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Die Homepage von Michael Bienert




QUERBEET
Montagsglossen aus der STUTTGARTER ZEITUNG
von Michael Bienert


(erschienen Mai bis Dezember 2005)



MAI

Wilde Stiefmütterchen.
Wegen seines Namens und massenhaften Auftretens in deutschen Vorgärten haftet dem Stiefmütterchen etwas Spießiges an. Franzosen sehen das durch ihre Sprache ganz anders. Jenseits des Rheins heißt die bunt und üppig blühende Kleinpflanze pensée, das Wort für: Gedanke. Entsprechend blumiger ist von jeher die französische Philosophie gewesen, verglichen mit der farblosen Begriffshuberei deutscher Denker. Im angelsächsischen Raum wirkt unser Stiefmütterchen gar nicht altjüngferlich, sondern genießt den Ruf einer Sexbombe. Pansy, die Gartenblume, ist nämlich eine Hochzüchtung aus dem zarteren wilden Stiefmütterchen (viola tricolor), englisch Johnny-jump-up, eine Abkürzung für Jack-jump-up-and-kiss-me. In Shakespeares Sommernachtstraum heißt die undomestizierte Blume love-in-idleness. Ihr Saft, auf die Augen eines Schlafenden geträufelt, macht diesen verliebt ins erste Geschöpf, das er beim Aufwachen erblickt. So kommt es, dass die arme Elfenkönigin Titania sich mit einem Esel auf Blumen bettet. Leider scheinen die Stiefmütterchen beim Umzug aus der Wildnis in die Rabatten ihre aphrodisierende Wirkung verloren zu haben.

Das Theater der Kastanien. Die Kastanienblüte gehört zum Ritual des Berliner Theatertreffens wie das Gemecker über die Juryentscheidungen, wie die Kartenknappheit, wie die alljährliche Diagnose einer Theaterkrise und die öffentlichen Liebesschwüre an Thalia. Es mag noch so ambitioniert gewesen sein, was man drinnen im fensterlosen Theatersaal des Festspielhauses an der Schaperstraße gesehen hat, draußen im Foyer öffnet sich dem Blick eine allemal imposantere Bühne. Durch die Glasfront der Fassade schaut man auf den Prospekt einer gründerzeitlichen Straßenfront, vor der mächtige Kastanienbäume unverrückbar in roter Blüte stehen und ihre starken Arme im Abendhauch wiegen. Um dieser Aussicht willen liebt der Kritiker das in die Jahre gekommene, modernistisch nüchterne Festspielhaus, die ehemalige Freie Volksbühne des Architekten Fritz Bornemann. Versöhnt holt er seinen Mantel von der Garderobe und eilt unter blühenden Kastanien davon.

Rhabarber, Barbaren und Barbara. Der Rhabarber ist aus der Mode gekommen, seit ganzjährig süßes Frischobst aus aller Welt die hiesigen Supermärkte überschwemmt. Früher war er Avantgarde: die erste Ernte aus dem eigenen Garten, die sich für leckere Obstkuchen und Kompotte eignete. Der Rhabarber ist so rasch zur Stelle, weil er botanisch gar kein Obst, sondern ein Frühgemüse darstellt. Bis in den Juni hinein eignen sich die kräftigen Blattstängel zum Verzehr, danach lässt man die Pflanze sich regenerieren. Die alten Griechen importierten sie von Fremden (barbaros) an der Wolga (rha), daher der lautmalerische Name. Er wird auf dem Theater gern als Bühnentext eingesetzt, wenn Statisten das Raunen einer Menschenmenge simulieren sollen. In die Schriftsprache hat es das beliebte Verb rhabarbern laut Rechtschreibduden noch nicht geschafft. Doch als im letzten Jahr das schönste deutsche Wort gekürt wurde, da sicherte der Ohrwurm „Barbara, reich mir doch bitte die Rhabarbermarmelade“ der süßen Versuchung einen ehrenvollen 5. Platz.

JUNI

Spargel in Öl. Das älteste Bildnis eines Spargelbündels findet sich auf einem antiken Wandgemälde in Pompeji. Die zarten Weiß-, Gelb-, Grün- und Lilatöne der leckeren Spargeltriebe reizten auch den Maler Edouard Manet. Für sein 1880 gemaltes Spargelstilleben zahlte der Sammler Charles Ephrussi 1000 Francs. Zum Dank schenkte ihm Manet ein weiteres Gemälde mit einer einzelnen Spargelstange. Später erwarb der Maler Max Liebermann das pralle Spargelbündel für 24.300 Reichsmark und vererbte es weiter. 1968 erwarb es das Kuratorium des Kölner Wallraf-Richartz-Museums für 1.360.000 Mark. Als der Künstler Hans Haacke 1974 in einer Kunstinstallation nicht nur dessen Wertzuwachs, sondern auch die Nazivergangenheit des Kuratoriumsvorsitzenden Hermann Joseph Abs dokumentierte, kam es zum Eklat: Die Arbeit durfte im Wallraf-Richartz-Museum, das Haacke zu einer Jubiläumsschau eingeladen hatte, nicht gezeigt werden. Erst jüngst erwarb sie das Museum Ludwig für die Kölner Kunstsammlungen. Der Kaufpreis bleibt ein Betriebsgeheimnis des Kunstmarktes.

Weiße Lilien. „Die Lilie blüht, ich bin die fromme Biene, / Die in der Blätter keuschen Busen sinkt, / Und süßen Tau und milden Honig trinkt“, dichtete Clemens Brentano. Dabei hatte er vermutlich keine bunten Taglilien (Hemerocallis) oder üppigen Schwertlilien (Iris) vor Augen, wie sie derzeit in den Gärten blühen, sondern die reinweiße Schönheit der Madonnenlilie (Lilium candidum, siehe Foto oben). In der christlichen Ikonographie symbolisiert sie die unbefleckte Empfängnis. Daher bringt auf alten Gemälden der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria eine weiße Lilie zum Zeichen, dass sie mit Jesus schwanger ist. Farbenprächtiger darf man sich die Blumen vorstellen, die Christus in der Bergpredigt wählt, um seine Hörer zu überzeugen, dass Gottvertrauen die beste Daseinsvorsorge sei: „Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht.“ Darauf spielt der Titel der Filmkomödie Lilies of the Field an. Fünf deutsche Ordensschwestern in den USA bringen einen farbigen Arbeitslosen dazu, ihnen gratis eine Kapelle zu bauen. Sidney Poitier erhielt dafür 1963 einen Oscar als bester Hauptdarsteller.

Galizische Erdbeeren. Der Geschmack von Erdbeeren weckte in dem Romancier Joseph Roth die Sehnsucht nach seiner galizische Heimat. Dort wuchsen die Früchte wild in den Wäldern: „Sie stellten sich den Suchenden in den Weg. Sie zitterten auf dünnen, aber starken Stengeln. Sie waren voll und wuchsen nicht aus Demut so tief am Boden, sondern aus Stolz.“ An den Walderdbeeren hafteten Erdkrumen: „Es knirschte zwischen den Zähnen, aber der Saft, der aus der Frucht drang, schwemmt die Erde weg, und das weiche Fleisch streichelte den Gaumen.“ Es muss ein erotisches Erweckungserlebnis gewesen sein, sich von den galizischen Waldfrüchten verführen zu lassen. Roths Geburtsstadt Brody, die er in seinem Fragment Erdbeeren beschreibt, liegt heute in der Ukraine, nicht weit von Lemberg. Erdbeeren finde man noch immer reichlich in den Wäldern der Umgebung, erzählt die Deutschlehrerin des Gymnasiums in Brody, das Roth besucht hat. Doch seit die radioaktive Wolke von Tschernobyl über die Westukraine hinwegzog, ist auch der Genuß galizischer Erdbeeren kein unschuldiges Vergnügen mehr.

Kartoffeln statt Rosen. Eigentlich war an dieser Stelle eine aktuelle Glosse zur Rosenblüte geplant, doch die Lektüre von 250 süßlichen Rosengedichten (www.welt-der-rosen.de) förderte wenig Anregendes zu Tage. „Warum die Rose besingen, Aristokrat! Besing die demokratische Kartoffel, die das Volk nährt!“, forderte schon Heinrich Heine. Und wirklich stechen die Abschiedsworte an Pellka von Joachim Ringelnatz die meisten Rosenpoeme aus: „Jetzt schlägt deine schlimmste Stunde,/ Du Ungleichrunde/ Du Ausgekochte, Du Zeitgeschälte / Du Vielgequälte, / Du Gipfel meines Entzückens / Jetzt kommt der Moment des Zerdrückens“. Längst haben Künstler die Kartoffel mit Huldigungen überhäuft, sie pries der Dichter Pablo Neruda in einer Ode gar als „reinste unter den weißen Rosen“. Allein die britischen Kartoffelbauern wissen nichts vom Ruhm ihrer Knollenfrüchte. Sie demonstrierten vergangene Woche vor dem Parlament gegen die Verwendung des Wortes couch potatoe (Sofakartoffel) für Fernsehsüchtige ohne Mumm in den Muskeln. Um das angeblich schlechte Karoffelimage zu verbessern, forderten die Bauern, müsse das Schimpfwort aus dem Oxford English Dictionary, dem britischen Duden, gestrichen werden.

JULI

Kirschdiebstahl. Vergessen sind die Heldentaten des römischen Feldherrn Lucius Licinius Lucullus, aber als Feinschmecker ist er unsterblich geblieben. Bei Siegesfeiern im Jahr 74 v. Chr. ließ Lucullus ein Kirschbäumchen auf einem Triumphwagen durch Rom ziehen. Erbeutet hatte er die Pflanze in der kleinasiatischen Stadt Kerasos, dem heutigen Giresun in der Türkei. So kam die schmackhafte Kulturkirsche nach Europa. Der Name der Stadt Kerasos bildet bis heute die gemeinsame Wurzel für das deutsche Wort Kirsche, das französische cerise, das englische cherry und das türkische kiraz. Jetzt, in der Kirschenzeit, möchte niemand die saftigen Früchte aus Kleinasien im Garten missen. Gleichwohl gibt es Leute, die behaupten, der Türkei und der Europäischen Union fehle es an gemeinsamen Traditionen, weswegen man Beitrittsverhandlungen besser gar nicht erst aufnehmen solle. Was aber, wenn die Türkei darauf pocht, die größte Heldentat des Lucullus sei ein ganz gemeiner Kulturdiebstahl gewesen, und sämtliche Kirschbäume Mitteleuropas zurückfordert?

Zuckererbsen (Bundestagswahlkampf I). „Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, / Und Zuckererbsen nicht minder.“ Zuckererbsen - sie kommen nur noch selten auf den Tisch, öfter schon auf die Schulbank, wenn Heines Wintermärchen auf dem Lehrplan steht. Seit dem Mittelalter werden sie in Deutschland angebaut. Im Juli nascht man die halbreifen Schoten mit der noch weichen Schale vom Strauch weg oder erhitzt sie ganz kurz in Butter. Beim Verzehr schmilzt jede Prinzessin auf der Erbse dahin. Gartenratgeber empfehlen eine Sorte, die Früher Heinrich heißt, vermutlich eine Hommage an den Dichter Heine. Seine Verse verwandeln das zarte Gartengemüse umstandslos in scharfe politische Munition, die jeden Wahlkampfmanager vor Neid erblassen lassen müsste: „Ja Zuckererbsen für jedermann, / Sobald die Schoten platzen! / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.“

Kornblumenphilologie. „Schlagt die Germanistik tot, färbt die blaue Blume rot“: Mit dieser Parole haben sich die 68er Studenten nicht dauerhaft durchgesetzt. So bleibt die philologische Frage, welcher Pflanze denn gemeint war. Blaue Blüten kommen in der Natur selten vor, umso üppiger blühen sie in der Literatur. „Ich suche die blaue Blume, / Ich suche und finde sie nie, / Mir träumt, daß in der Blume / Mein gutes Glück mir blüh“, heißt es etwa bei Eichendorff. Und Novalis lässt seinen Heinrich von Ofterdingen einer „hohen lichtblauen Blume“ mit „breiten glänzenden Blättern“ nachjagen, die an einer Quelle gedeiht. Die Dichterzitate sprechen gegen die gelegentliche Vermutung, Vorbild für die blaue Blume der Romantik sei die Kornblume gewesen. Denn sie wächst am liebsten zwischen Getreide, also nah an der Zivilisation, und besitzt nur unscheinbar schmale Blätter. Aber ein romantisches Naturkind ist die Kornblume zweifellos: Wenn man die Knospen pflückt und in die Vase stellt, öffnen sie sich zu totenbleichen Blüten. So erinnert die Kornblume alle Romantiker daran, dass das Glück nur in der Ferne zu finden ist.

Hoffmanns Garten. Ursprünglich sollte er E. T. A. Hoffmann-Garten heißen, denn nebenan, im ehemaligen Berliner Kammergericht, verdiente der romantische Dichter als Jurist seinen Lebensunterhalt. Wie eine Figur aus seinen phantastischen Romanen verliert der Besucher in dem Wäldchen grauer Betonsäulen, aus denen hoch oben Ölweiden wachsen, den Boden unter den Füßen. Unten an den Sockeln ist alles kahl, nur karges Moos wächst in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen. Der Boden ist schief geneigt, die annähernd rechtwinklig dazu ausgerichteten Säulen ebenfalls. Deshalb scheint es, als kippten die Häuserdächer in der Nachbarschaft. Auch die schrägen Fensterschlitze in der Metallhaut des Jüdischen Museums, von dem aus man Hoffmanns Garten betritt, bieten dem Gleichgewichtssinn keinen Halt. Inzwischen hat sich für den Ort der Name Garten des Exils etabliert. Dazu erklärt der Architekt Daniel Libeskind auf einer Informationstafel: „Man empfindet eine gewisse Übelkeit beim Hindurchgehen, doch das ist recht so, denn so aus den Fugen geraten fühlt sich die vollkommene Ordnung an, wenn man als Exilant die Geschichte Berlins hinter sich lässt.“

AUGUST

Herr und Frau Ginkgo. Vier Ginkgobäume haben die Atombombenexplosion über Hiroshima am 6. August 1945 überlebt. Einer stand kaum einen Kilometer vom Epizentrum entfernt. Stamm und Äste verglühten, die Pflanze schien abgestorben, aber im Frühjahr des folgenden Jahres trieb ein schüchternes Reis aus dem alten Wurzelstock. Daraus ist wieder ein stattlicher Baum geworden, der als Friedenssymbol verehrt wird. Hierzulande ist Weimar das Zentrum des Ginkgokultus, weil Goethe in hohem Alter ein verliebtes Gedicht mit Ginkgoblättern an die junge Marianne von Willemer schickte: „Ist es ein lebendig Wesen, / das sich in sich selbst getrennt? / Sind es zwei, die sich erlesen, / daß man sie als eines kennt?“ Ungewöhnlich ist neben der gespaltenen Blattform das komplizierte Geschlechtsleben der Ginkgos: Es gibt männliche und weibliche Bäume, die den Pollen horten. Erst nach Monaten findet die Befruchtung der Samenanlagen statt, oft nachdem sie schon von den Bäumen abgefallen sind. Ginkgos sind lebende Fossilien. Es gab sie schon zu Zeiten der Dinosaurier, und sie werden auch die Menschheit überleben.

Dialog im Schatten. Unter Platanen denkt es sich besser. Platon lehrte gern im Schatten der ausladenden Bäume, die an den Spazierwegen der Akademie in Athen standen. Phaidros-Dialog lässt er Sokrates mit seinem Gesprächspartner unter einer prächtigen Platane sitzen, geschützt vor der prallen Mittagssonne, und die Füße an einer Quelle kühlen. Ein lieblicher Ort zum Philosophieren, das sich an der Ausgangsfrage entzündet, ob man besser einem verliebten oder nur geschickten Liebhaber den Vorzug geben soll. Daraus erwachsen im Dialog kompliziertere Probleme: Wie führt uns der Eros zur Wahrheit, und welchen Nutzen darf man sich von der Rede- und Schreibkunst erwarten? Für Sokrates sind beide ein Mittel der Seelenführung zum Wahren, Gerechten, Schönen und Guten. Als die Hitze nachlässt und die beiden Wahrheitssucher die schattige Platane verlassen, verabschiedet sich Sokrates mit einem Gebet: „O lieber Pan und ihr Götter, die ihr sonst hier zugegen seid, verleiht mir schön zu werden im Innern, und daß, was ich Äußeres habe, dem Inneren befreundet sei.“

Kräuterbuschen. Heute, am 15. August, ist Büschelfrauentag, der Tag der Wurzbüschelweihe, kurz Kräuterweihe oder Würzweih genannt. In katholischen Kirchen, vor allem in ländlichen Gegenden, segnen an Mariä Himmelfahrt die Priester Kräuter- und Blumengebinde, die von Gemeindemitgliedern mitgebracht werden. Die Mitte eines solchen Kräuterbuschen bildet meist eine Königskerze, seltener eine Rose oder eine Lilie, umkränzt von allerlei Heil- und Nutzpflanzen wie Tausendgüldenkraut, Beinwell, Kamille oder Kornähren. Eine magische Zahl von Pflanzenarten sollte es sein, zwischen 7 und 99, damit der Kräuterzauber seine ganze Wirkung entfalten kann. Früher warf man die geweihten Kräuter bei Gewitter ins Feuer, um das Haus vor Blitzschlag zu schützen, und räucherte damit Viehställe gegen Krankheiten aus. Den heidnischen Glauben an die magische Kraft der Kräuterbüschel hat die Kirche schon im Mittelalter in ihren Marienkult integriert. Heute erinnert uns das aussterbende Brauchtum an die Heilkräfte wilder Pflanzen, auf die auch die moderne Heilkunst nicht verzichten kann.

Sizilianische Kaktusfeige (Bundestagswahlkampf II). Glauben wir dem bayrischen Ministerpräsidenten doch endlich: Im deutschen Süden leben die klügeren Wähler. Die PISA-Ergebnisse sind besser, die Wirtschaftsleistung höher - aber warum? Die Antwort kommt aus der Münchner Großmarkthalle. Dort hat seit 18 Jahren der sizilianische Fruchtimporteur Salvatore Cultrone seinen Stammsitz. „Meine köstlichen Orangen, Trauben, Feigen und Zitronen sind es, die geografisch bedingt Bayern zuerst erreichen und folglich beim Verzehr einen noch höheren Vitamin-C-Gehalt aufweisen. Bayern ist so schlau, wegen meiner südlichen Früchte“, behauptet der pfiffige Zitronenbaron in einer Pressemitteilung. In einem Leserbrief, den die ZEIT neulich druckte, sprach sich der Obsthändler für Steuersätze von bis zu 70 Prozent aus - vorausgesetzt eine neue Regierung treibe endlich den Bürokratieabbau voran und ermögliche so höhere Gewinne. Auf seiner Homepage vergleicht sich der streitbare Sizilianer selbst mit einer Kaktusfeige: „außen unrasiert, doch ein weiches süßes Herz“.

Verletzte Bäume.
„Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es das Schweigen über so viele Untaten einschließt“, schrieb Brecht. In Michael Hamburgers Baumgedichten schwingt das Unheil jederzeit mit. Silberweide, Pyramidenpappel und Maulbeerbaum sind gezeichnet von Stürmen, die der Mensch mitverursacht hat. Aber die verwundeten Baumriesen sind zählebig. Aus gefällten Stämmen und verfaulenden Stümpfen wachsen neue Triebe. Memento mori und zugleich Hoffnungszeichen für den Dichter, der als Kind jüdischer Eltern aus Deutschland floh. Die geköpfte Platane kann „in der Beschränkung noch trinken, atmen / Noch auf dem Torso Rindenzeichnung zeigen.“ Exakte Beobachtung stiftet eine unsentimentale Nähe zwischen den Pflanzen und dem Dichter, der sie pflegt: „Wir räumen auf für andern Wuchs und warten.“

SEPTEMBER

Politische Botanik (Bundestagswahlkampf III).
„Um das klar zu sagen: Blumen können gar nicht genug Gelb haben!“ Wer hat das im Bundestag gefordert? Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle natürlich, schon vor zwei Jahren. Nun werden wieder überall Blumen an die Wähler verteilt. Die CDU-Kandidaten bevorzugen orangefarbene Rosen, passend zu Angela Merkels Kostümfarbe, die SPD-Wahlkämpfer rote Rosen. Wieso eigentlich Rosen? War nicht die rote Nelke im Knopfloch seit dem Internationalen Sozialistenkongreß in Paris 1889 das Symbol der Sozialdemokratie, damals Gegenstück zur Kornblume der Kaisertreuen? Die heutige SPD überlässt die rote Nelke lieber den Genossen der Linkspartei. Zur Lage der angeschlagenen Kanzlerpartei würde ihre Treuesymbolik aber auch nicht schlecht passen: Während der Französischen Revolution schmückten rote Nelken die Royalisten auf dem Weg zum Schafott. Am besten meint es die Natur mit den Grünen. Sonnenblumen überragen in diesen Wahlkampftagen alle anderen Blumen, ohne Rücksicht auf die politische Gesinnung der Gartenbesitzer.

Sternblumenpoesie. „Man setzte ihr einen Kranz von Asterblumen auf das Haupt, die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten.” So malt Goethe in den Wahlverwandtschaften die Aufbahrung der unglücklichen Ottilie aus. In Gottfried Benns tausendfach interpretiertem Gedicht Kleine Aster schmückt die Blume einen ersoffenen Bierfahrer im Leichenschauhaus. Herbstastern kündigen das Ende der Vegetationsperiode an, sie gelten daher als Symbole des Todes, aber auch der Transzendenz. Ihr Name deutet auf das Unendliche: Aster kommt von astron, dem griechischen Wort für Stern. Asteraceae nennen Botaniker die riesige Pflanzenfamilie der Korbblütler. Nicht nur Sonnenblume und Gänseblümchen gehören dazu, sondern auch Phantasie anregende Schöpfungen wie Roter Bocksbart, Blaue Rasselblume, Zweifelhafte Strauchscharte, Drüsenhaarige Kugeldistel, Armleuchter-Kratzdistel, Weichhaariges Schwefelkörbchen, Filzige Hundskamille, Kronen-Wucherblume und das Stechende Sternauge.

Blühende Landschaft. Der Parlamentarismus in Mecklenburg-Vorpommern genießt rosige Aussichten. Die Landtagsabgeordneten debattieren in einem vieltürmigen Märchenschloss auf einer Insel im Schweriner See. Um das Schloss zieht sich auf einem schmalen Uferstreifen der vor wenigen Jahren rekonstruierte Burggarten mit uralten Platanen, gepflegten Rabatten, Fledermausgrotte und Orangerie. Der Eintritt fürs Volk ist frei. Schöner kann ein Parlament nicht für sich werben. In der Umgebung des Burggartens haben bereits erste Baumfäll- und Bauarbeiten für die Bundesgartenschau im Jahr 2009 begonnen. Sie soll sich sich als grünes Band durch Schwerin ziehen wird, mit dem Schloss als Herz- und Mittelpunkt. Ein „Garten des 21. Jahrhunderts“ ist geplant, um die bisher weniger attraktive Schlossflanke am Burgsee aufzuwerten. Versprach Helmut Kohl den Ostdeutschen nicht „blühende Landschaften“? Um das Schweriner Märchenschloss sind sie Wirklichkeit geworden, zum Vergnügen einer rot-roten Landtagskoalition.

Wichtel vor Gericht. Vor wenigen Jahren machte die „Front de liberation des nains de jardin“ (FLNJ) die französischen Vorgärten unsicher. Diese Befreiungsbewegung entführte hunderte Gartenzwerge und setzte sie im Wald aus. Einige Täter wurden 1997 gefaßt, sie kamen mit Geld- und Bewährungsstrafen davon. In Deutschland
muß die Justiz regelmäßig Nachbarschaftsstreitigkeiten um Gartenzwerge schlichten. So verfügte ein Gericht in Grünstadt die Entfernung eines Wichtels, weil dieser exhibitionistisch sein Geschlecht entblößte. Mehr Glück hatte ein niedersächsischer Gartenzwerg, der einem Nachbarn den Stinkefinger entgegen streckte. Da die Beleidigungsklage erst mit drei Jahren Verspätung eingereicht wurde, gestand ihm das Landgericht in Hildesheim ein Bleiberecht zu. Für die Anerkennung der Tonzwerge als schützenswerte kulturelle Minderheit kämpft seit 1980 die „Internationale Vereinigung zum Schutz der Gartenzwerge“ mit Sitz in Basel (www.zipfelauf.com). Sie lehnt weibliche Gartenzwerge ebenso ab wie die billigen osteuropäische Plagiate aus Gips und Plastik, gegen die deutsche Gartenzwergproduzenten mehrere Urheberrechtsprozesse anstrengten.

OKTOBER

Bohnenspekulation. Kopfsalat und Bohnen spielen in dem Filmklassiker East of Eden, der vor 50 Jahren in die Kinos kam, eine wichtige Rolle. Der Farmer Adam Trask verliert fast sein ganzes Vermögen beim ersten Versuch, Salatköpfe in eisgekühlten Eisenbahnwaggons frisch an die Verbraucher in den Städten zu liefern. Sein Sohn Cal leiht sich daraufhin schmutziges Geld, das seine weggelaufene Mutter als Bordellbesitzerin verdient hat, und investiert es in Bohnenplantagen. Die Spekulation geht auf: Als die USA in den Ersten Weltkrieg eintreten, explodieren die Bohnenpreise. In seiner ersten großen Filmrolle als jugendlicher Rebell wälzt sich James Dean überglücklich auf einem Acker mit zarten Bohnenpflänzchen. In dieser Szene ist bereits die melodramatische Auflösung des Generationskonflikts angelegt: Zwar weist der Vater den Spekulationsgewinn des um seine Liebe buhlenden Kindes entrüstet zurück, doch ganz am Ende versöhnen sich beide und der melancholische Rebell tritt in die Fußstapfen der Pioniergeneration.

Fallobst. Im Garten Eden gab es noch keine wohlschmeckenden Äpfel. Das Züchten, Propfen und Klonen von Apfelbäumen kam erst bei den alten Römern in Mode. Die Beliebtheit des süßen Kulturapfels sorgte dann dafür, dass in der biblischen Geschichte von Adam und Eva die Frucht vom Baum der Erkenntnis allmählich Apfelgestalt annahm. Außerdem diente schon in vorchristlichen Kulturen das Obst als erotisches Symbol: Nach Aristophanes bewarfen griechische Hetären Männer mit Äpfeln, um sie zum Liebesdienst aufzufordern. Zweifelhaft bleibt indes, ob es wirklich ein vom Baum fallender Apfel war, der um das Jahr 1666 Isaac Newton dazu brachte, die physikalischen Gesetze der Schwerkraft zu formulieren. Denn die prallen, knackigen Früchte regen eher die Sinnlichkeit als den Geist an, wie in Goethes Faust nachzulesen ist: „Kommt, von allerreifsten Früchten / Mit Geschmack und Lust zu speisen ! / Über Rosen läßt sich dichten, / In die Äpfel muß man beißen.“

Das Feuer der Medea. Jetzt blüht auf vielen Wiesen die blassviolette Herbstzeitlose. Ihre trichterförmige Blüte erinnert an die ersten Krokusse des Vorfrühlings. Weil keine grünen Blätter die Blüte umschließen, nannte man sie früher auch Nackte Jungfer oder Nackte Hur. Blätter und Samen zeigen sich erst im kommenden Frühjahr. Die alten Namen Giftkrokus, Teufelswurz und Ziegentod warnen davor, dass die Pflanze spielenden Kindern gefährlich werden kann. Gern wurde sie auch für Giftmorde benutzt. Ihr Giftstoff Colchizin und der wissenschaftliche Pflanzenname Colchicum autumnale verweisen auf die Landschaft Kolchis am Schwarzen Meer. Denn von dort stammte der Sage nach die zauberkundige Königstochter Medea. Sie tötete ihre eigenen Kinder, als ihr der Held Iason untreu wurde, und schenkte seiner neuen Braut ein vergiftetes Gewand, aus dem Flammen emporschlugen. Ähnlich kündigt sich die Vergiftung mit Colchizin durch ein Brennen im Hals und großen Durst an. Medeas Feuer wird in der Gichttherapie und Homöpathie angewandt, wo es reinigend wirken soll, so wie der Mythos auf der Theater- und Opernbühne.

Front Deutscher Äpfel. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, sagt ein Sprichwort. Von welchem Stamm Holger Apfel gefallen ist, der NPD-Fraktionsvorsitzende im sächsischen Landtag, weiß die ganze Republik seit Jahresanfang, als seine Fraktion sich weigerte, an einer Schweigeminute für Naziopfer teilzunehmen. Stattdessen sprach Apfel vom „Bomben-Holocaust“ der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Weniger bekannt ist, dass in Sachsen seit letzten Herbst eine Künstlergruppe unter dem Namen Front Deutscher Äpfel (F. D. Ä.) die Apfelfraktion im Landtag lächerlich macht. So fordert die Gruppe auf ihrer Internetseite (www.apfelfront.de) ein Ende der Überfremdung des deutschen Obstbestandes, das Verbot von Südfrüchten und drakonische Maßnahmen gegen faules Fallobst. Auch auf Neonazidemonstrationen ist die Front Deutscher Äpfel bereits aufgetreten. Die Aktivisten trugen schwarze Anzüge mit roten Armbinden, auf denen statt eines Hakenkreuzes ein Apfellogo in einem weißen Kreis zu sehen war. Die F. D. Ä. verfügt über eine Jugendorganisation mit dem Namen Nationales Frischobst Deutschlands (NFD) und unterhält zudem enge Verbindungen zum Bund weicher Birnen (B. W. B.)

Kürbiskunst an Halloween. Die weltgrößte Kürbisausstellung findet zur Zeit in Ludwigsburg statt, aber der neue Weltrekord im Kürbiszüchten kommt natürlich aus den USA, rechtzeitig zum heutigen Halloweentag. In Altoona/Pennsylania brachte am 1. Oktober der Züchter Larry Checkon einen Kürbis auf die Waage, der 666,33 Kilo wog. Über solche Pfundskerle berichten neuerdings sogar Männermagazinen wie „Mens Health“ unter der Rubrik „Sex“. Naja, immerhin ist der Kürbis ein altes Fruchtbarkeitssymbol. Dass er auch als Kriegswaffe taugt, davon erzählt ein klassischer Comicstrip von Walt Disney. In der Geschichte „Kürbiskampf“ liefert sich Donald Duck wütende Gefechte mit seinem Gartennnachbarn. Herr Zorngibel ist ein begnadeter Kürbiszüchter, dem aber leider die künstlerische Inspiration beim Kürbisschnitzen fehlt. Gereizt katapultiert einen riesigen Biokürbis auf Ducks Haus. Dessen entgeistertes Entengesicht dient Zorngibel als Vorlage für eine expressive Kürbisskulptur. Trotzdem geht der lokale Kunstpreis an Donald, weil seine von innen erleuchtete Hausruine wie eine Halloweenfratze ausschaut.

NOVEMBER

Rotkappen á la Grass
. „Es steht der Pilz / schirmlings / und lüftet die Wurzel. // Wann kappt der endliche Schnitt?“ dichtete der Pilzsammler, Pilzzeichner, Pilzdichter und Pilzekoch Günter Grass. Ehe die Saison endet, sei das Rezept einer hochgerühmten Suppe des Nobelpreisträgers verraten: Man benötigt je nach Fund- oder Marktlage insgesamt ein Kilo Steinpilze, Rotkappen, Birkenpilze, Maronenröhrlinge und Pfifferlinge. Etwas Speckschwarte wird mit Wasser zum Kochen gebracht, dazu kommen klein geschnittene Kartoffeln, Möhren und Sellerie „je nach Gefühl und Geschmack“. Dann einen gewürfelten Rehschlegel mit magerem Speck und sechs Zwiebeln in der Pfanne anbraten und mit Salz, Pfeffer, Thymian würzen. Das Angebratene kommt in die Suppe, in der auch das Kilo Mischpilze, Lorbeerblätter, Nelken und Wacholderbeeren eine Stunde lang mitkochen. Zum Schluss wird mit grünem Pfeffer, Liebstock und Majoran abgeschmeckt. Die Suppe muss heiß auf den Tisch, veredelt durch einen Schuss süße Sahne und mit gehackter Petersilie bestreut. Guten Appetit!

Chamissos Weltruhm. Vergangene Woche blühte im Berliner Botanischen Garten noch der Goldmohn, die Wappenblume Kaliforniens, hierzulande auch als Schlafmützchen bekannt. Der Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso hat die Blume 1820 als erster wissenschaftlich beschrieben. Er nannte sie Eschscholtzia californica nach seinem Freund Johann Friedrich Eschscholtz, dem Schiffsarzt auf dem russischen Expeditionsschiff, mit dem Chamisso in den Jahren 1815 bis 1818 die Welt umsegelte. Später leitete er das Königliche Herbarium in Berlin. Ein getrocknetes Exemplar der Pflanze, das Chamisso in Kalifornien pflückte, verwahrt bis heute das Berliner Botanische Museum. Chamissos Weltruhm fußt nicht allein auf seinem Märchen von Peter Schlemihl, sondern ebenso auf seinen wissenschaftlichen Leistungen. 1280 botanische Gattungs- und Artnamen enthalten den Zusatz „Cham.“ nach dem Wissenschaftler, der sie zuerst klassifizierte. Außerdem tragen zu Ehren Chamissos zahlreiche Pflanzen und Tiere seinen Namen wie die Epulia chamissonis, eine Quallenart, oder der Papilio chamissonis, ein brasilianischer Schmetterling.

Buch mit Feigenblatt. „Dem sittlichen Leser wird anheimgestellt, Stellen, die ihm gefährlich werden könnten, im Notfall mit diesem Feigenblatt zu bedecken.“ Der Satz ist auf einem grünen Lesezeichen aufgedruckt. Es hat den Umriß eines Baumblattes und stammt aus einer Ausgabe von Upton Sinclairs Roman „Petroleum“, erschienen in den Zwanziger Jahren im Malik-Verlag. Der erfindungsreiche Buchgestalter John Heartfield hat Lesezeichen und Schutzumschlag entworfen. Die Innenklappe seines Umschlags zeigt ein ungewöhnliches Autorenfoto. Sinclair hat sich ein riesiges Feigenblatt umgehängt und wirbt damit für die „Fig Leaf Edition“ seines Buches. Der Anlaß: Die kommunale Zensurbehörde in Boston hatte sein Buch wegen sexueller Freizügigkeit verboten. Daraufhin ließ der Autor die inkriminierten Stellen mit Feigenblättern überdrucken und brachte so sein Werk als Straßenverkäufer unter die Leute. In Deutschland fand das Buch mit dem Feigenblatt reissenden Absatz: Weit über 100.000 Exemplare der Übersetzung verkaufte der Malik-Verlag binnen vier Jahren.

Herbstzwiebel. Es ist das Los von Verlagsprospekten, irgendwann im Papierkorb entsorgt zu werden. Allein die Zwiebel des Wagenbach-Verlags hat sich einen Stammplatz im Bücherregal erobert. Seit 41 Jahren flattert der Almanach in jedem Herbst den treuen Kunden ins Haus, damit sie sich festlesen und bis Weihnachten die Neuerscheinungen kaufen. Oft hat der Verleger seine Bilanzen in der Zwiebel veröffentlicht, damit wir Leser wußten, wie redlich er sein Handwerk betrieb und wie knapp seine Gewinne ausfielen. Das war immer eine spannende Lektüre. Meist hatte das Büchlein 96 Seiten, dicht vollgedruckt mit langen, amüsanten und intelligenten Textauszügen. „Komm rein, wenn du kein Analphabet bist“, steht in diesem Jahr auf dem Titelblatt. Doch oh Schreck, zu schmökern gibt es nicht mehr viel! Allein der Starautorin A. L. Kennedy hat die Redaktion ein Lesestück von zweieinhalb Druckseiten eingeräumt. Der Rest ist konventionelle Verlagswerbung: Kurze Zitate, werbewirksame Pressestimmen, Bildchen von den Autoren und Buchumschlägen. Dazu ein rote Postkarte mit der Mahnung, sie unbedingt an den Verlag zurück zu schicken, sonst komme im nächste Herbst garantiert keine Zwiebel mehr ins Haus. Aber ist uns eine so nährstoffarme Zwiebel das Porto noch wert?

DEZEMBER

Neues vom Nikolaus. Heute packen Nikolaus und seine Helfer ihre Säcke und haben dann bis morgen früh alle Hände voll zu tun. Besonders gut sind die Kinder dran, die in Freckenhorst wohnen, einer alten Stiftsstadt im Münsterland, heute ein Ortsteil von Warendorf. Dort steht am Abend des 5. Dezember bei allen Kindern im Alter zwischen 2 und 8 Jahren der Nikolaus höchstpersönlich vor der Haustür. Allein in Freckendorf macht das rund 650 Hausbesuche, die generalstabsmässig organisiert werden. Dafür ist das örtliche Nikolaus-Collegium zuständig, das sich im August vergangenen Jahres eine neue Satzung gegeben hat, die Leges Colegii Nicolausiensis. Neben der Kleiderordnung regelt sie eine komplizierte Ämterhierarchie: Da gibt es Nikolaus-Bischöfe und Nikolaus-Kardinäle, den Obermuff als gewählten Vertreter der Ruprechte, einen Geistlichen Rat, einen Geheimen Rat und an der Spitze einen Primas. Dessen Neuwahl beim Konklave im vergangenen Sommer muß ähnlich spannend gewesen sein wie die Suche nach dem neuen Papst: Erst im 28. Wahlgang einigte sich das Konsistorium auf einen neuen Ober-Nikolaus, der heute abend vor seiner ersten großen Bewährungsprobe steht.


Schoko-Kultur. Was ist das eigentlich: Kultur? Nehmen wir als Beispiel die tropische Kakaobohne, im Rohzustand ein ungenießbares und unansehnliches Ding. Die Azteken zerkleinerten sie und vermischten das Pulver mit kaltem Wasser zu „Xocolatl“, bitterem Wasser. Auch dienten die Kakaonüsse als Zahlungsmittel, was das Interesse der spanischen Eroberer weckte. 1528 brachten sie den Kakao nach Europa, seither wird mit dem braunen Pulver unermüdlich herumexperimentiert. Es wird gemixt und geknetet, erhitzt und wieder abgekühlt, zu Weihnachtsmännern und Schillerbüsten gegossen. Aus dem Luxusartikel ist längst ein Massenprodukt geworden: acht Kilo Schokolade verspeist laut Statistik jeder Deutsche pro Jahr. Mit den Gewinnen der Schokoindustrie lassen sich ganze Kunstmuseen finanzieren, wie der Sammler Peter Ludwig beweisen hat. Und seit in den Sechzigern Joseph Beuys und Dieter Roth Schokolade für Assemblagen benutzten, ist sie auch ein beliebter Werkstoff der modernen Kunst. Unsern Alltag versüßt Schokolade seit der Kindheit so selbstverständlich, dass wir sie schon gar nicht mehr als Kulturprodukt wahrnehmen, sondern gedankenlos verschlingen, als hätte es sie immer im Überfluss gegeben.

Oh, Tannenbaum! Jetzt wird es richtig spannend für die Tannen und Fichten, die in den Depots der Händler ihrem großen Auftritt am Heiligabend entgegen fiebern. Ob sie noch einen Käufer finden? Niemand hat ihr Sehnen so bitter geschildert wie Hans Christian Andersen in seiner Erzählung Der Tannenbaum. Wie glücklich ist die strebsame Tanne, als sie endlich ihren langweiligen Wald verlassen darf! Und wie kurz der Feiertagsglanz, wie mitleidlos die Behandlung durch die Menschen! In Andersens Weihnachtsmärchen ohne Moral gibt es nur einen Lichtblick: Am Heiligabend erzählt ein Mann den Rotznasen unterm Weihnachtsbaum eine Geschichte. Später unterhält damit die ausgemusterte Tanne die Mäuse auf dem Dachboden. Einzig das Erzählen lenkt ein bisschen von der brutalen Sinnlosigkeit des Lebens ab. Aber nur kurz, und als das Frühjahr kommt, wird der Tannenbaum gnadenlos verheizt: „Mit dem Baum war es vorbei und mit der Geschichte auch: vorbei, vorbei - und so geht es mit allen Geschichten.“



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