Wandersegelflug 2008

Vierter Teil:
Rinteln – Der Dingel

von Jan Lyczywek

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Bis auf ein paar etwas lustlose Windböen war in der Nacht von der Kaltfront nichts zu bemerken gewesen; es blieb trocken. Die Front hatte sich offenbar festgefahren. Statt des erhofften Rückseitenwetters erwartete uns ein einheitlich diffus-grauer Himmel, der weder auf volle Einstrahlung noch auf ausreichende Labilität hoffen ließ.

In der Altstadt, jetzt im Morgenlicht und in ihrer erwachenden provinziellen Geschäftigkeit fast noch heimeliger als am Abend zuvor, finden wir nach einigem Suchen eine Bäckerei. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, daß es sich hier länger aushalten ließe und ich mithin dem Wetter gar nicht so böse wäre, müßten wir hier pausieren. Doch das bleibt Illusion: zwar ist das unsägliche und doch tausendfach zitierte Wort, demzufolge der Weg das Ziel sei, ebenso kurzgedacht wie widersinnig. Aber den Wanderer treibt ein Sehnen nach Ankunft, das immer unerfüllbar ist und also unerfüllt bleiben muß. Das wußten schon die Griechen. Auch wir haben vereinbart, Tag für Tag weiterzufliegen, wenn es nur irgendwie möglich scheint.

Gegen elf wird der graue Wolkenschleier dünner und es bilden sich kurzlebige, tiefe Cumulusfetzen. Doch sobald mehr Sonne durchkommt, werden sie größer und kräftiger; ihre Basis hebt sich jede Minute. Um halb zwölf hängen wir hinter der Rintelner Remorqueur und klinken unter dem ersten Wölkchen.

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Auf zur nächsten Etappe…


Das Szenario ringsum ist überraschend: im Südwesten, genau auf Kurs, lauert die liegengebliebene Front. Schleichend scheint die Bewölkung dort immer tiefer, immer diffuser zu werden. Nach Osten aber ziehen sich Wolkenstraßen in zunehmend sonnigeres Land. Wir könnten nach Brandenburg fliegen, aber ein solcher Kurswechsel wäre erstens gewissermaßen opportunistisch und zweitens kurzsichtig, denn dort kerkert uns die Front morgen um so sicherer ein. Nein, lieber wollen wir versuchen, so weit es geht nach Südwesten oder zumindest Süden vorzudringen. Ein eigentümliches meteorologisches Phänomen scheint dem entgegenzukommen: die Ansätze der Aufreihungen führen stets nach Osten, schicken dann aber immer wieder rechtsgekrümmte Seitenäste gen Süden. Wir versuchen, diesen merkwürdigen Bögen zu folgen, müssen aber doch mehrfach die Straße wechseln, um nicht zu weit nach Osten zu geraten.

Der letzte Bart löst an einer Hügelkuppe ab, darauf eine alte Radarstation. Die wechselnde Bodenbeschaffenheit dieses Höhenzuges zaubert grüngelb changierende Batikmuster in die Kornfelder. Ich kann mich nicht sattsehen daran und habe keine Kamera dabei. Langsam wird das Licht fahl und uniform. Die Cumuli verlieren ihre Konturen. Einige Minuten können wir uns noch an der grauen, dampfigen Basis im Geradeausflug halten. Dann beendet seichter, dünner Nieselregen auch diese letzte Hoffnung.

Ein Windpark voraus zeigt an, daß der Westwind deutlich zugenommen hat. Ein tief eingeschnittenes Flußtal nebenan, im gleichen monotonen Schatten versunken wie alles ringsum, ermöglicht uns noch einmal eine knappe Viertelstunde zu parken. Ist das noch Thermik, die an der Kante abreißt, oder schon ein winziger Wellenansatz? Aus dem Nuller wird nichts Besseres. Wir sind ziemlich genau zwischen zwei Flugplätzen. Der westlichere, Warburg, läge näher an unserem Kurs. Wieder sprechen nur Details für den anderen: „Der Dingel“, so heißt er, liegt immerhin noch in etwas hellerem, wenn auch ebenfalls schon blassen Licht, und wir werden ihn mit Rückenwind und daher höher erreichen. Vielleicht gibt uns beides zusammen noch eine winzige Chance, aus der Platzrunde wieder wegzukommen?

„Dingel, D-1284, eine DG 1000 auf Wandersegelflug, wir werden wahrscheinlich bei Euch landen – würden wir morgen einen Schlepp bekommen?“ „D-1284, herzlich willkommen und ihr habt Glück: bei uns ist Fluglager und ihr kommt morgen weiter.“ Freilich muß ich mir abends von der sympathischen Flugleiterin die scherzhafte, aber berechtigte Frage gefallen lassen, was wir denn bitte sonst gemacht hätten, wenn es keinen Schlepp gegeben hätte…

Das bißchen Sonnenlicht hilft uns nicht, wir landen auf dem Platz, den sein Name fast lautmalerisch treffend beschreibt: der Dingel ist ein langgezogener, durchaus nicht flacher kleiner Hügel, auf dessen Kamm nur gerade so eine Windenschleppstrecke und zwei alles andere als ebene Landefelder Platz finden. Dazu drängen sich eine niedrige Halle, ein Clubhaus und eine Ansammlung von Wohnwagen und Zelten auf dem Grat. Wohl einer der merkwürdigeren Segelflugplätze in Deutschland und zweifellos einer der sympathischsten.

Eine ganze Horde junger Leute hilft uns, die DG aus der Ladewiese zu schieben; einer hat sogar den passenden Kuller dabei. Angeblich hat doch der Segelflug ein Nachwuchsproblem? In Düsseldorf ganz offensichtlich nicht. Denn es ist der Düsseldorfer Aeroclub, der den Dingel für sein alljährliches Fluglager gekapert hat, wie sich eine der jungen Pilotinnen treffend ausdrückt. Der Chef des Hofgeismarer Gastgebervereins wacht mit väterlicher Lässigkeit über den quirligen Haufen.

Das Clubheim fesselt mich vom ersten Augenblick mit unwiderstehlichem Charme. Dabei ist es keineswegs besonders aufwendig eingerichtet, auch fehlt – zum Glück – die sonst so verbreitete eichendeutsche Gemütlichkeit. Nein, es ist etwas ganz anderes, was der große Aufenthaltsraum mit seinem U-förmigen Tisch, den an ein Jugendzentrum erinnernden alten Sofas und der offenen Küche zu eigen hat und was ihn besonders macht, und ich brauche einen Moment, das zu erkennen: Leben ist es, ganz einfach Leben und Lebendigkeit. Wir gehören vom ersten Moment an wie selbstverständlich dazu.

Gegen drei Uhr nachmittags macht das Wetter noch einmal auf. Möglicherweise könnte man weiterfliegen. Doch der Dingel und seine Leute haben uns schon für sich eingenommen. Als wir dann noch erfahren, daß die ursprünglich plausiblere Alternative, der Flugplatz Warburg, wegen Überschwemmung sicher keinen Schleppbetrieb geboten hätte, ist die Entscheidung gefallen: Wozu jetzt nocheinmal fünfzig oder hundert Kilometer weiterkämpfen? Selbst wenn das gelänge, einen solchen Glückstreffer landen wir nicht mehr. Ein bißchen haben wir uns ja schon daran gewöhnt, daß uns auf diesem Wanderflug alles nur so zuzufliegen scheint – aber wir wollen das Glück bestimmt nicht versuchen.

Wir setzen uns auf die Veranda, die einen weiten Blick über das sommerliche Land bietet und dem gelbgestrichenen Bau ganz entfernt das Gepräge einer spanischen Hacienda verleiht. Abends gibt es passend dazu Chili con Carne und es ist gar keine Frage, daß wir zum Essen mit eingeplant sind. Wir genießen die fröhliche Ferienstimmung bis tief in die Nacht auf der Veranda, bei Kerzenlicht und Wein. Endlich jagt eine Böenwalze über den Hügelkamm. Dann folgt schwerer, dichter Regen. Morgen ist uns die Rückseite sicher. Wird sie uns nach Frankreich bringen?

Weiter mit dem fünften Teil


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