Ausflug nach Porta Westfalica

von Jan Lyczywek

[OLC-Seite von Jan & Rainer's 1. Flug]
[OLC-Seite von Jan & Rainer's 2. Flug]

Bild ist anklickbar

[PortaBaby]

Grunau Baby über P.W.

Schon mal im Winter OLC geschaut? Nein, nicht die 1000er von der Stange in Namibia oder Australien - die wirklich exotischen Flüge findet man ab Ende Oktober nur noch mit dem Europa-Filter. Allerlei Wundersames gibt es dort zu bestaunen: verrückte Holländer im Tiefstflug an den Dünen, riesige Wellenflüge am Riesengebirge, hier und da noch ein letzter Thermikflug in Südfrankreich. Und in Deutschland? Seit einigen Jahren fallen vor allem die Flugplätze Porta Westfalica und Bückeburg auf, immer mit ganzen Rudeln von Flügen über 300, 400, ja 500 OLC-Kilometer, und das mitten im November und Dezember. Wie geht denn sowas? Gleich mal ein paar Flüge runterladen. Erste Erkenntnis: aha, ein Hang, zwischen den extremsten Wendepunkten fast hundert Kilometer lang, konservativ geflogen immer noch gute fünfzig. Zweite Erkenntnis: ui, die fliegen aber tief! Bis auf gelegentliche Wellen-Ausreißer nach oben scheint sich die Fliegerei zwischen 300 und 500 Metern abzuspielen, ob über Platz oder MSL, das tut sich hier schon nicht mehr viel.

Als Unterwössener schließt man jetzt am besten kurz die Augen, stellt man sich versuchsweise 400 Meter Höhe an der Gscheurer Wand vor und dazu den Entschluß, mit dieser Höhe auf Strecke abzufliegen - nur dass der Hang nicht so hoch ist wie in Unterwössen. Zwei alternative Schlussfolgerungen kann man daraus herleiten:

  1. Die Westfalen spinnen, ich warte weiter auf den nächsten April.
  2. Da gibt es was zu lernen, ich muss da hin.

Da kann man sich nun natürlich nach persönlicher Motivationslage entscheiden; ich finde dazulernen irgendwie spannender als warten. Das passende Beuteschema, nach dem in den Wettervorhersagen zu suchen ist, erklärten mir Merve und Ulli: Süd, besser noch Südwest, ab 7 oder 8 Knoten Bodenwind könne man fliegen, je mehr, desto besser natürlich, und die Eingeborenen vertrauten auf die Surferseite Windfinder. Aha, klingt ja einfach. Und Rainer Maack hatte schon länger angekündigt, an solcherlei Expedition immer interessiert zu sein.

Das Wochenende vom 14./15. November schien aber zunächst ganz andere Südwindgenüsse zu versprechen: zu Wochenbeginn sah alles nach Föhn aus. In der Rundmail hatte ich versprochen, dass spätestens Donnerstag abend Klarheit herrschen müsste. Dem war auch so: alle Hoffnung zerstoben, die Windvorhersagen über den Alpen traurig, denn das antreibende Tief stand einen Tick zu weit westlich und vor allem viel zu weit nördlich. Moment – in die Richtung liegt doch der Hang der verrückten Westfalen! Wenn das Tief mit seinem Wind nicht zu uns kommt, müssen wir eben hinfahren. Windfinder war auch der Meinung, alle anderen Modelle ebenso, nur daß für den Samstag ein gewisses Regenrisiko nicht von der Hand zu weisen war und für Sonntag die Gefahr bestand, daß der Wind langsam einschlafen könnte.

Die Ausreden wurden also weniger. Bleibt als letzte noch die Lieblingsentschuldigung aller Segelflieger, die lieber nicht fliegen gehen wollen: der organisatorische Aufwand sei ja viel zu hoch. Deswegen sei der Organisationsaufwand hier kurz aufgelistet: zwei Anrufe. Fertig.

Erstens ein Anruf bei einem der Vereine dort am Platz. Gleich ein Volltreffer, denn neben den beiden wichtigsten Antworten – ja, wir haben Flugbetrieb und ja, Ihr könnt vorbeikommen – gab es gleich noch eine viertelstündiges Rundumbriefing zur Hangfliegerei an der Porta, alles unglaublich freundlich und einladend. Danke, Bernd!

Und zweitens ein Anruf bei Rainer: Das wäre ein Porta-Wochenende, fahren wir hoch? – Ja! Wow, der Mann ist spontan, das müssen Spätfolgen jahrelanger Drachenfliegerei sein…

Das war am Freitag morgen um zehn, um zwölf waren wir unterwegs nach Unterwössen, um die DG 1000 anzuhängen, um drei auf der Autobahn nach Norden, und abends um zehn auf dem Platz. Ein kräftiger Süd blähte den Windsack dorthin, wo wir im Dunkel die niedrigen Konturen von Weser- und Wiehengebirge zu erahnen meinten. Vorfreude.

Am nächsten Morgen: Windstille, ja sogar leichter Rückenwind. Außer uns ist erst ein weiterer Gast gekommen. Und die Hänge sehen jetzt im Morgenlicht wirklich verflucht niedrig aus und eigentlich auch ziemlich weit weg. Immerhin, kurz vor acht geht die Halle auf, ein einsamer Segelflieger fängt an auszuräumen. Wir helfen ihm und erfahren nebenbei noch ein paar Tips und Tricks. Er hofft auf Welle – darüber hatten wir auf der Herfahrt noch gewitzelt, aber die eindeutigen Lentis im Osten bestätigen seine Einschätzung wie auch die unsere, daß der Tag doch noch interessant zu werden verspricht.

Große Eile scheint nicht geboten. Gemütlich beginnen wir mit den Vorbereitungen zum Aufrüsten. Dann geschieht etwas Unglaubliches: Mit der Wucht eines Naturphänomens rollen innert einer halben Stunde, teils einzeln, teils in Grüppchen sicher fünfundzwanzig Gespanne auf den Platz. Auch Merve und Ulli sind mit ihrem Duo ‚CJ’ dabei. Wir sind ja nun in Unterwössen intensiven Flugbetrieb und viele Gäste gewohnt, aber solche Flugbegeisterung und Dynamik haben wir noch nicht erlebt. Wie zur Bestätigung erscheinen hoch über der Porta Westfalica, dem markanten Durchbruch der Weser durch die Hügelkette, zwei Segler, wohl aus Bückeburg. Fast ohne Vorwärtsfahrt stehen sie im Südwind, der sich nun endlich auch am Boden durch die Inversion frißt. Ein Hängerdeckel nach dem anderen geht auf, eilig werden Flügel angesteckt.

Die DG steht schließlich etwa in der Mitte der langen Startreihe. So haben wir Zeit, die anderen Flugzeuge zu beobachten. Die meisten gehen gar nicht erst an den Hang, sondern stellen sich auf halbem Wege dorthin dem Wind entgegen. Das Aufwindfeld scheint bis über den Flugplatz zu reichen. Also wirklich Welle! Dann lernen wir Wilhelm kennen. Noch so ein Glückstreffer, denn auf der Karte zeigt er mir nochmals alle Schlüsselstellen samt Mindesthöhen dazu, die Hang- und Welleneinstiege und die Außenlandemöglichkeiten. Ein besseres Briefing könnten wir uns nicht wünschen.

Dann geht es los. Der Windenfahrer scheint Respekt vor der wuchtig wirkenden DG zu haben und legt ein paar Kohlen mehr auf. Oder liegt es daran, daß direkt durch die Welle geschleppt wird? Jedenfalls kommen wir auf fast 500 Meter. Überall tragende Luft, schon weit vor dem Hang. Doch wo ist das beste Steigen? Der Süd schiebt unsere Suchschleifen langsam gegen den Berg. Dort kommen wir schon mit 800 Metern an und haben Zeit, die Szenerie zu überblicken. Wie ein gewaltiger Lindwurm windet sich der bewaldete Höhenzug durch das sanftgewellte, offene Land. Sein gleichmäßiges, wie vom Landschaftsgärtner aufgeschüttetes Dreiecksprofil bildet zwischen flachen Flanken einen erstaunlich markanten Kamm. Unten ist er von scharfgeschnittenen Waldrändern begrenzt, als läge er mehr auf der Landschaft auf als in ihr. Links und rechts davon wechseln Felder und Streusiedlungen im harmonischen Rhythmus und menschlichen Maß alter Kulturlandschaften. Es hat sich gelohnt, herzukommen, jetzt schon.

Ist das noch Welle, was uns jetzt in 800 Metern nach Westen trägt, oder schon hochreichender Hangwind? Noch ist uns diese Fliegerei ganz fremd, das Vertrauen in die Aufwinde fehlt ebenso wie ein Gefühl für die Höhe. Am ersten, geradezu winzigen Einschnitt der Hügel wird uns mulmig. Wer weiß, ob wir nicht jenseits aus dem Steigen fallen und dann unten an dem Waldrücken, der sich dort gerade 200 Meter über das flach ansteigende Vorland erhebt, kein rettender Hangwind wartet? Schon heute nachmittag werden wir über diese übertriebene Vorsicht lachen, fürs erste aber drehen wir um.

Im Funk wird von märchenhaften Höhen in der „Schaumburgwelle“ erzählt. Dank Wilhelms Briefing weiß ich, wo das ist. Jetzt haben wir ein Ziel im Osten. Die zwanzig Kilometer gelingen im Hangwind jetzt völlig problemlos. Ein ganzer Pulk von Flugzeugen markiert den Einstieg in die Welle. Sanft und gleichmäßig geht es nach oben. Spitzen von anderthalb, ja zwei Metern pro Sekunde sind dabei, im Mittel aber wird es schließlich doch nur ein guter halber Meter sein, der uns auf immerhin 1700 Meter bringt. Unglaublich! Was erzeugt diese Wellen? Sicher, vorgelagert gibt es wieder ähnlich niedrige, aber mehr plateauartige Höhenzüge, von denen der Südwind in das breite Tal der mäandrierenden Weser hinabstürzt. Doch etwas Magie bleibt jedem Wellenaufwind erhalten.

Was nun? Wir versuchen, einer merkwürdigen Wolkenstruktur nach Osten zu folgen, fallen aber schnell aus der Welle heraus. Nach Südosten lockt jenseits einer breiten Lücke der markante Grat des Ith, der bei Südwestwind die Rennstrecke um fast 30 km verlängert. Doch heute stehen die Windräder fast parallel zu seinen Hängen. Wieder drehen wir um und machen es uns in der Welle bequem. Im Funk wird ein neues Thema diskutiert: von Westen rückt Regen heran. Immer mehr Piloten entscheiden sich zur Landung. Schon regnet es auch am Flugplatz. Doch die Welle steht noch und aus 1900 Metern glauben wir, die Mini-Front aussitzen zu können. Jedenfalls scheint uns das klüger, als geradewegs in die dichten grauen Schleier hineinzufliegen, die Stück für Stück den westlichen Teil des Hangs verschlingen. Doch bald zerregnet auch unsere Welle, so sehr wir uns auch nach Osten zurückziehen. Nun bleibt uns keine Wahl, wir müssen zumindest bis zum Platz durchbrechen. Vielleicht können wir dort im Hangwind überwintern? Die Höhenströmung hat gedreht, steht jetzt fast rechtwinklig zum Bodenwind. Mit Gleitzahl 25 kämpfen wir uns vor gegen Regen und Wind. Endlich sinken wir direkt querab des Platzes in 400 Metern in den erlösenden Hangwind.

Fünf Viertelstunden müssen wir im Regen parken und erleben eine wunderbare Lektion in Mikrometeorologie: Jeder dichtere Schauer kündigt sich lange vorher durch aktivere, gleichsam explosive Luft an. Das Steigen wird ein wenig turbulenter, aber auch großflächiger und reicht hoch hinauf bis an die Basis der niedrigen Regenwolken. Dann kommt der Böenkragen und der Regenvorhang des neuen Schauers mit seinem Abwind. Dahinter ist die Luft wie tot, und obwohl der Wind unverändert bläst, können wir uns jedesmal minutenlang nur mühsam über dem Kamm halten.

Endlich wird es hinter den Regenvorhängen heller. Der letzte Schauer brockt uns den tiefsten Tiefpunkt ein. Doch im Westen liegt schon etwas Sonnenlicht in den Hängen. Dann sinkt die Sonne unter die letzte, hohe Wolkenschicht und taucht das Land in warmes, tiefgelbes Streiflicht. Farben und Konturen werden überdeutlich, alles scheint zu leuchten. In vierhundert Metern fliegen wir ab und folgen in samtiger, weicher Luft dem Kamm nach Westen. Alles trägt und die Höhe kommt uns fast schon komfortabel vor. Das Aufwindband legt sich kaum eingedellt wie eine unsichtbare Brücke aus Luft auch über die kleineren Lücken, luvseits lassen sie sich ohne Höhenverlust überspringen. Ungewohnt nah ziehen Felder, Gehöfte, eine Windmühle unter uns durch, doch wir haben Vertrauen gewonnen in diese gänzlich andere, abstrakte Fliegerei.

Nach fünfundzwanzig Kilometern wenden wir vor einer breiten Lücke und segeln zurück zum Platz. Dann fliegen wir den Schlag noch ein zweites Mal. Jetzt reicht der Aufwind noch hundert Meter höher. Langsam geht die Sonne unter; als wir die Wende erreichen, verschwindet sie hinter dem Horizont. Wir wenden und gehen landen, euphorisch und erfüllt von neuen Eindrücken eines intensiven Erlebnisses. Es ist Mitte November, und morgen ist wieder ein Flugtag.


Valid XHTML 1.0! Made on a Mac