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Eine neue Bibliothek für die Klassiker

Michael Knoche leitet die Herzogin Anna Amalia Bibliothek,
deren niedergebrannter Rokokosaal im 24. Oktober 2007
wiedereröffnet wird

von Michael Bienert


„Als ich hier anfing, gab es in der Bibliothek weder einen Fotokopierer noch einen Computer. Nicht mal mein Telefon funktionierte.“ Michael Knoche kam vor sechzehn Jahren nach Weimar, um die Leitung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu übernehmen. Damals hieß sie noch „Zentralbibliothek der deutschen Klassik“ . Der Name aus den Jahren der zentralistisch organisierten DDR suggerierte Wichtigkeit, doch die Bibliothek war in jämmerlichem Zustand. Schwamm in den Mauern und Schimmel bedrohten die kostbaren Bücher und Handschriften im Stammgebäude am Ilmpark, unweit von Goethes Gartenhaus. Der allergrößte Teil der Bücher lagerte weit über die Stadt verstreut in Außendepots. Michael Knoche kam aus dem Westen und wurde, wie es sagt, in Weimar mit offenen Armen empfangen: „Es herrschte noch die Wiedervereinigungseuphorie. Die Mitarbeiter hatten in der Wendezeit gegen die Bibliotheksleitung rebelliert. Es gab den großen Wunsch nach einem Neuanfang.“

Er war damals Vierzig, hatte Germanistik in Tübingen studiert, danach eine Ausbildung zum Bibliothekar in Karlsruhe, Köln und Heidelberg absolviert, auch in Wissenschaftsverlagen gearbeitet. Neben der Faszination durch alte Bücher und Handschriften trieb ihn die Frage um, wie sich kulturelle Überlieferung organisieren lässt. An der Weimarer Bibliothek reizte ihn der Reichtum der Bestände aus einer großen Vergangenheit. In der ehemaligen Fürstenbibliothek arbeiteten Wieland, Goethe, Herder und Schiller. Sie war die Ruhmeshalle der Weimarer Klassik, schon zu Lebzeiten wurden im zentralen Rokokosaal die Büsten der großen Dichter und Gelehrten aufgestellt. Michael Knoche sah sich 1991 vor der Aufgabe, den gesamten Betrieb dieser Bibliothek neu zu organisieren. Er brachte seinen privaten Computer mit und eine Vision. Die ehemalige Fürstenbibliothek sollte eine benutzerfreundliche Forschungsbibliothek werden, vergleichbar mit der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel oder der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach.

Zuallererst musste ein Tiefmagazin für eine Million Bücher her, um die verstreuten Bestände zusammenzuführen und schneller verfügbar zu machen. Nach zehnjährigen Planungen und Verhandlungen mit Stadt, Land und Bund wurde ab 2001 der Platz der Demokratie neben der alten Bibliothek aufgebuddelt und unterkellert. Zwischen dem Grünen Schlösschen, das die Regentin Anna Amalia in der Mitte des 18. Jahrhunderts zum Bibliotheksgebäude hatte umbauen lassen, und dem sogenannten Roten und Gelben Schloss entstand eine unterirdische Verbindung. In die historischen Fassaden dieses Gebäudekomplexes implantierten die Weimarer Architekten Hilde Barz-Malfatti und Karl-Heinz Schmitz einen Bibliotheksneubau, bescheiden Studienzentrum genannt.

Von außen nimmt man das Neue kaum wahr. Innen jedoch weht ein entschieden zeitgenössischer Geist. Hier spürt man nichts von der Rückwärtsgewandtheit und Gefälligkeit für den Massentourismus, der im Weimarer Stadtbild oft bedrückend wirkt. Ein kubischer Lichthof, bis zum Glasdach mit Bücherregalen aus hellem Holz bestückt, lädt dazu ein, in bequemen schwarzen Sesseln Zeitung zu lesen. Die Idee zu diesem furiosen Bücherkubus, erzählt Michael Knoche, entwickelten die Architekten erst auf Drängen der Bibliothekare. Um das grandiose Herzstück pulsiert in hellen offenen Räumen ein moderner Bibliotheksorganismus. Es gibt reichlich Computerarbeitsplätze, ein elektronisches Bestellsystem und 100.000 Bücher, die man sofort aus dem Regal nehmen kann, wenn man sie braucht.

Michael Knoches ist ein zurückhaltender Mann, der nie auf die Idee käme, sich mit den Großen von Weimar zu vergleichen. Doch wenn man durch seine Bibliothek geht und ihre Geschichte kennt, drängen sich Parallelen auf. Zur Herzogin Anna Amalia, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein eigenes Gebäude für die herzoglichen Bücher- und Kunstsammlungen herrichten ließ. Und zu Goethe, der viele Jahre die Oberaufsicht über die Bibliothek innehatte. Goethe verdoppelte den Anschaffungsetat und den Bücherbestand, trieb die Katalogisierung der Bestände voran und reformierte die Benutzungsordnung. Er ließ Anna Amalias Bibliotheksschlösschen durch einen Anbau mit einem alten Stadtturm verbinden, der sich als Büchermagazin eignete. Energisch passte er die Bibliothek den Bedürfnissen des 19. Jahrhunderts an und erschloss ihr Raumreserven in der Nachbarschaft. Ganz ähnlich hat sie Michael Knoche ins 21. Jahrhundert katapultiert, ins digitale Zeitalter.

Bekannt wurde Michael Knoche als beherzter Krisenmanager nach einem verheerenden Betriebsunfall. Am Abend des 2. September 2004 löste eine defekte Kabelverbindung unbemerkt einen Großbrand im alten Bibliotheksgebäude aus. Knoche wusste um die Gefahr, die von der maroden Elektrik ausging. Er hatte seit Jahren davor gewarnt und auf eine rasche Sanierung gedrängt. Als der Brand ausbrach, standen schon die Umzugskisten bereit, um alle Bücher und Kunstwerke aus der Bibliothek zu räumen, denn wenige Wochen später sollten die überfälligen Baumaßnahmen zu beginnen.

Knoche und seine Leute hatten Riesenpech, aber auch Glück. Baustatiker hatten die alte Bibliothek in den Wochen zuvor untersucht. Sie zerstreuten Befürchtungen der Feuerwehr, das brennende Gebäude könne jeden Augenblick einstürzen. Während die Feuerwehrleute den Brandherd im Obergeschoss bekämpften, durften Knoche und seine Helfer die tieferen Etagen des Rokokosaals von Büchern, Büsten und Gemälden räumen. Als Rettungsweg diente die bereits fertiggebaute unterirdische Verbindung ins neue Tiefmagazin. Knoche selbst kämpfte sich in Begleitung eines Feuermanns durch Qualm und Hitze bis zur Bibelsammlung auf der ersten Galerie durch, um eine wertvolle Gutenbergbibel zu retten. Eine Heldentat mag er darin nicht sehen. Wie alle Kollegen hat er einfach nur angepackt, um zu retten, was zu retten war.

Der Brand zerstörte 37 Gemälde und 50.000 Bücher, 28.000 Bände wurden unversehrt, 62.000 mit Brand- und Wasserschäden gerettet. Betroffen waren vor allem die wertvollen Bestände aus der Zeit bis 1850, das Herzstück der ganzen Sammlung. Zwei Drittel der Buchverluste gelten als ersetzbar, sei es durch Restaurierung, sei es durch Ankäufe auf dem Antiquariatsmarkt. 5000 Dubletten verlorener Bücher hat die Bibliothek mittlerweile als Geschenk erhalten. 20.000 Spenden sind eingegangen, insgesamt stehen bisher 17 Millionen Euro für den Wiederaufbau des Buchbestandes zur Verfügung. Das ist viel, aber bei weitem nicht genug: Auf 67 Millionen schätzt man die Kosten für Buchrestaurierung und Wiederbeschaffung.

Über die riesige öffentliche Resonanz und enorme Hilfsbereitschaft nach dem Brand wundert sich Knoche bis heute. Zum Teil lag es daran, dass mit dem Rokokosaal eine wunderschöne Ikone der Weimarer Klassik brannte, die seit 1998 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Es lag aber auch an der professionellen Öffentlichkeitsarbeit nach der Katastrophe. Michael Knoche stand als Gesprächspartner für Journalisten und Politiker zur Verfügung, tingelte durch Talkshows und Benefizveranstaltungen. In seiner sachlichen Art verkörperte er den Wunsch der Weimarer Bibliothekare, möglichst sofort mit der Wiederaufbauarbeit zu beginnen.

Bereits kurz nach dem Brand kündigte Knoche an, den ausgebrannten Rokokosaal bis 2007, dem 200. Todesjahr der Herzogin Anna Amalia, wiederherzustellen. „Wir brauchten damals ein Ziel vor Augen. Zwischenzeitlich haben wir es aus den Augen verloren. Immerhin steckten 380.000 Liter Löschwasser in dem Gebäude. Die Ingenieure sagten, das dauert zehn Jahre, bis der Bau getrocknet ist.“ Mit moderner Technik ging es dann doch schneller. „Vor allem wollten alle Verantwortlichen den Schaden schnell wieder in Ordnung zu bringen. Und man hat durch das öffentliche Interesse Flügel bekommen.“

Drei Jahre nach dem Inferno steht das alte Bibliotheksgebäude frisch gedeckt und gemalert am herbstlichen Ilmpark, als sei nie etwas geschehen. Vor dem unterirdischen Zugang vom Tiefmagazin wartet die wuchtige Marmorstatue Goethes unter einem weißen Tuch darauf, in den restaurierten Rokokosaal zurückzukehren. 50.000 gerettete und reparierte Bücher sollen bis zur feierlichen Wiedereröffnung am 24. Oktober in den weißlackierten, mit goldenen Kanten und Kapitellen verzierten Regalen aufgestellt werden. Das Erdgeschoss wird fast wieder so aussehen wie vor dem Brand, auf der ersten Galerie bleiben vorerst Lücken. Das völlig verbrannte oberste Geschoss ist nicht rekonstruiert worden, dort ist jetzt Platz für einen zusätzlichen Lesesaal. Knoche rechnet mit einem riesigen Ansturm von Besuchern, die an Führungen durch den Rokokosaal teilnehmen wollen. Er wird in Zukunft vor allemMuseum sein.

Mit verschränkten Armen steht Michael Knoche im Rokokosaal und schaut lange an den leeren Regalen entlang, bis hinauf zum rekonstruierten Deckengemälde, das den Genius des Ruhms darstellt. So leer hat der Direktor seine Bibliothek nie gesehen, so wird er sie nie wieder sehen. In seinem Kopf überblenden sich die Bilder. Albträume habe er keine, aber die Erinnerungen an die Brandnacht seien in diesen Tagen sehr gegenwärtig, sagt er, und im Hinausgehen: „Eine Bibliothek ganz ohne Bücher ist doch was Seltsames.“

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 13. Oktober 2007