten, auch
wenn - oder gerade weil - sie einem zunächst etwas unangenehm
berühren: Etwa wenn Martin seiner Anna zwei Lieder singt und Thome
ihm geduldig die Zeit dazu läßt, oder wenn die beiden zum Sonnenaufgang
an die Adria fahren. Der Handlungsverlauf tritt vor den genauen,
dezent gefilmten Details immer mehr in den Hintergrund, und doch
rundet sich die Geschichte unmerklich. Ganz sachte geht Thome
zu Werke, behutsam gibt er den einzelnen Komplexen mit weichen
Ab- und Aufblenden Kontur: so gewinnt der thematische Schwebezustand
seinen Rhythmus. Und Glück hatte Thome nicht zuletzt mit seinen
Schauspielern, unter denen vor allem Sabine Bach als Anna und
Gisela Freudenberg als deren Freundin Claudia durch lässige Präsenz
überzeugen.
Störend wirken in dieser harmonischen Leichtigkeit eigentlich
nur die Dialoge, die - selbst wenn in bestimmten Berliner Gruppen
tatsächlich so gesprochen wird - oft grauenhaft papieren wirken.
Bei der Uraufführung in Hof hat das stellenweise belastende Soziochinesisch
herben Spott und unmutige Ablehnung hervorgerufen. Es ist zu hoffen,
daß nun auch im Kino der Film bei seinem Publikum jenen heiteren
Schwebezustand zurückgewinnt, den er sich thematisch so bravourös
gegen alle Konventionen ertrotzt. (In München im Arri und im Fantasia.)
Peter Buchka, Süddeutsche Zeitung 24./25.1. 81
Meister leiser Töne: Rudolf Thome drehte seinen achten Film "Berlin
Chamissoplatz
Beschreibung einer Liebe
Geschichte eines Generationenkonflikts
Celine und Julie fahren Boot: "Oh, le soleil! - Oh, die Sonne!
ruft Juliet Berto. Anna weint, Martin schläft. Es ist eine der
schönsten: Szenen in Rudolf Thomes achtem Spielfilm "Berlin Chamissoplatz.
Sie wird nur noch von jener unendlichlangen und intensiven Szene
übertroffen, in der Martin, 43 Jahre, alt, von Beruf Architekt,
in seiner Wohnung am Klavier sitzt und der 24jährigen Studentin
Anna ein wunderbares. Liebeslied singt. Danach sind Beteiligte
und Betrachter andere Menschen.
Eine richtige Liebesgeschichte drehen wollte der heute 41jährige
Wahl-Berliner Rudolf Thome. nachdem er sich zuletzt in der Südsee,
mit der "Beschreibung einer Insel beschäftigt hatte. Eine konkrete
Umgebung wird auch in "Berlin Chamissoplatz" beschrieben: jener
Berliner Stadtteil Kreuzberg nämlich, in dem sich von der Architektur
her noch die Atmosphäre der zwanziger und frühen dreißiger Jahre
gehalten hat, und der jetzt nach den Wünschen des Berliner Senats
"saniert werden soll.
Ein Video-Interview
Gegen diese Sanierung wehren sich (in Wirklichkeit und im Film)
Bürgerinitiativen und Mietervereinigungen, die für die Erhaltung
der Altbauten plädieren, die oft in so erbärmlichem Zustand sind,
daß sie gerade noch für Gastarbeiter "gut genug sind. So lernen
sich auch Anna und Martin kennen, Bei einem Straßenfest macht
die im studentischen "Chamissoladen engagierte Anna ein Video-Interview
mit dem Architekten, der vom Senat mit der Planung zur Veränderung
des Viertels beauftragt ist.
Um weitere Informationen zu bekommen, besucht Anna Martin in seinem
Büro und bringt ihn dazu, zu einer Versammlung des "Chamissoladens
zu kommen. Einige Tage,später klettert Martin nachts auf das Dach
eines Hauses und schreibt in riesigen Lettern auf eine Hauswand:
"Anna, ich liebe dich. Bei einer ebenso spontanen wie kurzen
Italienreise erklärt Anna, sie sei schwanger. Martin, der verheiratet
war und geschieden ist, weiß nicht, ob er das verkraften kann.
Bei einem Mieterfest entdeckt Martin, daß Annas Freunde vertrauliche
Informationen in einer Stadtteil-Zeitung veröffentlicht haben.
Verärgert verläßt er das Fest, verstört fährt ihm Anna nach. Unvermittelt
und überraschend erscheint der Titel "Ende auf der Leinwand.
Das erwähnte Zitat aus Jaques Rivettes Film "Celine und Julie
fahren Boot kommt nicht von ungefähr: denn wie Rivette erzählt
Thome seine Geschichte, die er zusammen mit dem Filmjournalisten
Jochen Brunow geschrieben hat, in einem ruhigen Rhythmus und mit
langen Einstellungen, die durch langsames Auf- und Abblenden voneinander
getrennt sind. Kameramann Martin Schäfer, der früher viel mit
Wim Wenders zusammengearbeitet hat und zuletzt die harten Schwarzweißbilder
in "Radio On filmte, zaubert hier warme Bilder mit weichem Licht,
die den betriebenen Aufwand nicht mehr erkennen lassen und ganz
natürlich" wirken.
Griff zur Flasche
Thomes Liebesgeschichte ist nicht zuletzt auch die Geschichte
eines Generationenkonflikts, der unter anderem deutlich wird durch
das unterschiedliche Auftreten der beiden Hauptdarsteller. Sabine
Bach, die als Anna ihr Filmdebüt gibt, macht durch Konzentration
und Spontaneität wett, was ihr an Erfahrung fehlt. In ihren großen
braunen Augen spiegelt sich eine charakteristische Mischung aus
Neugierde, Selbstvertrauen und Verwundbarkeit. Hanns Zischler
erscheint daneben in seinem sicheren Spiel wie ein kühler Profi,
der als Martin dessen Mut zu und die Angst vor Veränderungen und
Gefühlen nuanciert erkennen läßt.
Rudolf Thome ist ein Meister der leisen Töne und kleinen Irritationen.
Martins Wandel macht er fast unmerklich daran deutlich, daß die
Rotweinflasche, die der Architekt anfangs stets griffbereit hat,
im Laufe des Films mehr und mehr.verschwindet. Und so nebenbei
macht Thome klar, daß es auch 1980 noch möglich ist, eine "einfache
Geschichte zu erzählen, die allerdings alles andere als eindimensionai
ist, (UniCenter)
Kölner Stadtanzeiger 20./21.12.80
Auf den 14. Hofer Filmtagen
Wie schon lange nicht mehr, ist diesmal ein Film in Hof beim Publikum
durchgefallen, der ganz offenbar als einer der Höhepunkte der
viereinhalbtägigen Filmtage gedacht war. Heinz Badewitz, der in
der hinterfränkischen Industriestadt des "Zonenrandgebietes" (zur
DDR und zur CSSR) "seine" Hofer Filmtage zum vierzehntenmale veranstaltete
und mittlerweile von der Stadt und dem Land Bayern bescheidene
finanzielle Zuschüsse erhält, hatte Rudolf Thomes "Berlin Chamissoplatz"
auf den Samstagabend um 20 Uhr plaziert.
Wer alle Jahre wieder ins abgelegene Hof fährt, um an diesem angenehmsten,
persönlichsten deutschen Filmfestival teilzunehmen, der weiß,
daß der Kinofreak Badewitz genau diesen Wochenendtermin für jene
Filme reserviert, die er ganz besonders liebt und von denen er
hofft und wünscht, daß sie dem Hofer jugendlichen Publikum genauso
gefallen. Seine Sensibilität für die Eigenart von Filmen und für
den Empfindungsresponse des Publikums schien untrüglich. Das zeigte
sich in der jüngsten Vergangenheit, als Badewitz Erwin Keuschs
"Das Brot des Bäckers" und Josef Rödels "Albert - warum?" auf
diese Termine setzte. Es waren beides Debütspielfilme, und deren
enthusiastische Aufnahme beim Hofer Publikum hat zwei bis dahin
völlig unbekannten Autoren einen Namen, zwei Filmen Ruhm und Rennomee
verschafft, die dem späteren Kinostart zugute kamen. Diesmal waren
der Film, seine Mitwirkenden und Badewitz von allen guten Geistern
des Publikums verlassen. Ein Fehlurteil, Fehleinschätzung, Fehlverhalten
- wessen?
Rudolf Thome ist längst kein Debütant mehr. Der 1939 geborene
Regisseur hat seit 1964 rund ein Dutzend Filme gemacht - zuerst
in München (u. a. "Detektive und "Rote Sonne) dann in Berlin
("Made in Germany und USA", "Tagebuch"), wo er heute lebt.
Thomes trockene, lapidare Filme, die am Schnittpunkt von persönlicher
Erfahrung, Dokumentarismus und kühler Stilisierung zu finden sind
- eher der cineastischen Minimalart nahestehen, als je (wie sein
einstiger Weggenosse Klaus Lemke) aufs "vollblütige" Kinoerlebnis
zu setzen - sind bei Publikum und Kritik schon immer auf Reserviertheiten
gestoßen. Das kann nicht nur einem möglicherweise schmalen Talent
aufs "Schuldkonto" geschrieben werden; sondern geht auch zulasten
einer Vorstellung von Kino, die in Hof z. B. durch die Retrospektive
auf das Werk des kanadischen Horrorfilmregisseurs David Cronenberg
ihr am schärfsten gewürztes Futter erhielt: Kino des Sinnenkitzels,
der Angst- -und Lusterweckung, das die Zuschauer durch eine einfache,
bekannte Grammatik und Metaphorik gefangen nimmt.
Ungedeckte Schecks
Dagegen sind Thomes Filme immer ungedeckte Schecks gewesen; sie
gingen zu Protest, weil ihre offene Dramaturgie, ihre Stilisierungen
des Unbedeutenden und Nicht-Bedeutens, ihr undramatischer Gestus
des verweilenden Zeigens die , Erwartungen des Publikums nach
Sinnerfüllung, Signifikanz, Identifikation nicht einlösten. So
betrachtet ist das Debakel von "Berlin Charnissoplatz" symptomatisch.
Alexander Kluges Bemerkung: "Das Nicht-Gefilmte kritisiert das
Gefilmte" tritt als weiteres Moment der Ablehnung hinzu; denn
Thome und sein Mitdrehbuchautor Jochen Brunow haben als Hintergrund
ihrer Liebesgeschichte zwischen dem dreiundvierzigjährigen Architekten
(Hanns Zischler) und der vierundzwanzigjährigen Soziologiestudentin
(Sabine Bach) einen politischen Stadtteil-Konflikt gewählt. Das
Viertel, in dem die Studentin lebt und als"Videofrau" an einer
Bürgerinitiative teilnimmt, soll durch den Architekten "saniert"
werden. Der politische Zündstoff, der in dieser Schicht des Sujets
glimmt, wird jedoch nicht nur von Anfang an bloß schematisch und
nachlässig behandelt, sondern auch im Verlauf der Erzählung zum
Erlöschen gebracht - aufgezehrt von der Liebe der beiden Hauptpersonen.
Nebenbei wird der frühere Freund des Mädchens, der die Stadtteilzeitung
macht, Phrasen drischt, aus Eifersucht die Informationen des Architekten
ohne dessen Wissen mit einem Tonband aufnimmt und dessen Abschrift
dann in seiner Zeitung veröffentlicht, als Karikatur zugerichtet
und vernichtet, was vom Publikum als provozierender Verrat an
seiner moralischen Präferenz verstanden wurde.
Diese Kritik ist berechtigt, weil sie die Verengungen der Wirklichkeit,
welche der Film vornimmt, um zu seiner Liebesgeschichte zu gelangen,
als Defizite einer ästhetische Methodik erkennt, die eben nicht
Widersprüche der Realität entfaltet, sondern sie auf Abstraktionen
reduziert. Umso bedeutungsschwerer wird dadurch jedes Bild, jede
Szene, jedes Wort, jede Geste oder Körperhaltung. Der Zuschauer-Blick,
der seine alltäglichen Erfahrungen ins Kino mitbringt, wird -
wo er nicht von dem Film sich in Bann schlagen läßt - eben daran
Momente eines Pathos des Indirekten, Unausgesprochenen oder bewußt
Vagen entdecken, für den er Namen wie Banalität oder Langeweile
bereit hat. Der Dialog und die Nebenfiguren sind die ästhetischen
Schwachstellen von "Berlin Chamissoplatz; dagegen enthält der
Film, der seinen lakonischen Erzählrhythmus durch Abblendungen
am Ende der Sequenzen retardiert, im Hofer Debakel weitgehend
übersehene Augenblicke intensivster Poesie. Die Kameraarbeit Martin
Schäfers, die Transparenz seiner Lichtgebung ist phänomenal und
die Musik der Gruppe "Ohpsst" höchst subtil.
Während das jugendliche Publikum seine realistische Protestenergie
an Thomes Asthetizismus rieb, nahm es widerspruchslos hin und
sogar beifällig auf, was ihm der Filmdebütant Oliver Herbrich
als seine Version des Matthias-Kneisel-Falles darbot. Der neunzehnjährige
Oberschüler, der mit seinen Lebensjahren kokettierte, als seien
sie allein schon die Voraussetzung eines Geniestreichs, sieht
in dem"stolzen und traurigen Leben" des 1902 hingerichteten Raubmörders,
der zur bayrischen Rebellenmythologie gehört, nicht ein unterdrücktes
Stück Utopie, sondern in Kneisel "ein bemitleidenswertes Geschöpf,
genauso deprimierend wie die Umwelt und die Landschaften, in denen
er lebt".
Wolfram Schütte in Frankfurter Rundschau 8.11.80
Darsteller:
Martin Berger | Hanns Zischler |
Anna Bach | Sabine Bach |
Jörg | Wolfgang Kinder |
Claudia | Gisela Freudenberg |
Alex | Alexander Malkowsky |
Karin | Anna Klasse |
Annas Mutter | Hildegard Bach |
Atze | Ralf Lotzin |
Sven | Bela Braukmann |
Dr. Franke | Hans Brockmann |
Anwalt | Ulrich Ströhle |
Dieter | Hans Lechner |
WG-Bewohnerin | Cynthia Beatt |
Apotheker | Jochen Brunow |
CB-Funker | Ingo Kaetel |
Barfrau | Renate Sami |
Frau Mager | Ruth Rischke |
Daniel | Ray Wolf |
Heiner | Martin Schmitz |
Fritz | Robert Wilhelm |
Sekretärin des Architekten | Brigitte Müller |
Druckerin | Claudia Mehlhorn |
Polier | Jürgen Bäcker |
Stab:
Regie | Rudolf Thome |
Buch | Jochen Brunow und Rudolf Thome |
Kamera | Martin Schäfer |
Kamera-Assistenz | Martin Gressmann |
Regie-Assistenz | Jochen Brunow |
Script | Petra Seeger |
Produktionsleitung | Gudrun Ruzickova |
Beleuchter | Jürgen H. Bäcker |
Ralf Lotzin | |
Ton | Margit Eschenbach |
Ton-Assistenz | Krista Zeissig |
Produktions-Assistenz | Sabine Jähnert |
Schnitt | Ursula West |
Schnitt-Assistenz | Matthias von Gunten |
Mischung | Dieter Schwarz |
Musik | Ohppst |
Titelmusik | Evi und die Evidrins |
Filmgeschäftsführung | Joachim Rixen |
Produzent | Hans Brockmann und Isolde Jovine |
Lieder: "Transparent Messages", "Travelling" gesungen und komponiert von Hanns Zischler, Text: Renate Horlemann
Drehzeit: 16. Juni - 30. Juli 1980
Drehorte: Berlin, Lido di Policoro (Basilicata/Italien), Hof
Länge: 3,064 m - 112 min - Format: 35 mm (1:1,66)
Produktion: MOANA-Film GmbH, Berlin und Anthea Filmgesellschaft
mbH, München
gefördert mit Mitteln der FKT (Berlin), des BMI und der FFA
Uraufführung: Hofer Filmtage am 1. November 1980
Kinostart: 14. November 1980: Frankfurt a.M. (Harmonie) und Heidelberg
(Gloria)
Festivals: Hof, San Francisco, Chicago
TV-Ausstrahlungen: 26.1.83 BR, 16.2.83 WDR, 17.4.83 HR, 5.11.83 S3, 19.4.86 HR,
9.7.86 WDR, 25.6.+29.6.90 Tele 5, 24.1.+25.1. IA, 12.4.+13.4.95
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