Entwurf eines Essays, dass bald im Bulletin des Europäischen Medieninstitutes, Düsseldorf erscheinen wird.
Die Verbreitung von Informations- und Kommunikations-technologien (ICT), insbesondere durch Personal-Computer und Wide Area Networks, wie beispielsweise das Internet, stattet die Menschen mit reichhaltigen Möglichkeiten aus, Kontakt zu ihren Mitbürgern aufzunehmen mit ihnen zu kommunizieren und auf sie Einfluß zu nehmen, seien dies Politiker, andere Vertreter der Öffentlichkeit oder "einfache" Bürger. Elektronische Systeme erleichtern die Beschaffung von Informationen zu aktuellen Fragen (beispielsweise aus Regierungsquellen s. 1., Regierungen und Parlamente), politische Ideen können schneller formuliert werden (z.B. durch Bürgerinitiativen, Verbraucheorganisationen). Kampagnen lassen sich einfacher ins Leben rufen, Wahlprogramme politischer Parteien und einzelner Kandidaten lassen sich für die Wähler leichter überprüfen. Neue sozialpolitische Paradigmen, wie beispielsweise die Agenda 21 (verabschiedet auf der Umweltkonferenz von Rio 1992), die im lokalen Bereich zu verstärkten Aktionen zur Durchsetzung weltweiter Ziele aufrufen, können beschleunigt werden und aufgrund der neuen ICT vielleicht zum Erfolg führen.
Weil die Lebensbedingungen und ebenso die Verbreitung der ICT in verschiedenen Teilen der Welt sehr unterschiedlich ausfallen, betreffen die nachfolgenden Anmerkungen nur die sogenannten "reichen" Demokratien nach westlichem Vorbild. Darüber hinaus scheint es wahrscheinlich, daß sich die Kommunikation innerhalb von Regierungen (beispielsweise zwischen den Ministerien) und auch zwischen den Regierungen durch ICT verbessern wird, doch soll dies an dieser Stelle nicht das Thema der Diskussion sein. Die Debatte über die Teilnahme am Prozeß konzentriert vorrangig auf:
Möglichkeiten, wie den Bürgern und Wählern geholfen werden kann, sich in der Politik und den ihnen zustehenden Rechten besser zurechtzufinden,
Möglichkeiten, wie Bürger eine bedeutendere Rolle bei der Entscheidung und Gestaltung ihrer eigenen (öffentlichen) Angelegenheiten einnehmen (und nicht nur einmal im Verlaufe mehrerer Jahre zu den Wahlurnen zu gehen), wie sie aktiv partizipieren (an das Regieren teilnehmen) und somit zur Gestaltung und Erneuerung der Demokratie beitragen können.
An erster Stelle ergeben sich folgende Fragen: Welche elektronischen Systeme erweisen sich für diese Aufgabe als geeignet? Gibt es bereits Fälle, in denen sich der Einsatz von ICT bewährt hat?
eMail - Die elektronische Post
EMail wird weithin als das wichtigste Werkzeug für politische Arbeit angesehen. Sie gestattet:
die preisgünstige und einfache Verschickung von Briefen (mit Grafiken, Videos, langen Texten etc., die als Anhang mit der eMail verschickt werden können.),
den Versand von Serienbriefen, beispielsweise von Koordinatoren an Mitglieder von Regierungen, Bürgerinitiativen oder an Teilnehmer an elektronischen Stadtversammlung etc.,
elektronische Diskussionsgruppen, die viel zügiger miteinander kommunizieren können als bislang (siehe: nachstehende Beispiele und Vorschlag: "Offenes Forum - Bürger entscheiden/beschließen"2.).
Der Versand von eMail ist nur schwer zu unterbinden und zu zensieren. Dies ist insbesondere dort von Bedeutung, wo Zensur und die Unterdrückung der Demokratie üblich sind.
Das World Wide Web
Theoretisch ist das WWW ein hervorragendes Instrument, Publikationen sowie Bildungs- und Arbeitsmaterialien - sie sind wichtiger Bestandteil politischer Kommunikation - schnell und für eine breite Masse zur Verfügung zu stellen (theoretisch deshalb, weil das WWW unter schlechten Übertragungsraten leidet, insbesondere aufgrund einer massiven Zunahme von Inhalten aus den Bereichen Kommerz und Unterhaltung und auch weil die zu Verfügung stehenden Bandbreiten unzureichend sind). Gemischte Systeme, unter Einbeziehung von eMail sowie Bild- und Tonkonferenzen sind möglich.
"Mirror"-Systeme können Bekanntmachungen versenden und die Diskussion durch einen automatischen Versand von eMails an alle in einer Liste eingetragenen Teilnehmer beschleunigen. "List Server" können Systeme wie "Majordomo" verwenden, um Leuten, die aus Zeit- oder Entfernungsgründen eine Sitzung nicht besuchen können, den Informationsaustausch, die Diskussion und erforderlichenfalls auch die Teilnahme an der Entscheidung über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu ermöglichen.
Usenet und Newsgroups
Dieses System, älter als das Internet, gestattet die Bildung elektronischer Diskussionsgruppen, theoretisch von jedermann und an jedem Ort einzurichten, der über eine Anbindung, via Modem und Telefonleitung, an einen Server-Computer für ein solches System verfügt. Oftmals gibt es über die Annahme einer neuen Diskussionsgruppe, von denen wahrscheinlich über 15.000 zu allen erdenklichen Themenbereichen existieren, eine demokratische Abstimmung. Viele der Newsgroups widmen sich politischen und sozialen Themen, beispielsweise Menschenrechte, Regionalpolitik oder Umweltschutz. Anfragen nach Hilfe oder Information erreichen oftmals eine positive Resonanz, obschon die Diskussion in den Gruppen manchmal sehr hitzig geführt wird und außerdem kommerzielle Massenmailings den Gruppen schaden. Oftmals erzeugen diese Newsgroups den Eindruck eines Debattierklubs oder eines abendlichen Treffs in einer Kneipe - in ihnen geht es nur bedingt um Fragen der Mitbestimmung, obschon sich dies ändern könnte, wie das Beispiel von bei "govnews" (3.) zeigt. Es stellt einen ambitionierten Versuch dar, Informationen über Regierungsinstitutionen und deren Abteilungen gegliedert anzubieten und die Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen zu unterstützen. Zwar ist das System in den USA installiert, doch sind andere Regierungen eingeladen, auch an diesem global zu nutzenden Newsgroup-System teilzunehmen. Bürger können an Diskussionsgruppen zu bestimmten Themen teilnehmen, allerdings scheint sich das Projekt noch in einer Pilot-Phase zu befinden, denn es finden nur wenige ernsthafte Debatten statt.
Andere ICT-Systeme finden zum Zwecke der Mitbestimmung bereits Anwendung. Der Internet-Relay-Chat, er gestattet die Echtzeitkommunikation für eine eher kleine Gruppe, erwies sich als hilfreich bei der Organisation von Wahlkämpfen (insbesondere wenn zwischen den Parteianhängern große Entfernungen zu überwinden sind) oder bei Konsultationen von Politikern mit ihren Wählern. Online-Massenmeetings wurden mit Hunderten, manchmal Tausenden Teilnehmern ausprobiert. Sie vollzogen sich manchmal auf eine etwas subtile Weise ("sophisticated"), weil man mit Testsoftware experimentierte, mit deren Hilfe man Abstimmungen durchführen oder detaillierte Meinungsbilder zu verschiedenen Themen erstellen wollte. Wenn das digitale Fernsehen Einzug hält, werden sich in Verbindung mit einem Internetzugang weitere Möglichkeiten für die politische Kommunikation der Bürger eröffnen. Massenabstimmungen mit Fernsehdebatten über aktuelle Themen wurden bereits im Experiment durchgeführt (5.).
Der im Jahre 1994 geschaffene kalifornische On-line Voter Guide (5.) war einer der ersten seiner Art. Er konzentriert sich vorrangig auf die Wahlpolitik des Bundesstaats Kalifornien und der Vereinigten Staaten. Die Informationspublikation bieten Informationen über die zur Wahl stehenden Kandidaten, die Wahlkampffinanzierung, öffentlich diskutierte Themen, die Bundeswahlen sowie Staatsreferenden und die Kandidaten für öffentliche Ämter, wie beispielsweise Richter. Die Kandidaten werden gebeten, eine Bewerbung, einen Lebenslauf, Presseveröffentlichungen, politisches Programm, Reden und schließlich eine Kontaktadresse für weitere Informationen beizusteuern. Dieser Wahlführer erfreute sich bei den Wählern großer Beliebtheit und ist außerdem gedacht als politisches Bildungsmaterial für den Schulunterricht.
Minnesota e-democracy (6) kombiniert eMail- und WWW-Funktionen zur Schaffung eines öffentlichen Forums. Die Diskussionsregeln, vergleichbar mit "Netiquette", haben sich bei der Vermeidung von Streitigkeiten und gegenseitigen Beschimpfungen bewährt. Gute Diskussionen haben zu vielen Themen stattgefunden. Sie mündeten kürzlich in einer politischen Initiative (über öffentliche Ausgaben für den Sport) und widerlegten damit den Ruf solcher eForen, bloße Diskutierläden zu sein. Es wurden elektronische Rathäuser installiert, und Kandidaten für öffentliche Ämter und gewählte Volksvertreter kamen online vorbei, um mit den Bürgern zu debattieren.
In Europa bietet eine www-basierte Site namens Cybercrate (7) in Belgien folgendes:
Hintergrundinformationen über das Regierungssystem und Themen, die Gegenstand von Parlamentsdebatten waren, inklusive der Redebeiträge von Parlamentsmitgliedern und ihres Abstimmungsverhaltens. Einige Themen werden unverzüglich präsentiert, so daß Bürger sich äußern können, noch bevor eine Abstimmung stattfindet.
Links zu bekannten Bürgerrechtsgruppen, die sich mit Sozial-, Umwelt- und Politikfragen befassen,
elektronische Treffpunkte, an denen die Anwender neue Themen diskutieren können, was sehr oft in einer lebhaften Debatte resultiert.
"Einfache" Bürger können mit Hilfe der ICT aus dem Stand politische Initiativen einleiten. Eine kleine Gruppe kalifornischer Aktivist stellte sich 1995 gegen 1995 einen Volksentscheidvorschlag über die Einwanderungsreform. Innerhalb von drei Tagen hatten sich auf der eMail-Liste der Initiatoren über 600 Teilnehmer eingetragen. Nach einer Woche waren es über 1.000, und nach drei Wochen fanden 40 Protestveranstaltungen an Hochschulen im gesamten Land statt (8) (siehe auch: Citizens for Local Democracy,Toronto, Kanada (9). Eine demokratische Initiative, die erfolgreich die ICT einsetzt, stellt der deutsche Mehr Demokratie e.V. dar. Diese Gruppe verfolgt mit einigem Erfolg das Ziel, direkte Demokratie zu propagieren, beispielsweise indem sie Gesetzesvorschläge von Bürgern zur Beratung und Abstimmung im Parlament und auch Volksbegehren initiiert. Sie verfügt über eine WWW-Site von hohen Informations- und Bildungsgehalt, Diskussionsgruppen auf einem List-Server (eine für Mitglieder und eine weitere für die Allgemeinheit) sowie ein Online-Journal. Ähnliche Initiativen existieren in Frankreich, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, Korea und Peru (10).
Im Hinblick auf diese aktuellen Entwicklungen und das den ICT innewohnende Potential stellt sich also die Frage, wie sich die bürgernahe Politik entwickeln wird. Welche Chancen hat eine Mitbestimmung durch die Bürger mit diesen Mitteln? Es wurde nachgewiesen, daß die ICT folgendes zu leisten imstande ist:
sie helfen, öffentliche Fragen aufzuwerfen und darüber zu informieren sowie gesetzesbildende Maßnahmen sowie Debatten dazu auszulösen (so können Bürger zum Beispiel einfacher intervenieren, indem sie ihren Abgeordneten ansprechen, bevor ein Gesetz zur Abstimmung kommt),
sie helfen, das Wissen über Kandidaten für Parlamente und andere öffentliche Ämter zu vertiefen, um ihre Qualifikation für das entsprechende Amt und ihre politischen Kenntnisse, die Einhaltung bisheriger Wahlversprechen, die Finanzierung ihres Wahlkampfes, die durch sie vertretene Interessengruppe (beispielsweise Wirtschaft, Religion, Umweltschutz, Parteien) zu überprüfen,
sie gestatten dem Wähler, den Urnengang besser informiert und kritischer zu vollziehen,
sie versetzten die Bürger in die Lage, auch zwischen den Wahlen leichter an der öffentlichen Debatte teilzunehmen, durch Zeitungsbeiträge etc. zu intervenieren, sogar Kampagnen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung und von Parlamentsentscheidungen auszulösen und die Einhaltung von Wahlversprechen zu kontrollieren,
sie ermöglichen den Mitgliedern politischer Parteien, die Leistungen ihrer Delegierten und Kandidaten für öffentliche Ämter besser einzuschätzen,
sie bestärken die Bürger, sich aktiv einzusetzen, (z.B. sich mit Parlamentsmitglieder, Vertreter der Öffentlichkeit und Wirtschaftsunternehmen auseinanderzusetzen, "lobby" arbeit zu versuchen), andere zu informieren und zu bilden, im WWW zu publizieren, moralische Appelle zu veröffentlichen, Protestbewegungen zu gründen, Referenden und Volksentscheide herbeizuführen und die Erneuerung der Demokratie an sich zu propagieren.
Die einfache Weise, zu kommunizieren und auf Informationen bereits jetzt und erst recht in nächster Zukunft zugreifen zu können, hat einige Beobachter veranlaßt, zu prognostizieren, daß eine neue öffentliche Arena oder ein "Platz" (Agora) entstehen wird, der der kollektiven Entscheidungsfindung dient.
Die Entwicklungen in den bevorstehenden Jahrzehnten könnten folgendermaßen aussehen:
striktere Orientierung von Parlamentsmitgliedern und Regierungen am öffentlichen Willen, insbesondere in den Legislaturperioden zwischen den Wahlen (11., Kapitel 3),
direkte Entscheidungsfindung durch die Bürger in zumindest einigen Fragen, teilweise Transformation der bestehenden "Delegierten"-Demokratie in einen Prozeß, der von mehr Bedacht und stärkerer Einbeziehung der Bürger gekennzeichnet ist,
elektronische Wahlen, um: (a) über Kandidaten abzustimmen und (b) über Gesetze und Fragen öffentlichen Interesses zu entscheiden, einschließlich direkter Abstimmung durch die Wähler in bestimmten Fragen.
Natürlich sollten die tiefgreifenden Veränderungen in den bestehenden Systemen für die Mitbestimmung sich nicht zu rasant vollziehen, was auch nicht zu erwarten ist. Doch viele Bürger wünschen sich eine stärkere Einbeziehung in die Entscheidung über Fragen, die ihr tägliches Leben und ihren Zukunft betreffen. Die Informationstechnologie kann dabei helfen, doch spielen viele andere Faktoren auch eine wichtige Rolle (11.).
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1. Regierungen und Parlamente: für Deutschland: http://bundesregierung.de
für parlamentarische Fragen in Großbritannien: http://www.parliament.the-stationary-office.co.uk./pa/cm/cmhansard.html
G7 Government Online and Democracy White Paper (in preparation) Editors: Gotze J. 2. Offenes Forum: BürgerInnen Beschließt http://www.snafu.de/~mjm/prop2.html (englisch) http://www.snafu.de/~mjm/offenes-forum.html (deutsch) 3. http://www.govnews.org/govnews/govnews/html 4. Becker, Th.: Teledemocracy Action News and Network. http://www.auburn.edu/tann 5. California Voters Guide http://www.calvoter.org 6. Minnesota e-democracy http://www.freenetmsp.mn.us/govt/e-democracy 7. Belgien http://www.axismundi.org/cybercrate 8. Krause, A.: Notes from the Virtual Activist Workshop. Nov. 1996. Netaction Website: http://netaction.org 9. Kanada http://community.web.net/citizens/ 10. Frankreich: http://www.globenet.or/vecam Deutschland: http://www.ulm.de und http://www.mehr-demokratie.de Niederlande: http://www.xs4all.nl/~roesderz/english/ Großbritannien: http://www.democracy.org.uk Schweiz: http://politics.ch/ (andreas.bucher@tamedia.ch) Korea: http://www.nca.or.kr/edem/index.html Peru: http://www.protelsa.com.pe/kybernesis 11. Macpherson 1996. Citizen participation in Politics and the new communication media http://www.snafu.de/~mjm/CP/cp.html Teilübersetzung - http://www.snafu.de/~mjm/CP/cp.de.html
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Michael Macpherson arbeitet als Forscher der Psycho-Social and Medical Research (PSAMRA), einer Organisation, die er 1985 gründete. Er ist der Autor von on-line und off-line Publikationen unter anderem über BürgerInnenpolitik, Partizipation und Neue Medien,
z.B. "Citizen partizipation in Politics and the new communication media". Er entwickelt das "Offene Forum" für Bürger, das Online- und Offline-Mittel für die Kommunikation in einem Testmodel zur Mitbestimmung kombiniert. Er ist zu erreichen unter mjm@berlin.snafu.de
URL dieses Dokuments http://www.snafu.de/~mjm/CP/cp2de.html
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